Kunst und Politik sind seit jeher miteinander verbunden. Die Geister scheiden sich jedoch an dem Punkt, an welchem darüber diskutiert wird, welche konkrete Form diese Verbindung annimmt. Während die einen in Kunst lediglich ein Abbild bestehender politischer Verhältnisse sehen, ist es für andere eine Möglichkeit, möglichst konträre Positionen zum Status quo auszudrücken. Manch eine:r würde sogar so weit gehen, Kunst als Vorreiterin und zentrale Instanz von politischen Veränderungen oder Revolutionen zu betrachten. Hierzu gesellen sich Debatten um die Frage, ob Kunst lediglich bestehende Machtverhältnisse und Hierarchien stärke, wenn davon ausgegangen wird, dass sowohl das Ausüben als auch das Verstehen von Kunst häufig durch enorme Privilegien bedingt ist.
Im Falle der HipHop-Kultur ist jedoch bereits historisch eine eindeutige Verbindung mit politischen Faktoren gegeben. HipHop – als afroamerikanische Kultur – hat eine politische Ausrichtung, die sich unter anderem als antirassistisch sowie antiklassistisch und dementsprechend "links" beschreiben lässt. Innerhalb dieses Kontextes besteht auch eine gewisse Verantwortung für alle Beteiligten, diese politische Grundeinstellung ebenfalls zu übernehmen. Insbesondere, weil sie sich diese Kultur aneignen, denn viele deutsche HipHop-Akteur:innen sind mit Privilegien ausgestattet, die den afroamerikanischen Kolleg:innen seit jeher meist nicht zur Verfügung stehen. Rap-Songs müssen zwar nicht immer explizit politische Themen behandeln, eine grundsätzlich linke Haltung sollte bei hiesigen Akteur:innen und Fans jedoch vorhanden sein, da diese eben bereits ein Teil der adaptierten HipHop-Kultur ist. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigt zum Beispiel das irrsinnige Auftauchen von rechter Rap-Musik. Trotzdem gab es in den letzten dreißig Jahren enorm viele Künstler:innen, die sich verschiedensten politischen Themen sehr explizit in Tracks gewidmet haben. Ein kleiner Teil dieser politischen Songs nimmt uns nun mit auf eine chronologische Reise zwischen 1992 und 2021. Auf diesem Weg finden sich zudem stets spezielle politische Situationen, die kontextualisiert werden müssen.
1992: Advanced Chemistry – Fremd im eigenen Land
"Ich habe einen grünen Pass mit einem goldenen Adler drauf" oder "Kein Ausländer und doch ein Fremder", sind Zeilen, die vermutlich jeder Rap-Fan im Ohr hat, wenn er an "Fremd im eigenen Land" denkt. Advanced Chemistry erschaffen 1992, mit ihrem vermutlich bekanntesten Track, eine antirassistische Hymne. Torch und Linguist nehmen in ihrer ersten Strophe alltagsrassistische Phänomene aufs Korn, um in der dritten Strophe den Bogen zur deutschen Gesetzgebung zu spannen. "In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung. Anfangs hab' ich mich gefreut, doch schnell hab' ich 's bereut." Parallel wird das Bestehen von Rassismus nicht nur toleriert, sondern auch politisch aktiv gefördert. Relativ konkrete Beispiele dafür liefert Toni-L in der zweiten Strophe. So geht es um die Auswirkungen des Asylrechts und den medialen Umgang damit. Zudem prangert er an, warum Gastarbeiter:innen, die "seit den 50ern" mitverantwortlich für den Wirtschaftsaufbau seien, noch immer am Rande der deutschen Gesellschaft leben würden.
Auch das Intro des Songs trägt bereits eine politische Message. Zu hören ist ein Nachrichtensprecher, welcher über Vorfälle von rechter Gewalt in Rostock-Lichtenhagen berichtet. Gemeint sind hier die rechtsextremen Anschläge auf die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen im August 1992. Diese werden als der "Höhepunkt" rechtsextremer Gewalt nach dem zweiten Weltkrieg betrachtet. Nicht nur, weil mehrere hundert Rechtsextreme daran beteiligt waren. Zudem leisteten auch die zuständigen staatlichen Stellen keine Präventionsarbeit, um die Bewohner:innen des sogenannten Sonnenblumenhauses zu schützen. Stattdessen wurden Polizei und Feuerwehr bei ihrem Einsatz von tausenden Schaulustigen behindert, überließen schließlich insbesondere die vietnamesischen Bewohner:innen ihrem Schicksal und rückten ab. In Kombination mit der Hintergrundgeschichte des Intros von "Fremd im eigenen Land" erhält auch die Textpassage bezüglich der deutschen Wiedervereinigung eine tiefere Bedeutung. Denn fast alle staatlichen Verantwortlichen des ZAst in Rostock-Lichtenhagen wurden zuvor aus Westdeutschland nach Rostock – in die ehemalige DDR – versetzt. Zum Zeitpunkt der rechtsextremen Anschläge sind viele von ihnen "nach Hause" in den Westen gefahren und haben sich dementsprechend nicht um die Problematiken rund um das Sonnenblumenhaus gekümmert.
Kofi Yakpo alias Linguist beschreibt 2004 unter anderem, dass das Nutzen des Begriffs "afro-deutsch" im Track eine enorm politische Schlagkraft hat. Denn eine pseudo-ethnische Definition des Deutschseins wird mithilfe einer solchen Selbstbezeichnung von Schwarzen Deutschen ad absurdum geführt und unterbunden. "Deutschsein" soll nämlich – auch laut der Initiative Schwarze Deutsche – eine inklusive Dimension erhalten, welche eben alle Menschen, die in Deutschland leben, einschließt. Linguist ist auch derjenige, der eine Brücke zwischen der Arbeit der ISD und "Fremd im eigenen Land" schlägt. Denn bereits im Musikvideo des Tracks offenbart sich eine Vernetzung migrantisch-gelesener Jugendlicher, die es in dieser Form und Größe medial noch nicht gegeben hat. Speziell Torch und Linguist nehmen immer wieder an Veranstaltungen des ISD teil, um sich mit anderen Afro-Deutschen zu treffen und unter anderem politisch auszutauschen und zu vernetzen.
1997: Freundeskreis – Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte
In diesem Track verbindet Max Herre seine eigene Lebensgeschichte mit etwaigen politischen Geschehnissen der Menschheitsgeschichte. Seine Erzählung beginnt, wie könnte es anders sein, in seinem Geburtsjahr 1973. In diesem Jahr begann jedoch nicht nur das Leben von Max Herre in Stuttgart. Auf der anderen Seite der Welt kam es zeitgleich zu einem politischen Machtwechsel, der an Grausamkeit und Brutalität kaum zu überbieten war. Am 11.09.1973 nahm sich der zuvor demokratisch gewählte Präsident von Chile, Salvador Allende, das Leben, nachdem unter anderem ein Luftwaffenangriff auf den Präsidentenpalast im Zuge eines Putsches gestartet wurde. "C.I.A., Chile ist amerikanisch" heißt es im Freundeskreis-Track und verdeutlicht, wer mitverantwortlich für den Putsch ist. Denn die C.I.A. unterstützte den Putsch in einer verdeckten Operation sowohl politisch als auch finanziell und betrachtete dies als Punktgewinn im Kalten Krieg. In Chile wurde nach dem erfolgreichen Putsch eine Militärdiktatur unter der Führung von Augusto Pinochet errichtet. Dieser Diktatur fielen etliche Menschenleben zum Opfer. Die meisten Schätzungen gehen von etwa 3 000 bis 4 000 Personen aus, die aus "politischen" Motiven ermordet wurden. Geschickt erwähnt Max Herre in der ersten Strophe aber auch den Bürgerkrieg in Kambodscha zwischen 1970 und 1975. Und liefert damit ein Beispiel dafür, dass Gräueltaten nicht ausschließlich von kapitalistischen Mächten betrieben werden. In Kambodscha starben beim Genozid durch die maoistisch-nationalistische – also sozialistisch angehauchte – Bewegung der Roten Khmer vermutlich weit über 2 000 000 Menschen zwischen 1975 und 1979.
Während Max in den 1980ern ein "ABC-Schütze" in der Schule wurde, entfachte parallel ein weltweiter Machtstreit um ABC-Waffen – also atomare, biologische und chemische Waffen. Dieser zog speziell in Europa enorme Aufmerksamkeit auf sich, zwang aber auch viele Menschen in permanente Lebensgefahr. 1986 kam es dann zur größten Atomkatastrophe der Welt im Atomkraftwerk Tschernobyl. Tschernobyl war damit 1986 die erste Katastrophe, die auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse auf Stufe 7 – also als katastrophaler Unfall – eingeordnet wurde. Dies bedeutet, dass eine erhebliche Freisetzung radioaktiver Stoffe stattgefunden hat. Diese Freisetzung forderte sowohl direkt als auch indirekt etliche Menschenleben und sorgte für verschiedenste gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel die Strahlenkrankheit und Schilddrüsenkrebs.
Mit 18 wurde Max Herre dann zum Antifa "mit Intifada-Schal und Army-Parka" und betont in der dritten Strophe noch einmal die Wichtigkeit, sich stets mit Minderheiten und Unterdrückten zu solidarisieren und dabei eine pazifistische Grundeinstellung zu bewahren. Die letzte Strophe endet mit der Zeile und dem Titel des Tracks "Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte", die Pimf 2020 erneut aufgreift und dem Freundeskreis-Song eine neue Version verpasst. In dieser nutzt Pimf einen ähnlichen Aufbau wie das Original und erzählt ebenfalls eine chronologische Geschichte. Diese beginnt im August 1992 beim Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen und schildert eine Vielzahl rechtsextremer Verbrechen in Deutschland. Auch Goldroger verwendete 2014 die Idee und Beat-Elemente des Freundeskreis-Tracks – im Zuge des Moment Of Truth-Turniers vom splash! Mag – für einen Remix. In diesem rappt er unter anderem über die deutsche Wiedervereinigung, die Ereignisse des 11. September 2001 und die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 – stets mit Einwürfen zu seiner persönlichen Lebensgeschichte.
2001: Brothers Keepers – Adriano (Letzte Warnung)
In der Nacht vom 10. auf den 11. Juli 2000 wurde der Familienvater Alberto Adriano von drei Neonazis in Dessau zusammengeschlagen und starb nur wenige Tage später an seinen Verletzungen im Krankenhaus. Der Vorfall ist längst nicht der erste, der deutlich zeigt, dass Deutschland ein enormes Problem mit einem speziell Anti-Schwarzen-Rassismus hat. Aber der Tod von Alberto Adriano und der darauffolgende Prozess für die Täter erhielt eine enorme mediale Aufmerksamkeit, die ähnliche Vorfälle zuvor nie erhalten hatten.
Im Zuge des medialen Echos und, um die Problematik hinter dem Mord längerfristig im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verankern, entschlossen sich die BPoC-Künstler Ade Bantu, Torch und D-Flame, einen Verein zu gründen. Zu den "Brothers Keepers" sind bereits nach kurzer Zeit etliche weitere BPoC-Künstler dazugestoßen, darunter Samy Deluxe, Afrob, Denyo, Gentleman und Sekou von Freundeskreis. Mit den Einnahmen gemeinsamer Konzerte wurden Opfer von rechtsextremer Gewalt und auch Initiativen gegen Rechtsextremismus unterstützt. Bereits 2001 erschien dann ihr mit Abstand erfolgreichster Song "Adriano (Letzte Warnung)", produziert von DJ Desue. Die Single verkaufte sich über 200 000-mal und hielt sich mehrere Wochen in den deutschen Charts – trotz des eigentlich radiountypischen Themas.
2018 erhielt der Song eine neue Version im Zuge des SamTV Unplugged von Samy Deluxe. Von der ursprünglich riesigen Besetzung waren hier neben Samy nur noch Afrob, Torch, Denyo und Xavier Naidoo dabei. Diese wurden von Megaloh komplettiert. Er und Samy Deluxe aktualisierten den Track mit neuen Strophen, die sich thematisch perfekt in die ursprüngliche Version eingliedern. "Rechte Politik gefällt den rechten Wählern, rechte Polizisten helfen rechten Tätern", heißt es unter anderem in Megalohs Strophe. Einen dunklen Schatten auf diesen grandiosen Song wirft lediglich die Entwicklung des Mannes, der für die Hook zuständig ist: Xavier Naidoo. Der Sänger driftet bereits seit einigen Jahren ins rechte Milieu ab, spielt Konzerte auf mindestens fragwürdigen Veranstaltungen und kooperiert mit Musiker:innen, die sich selbst als rechts bezeichnen. Außerdem verbreitet der Mannheimer – unter anderem in Telegrammgruppen – Verschwörungsmythen und zweifelt an der Existenz von rechter Gewalt. Leider ist Ade Bantu eines der wenigen Mitglieder der Brothers Keepers, die sich eindeutig von Xavier Naidoo distanzieren. 2020 veröffentlicht er ein Statement im Namen der Brothers Keepers, in dem er verdeutlicht, dass unter anderem Rassismus und rechte Gewalt nach wie vor in Deutschland existieren. Zudem stellt er klar: "Wer Rechtsextremismus als 'Fake News' abtut und Verschwörungstheorien verbreitet, verhält sich verantwortungslos und respektlos gegenüber allen Menschen, die Opfer von rechter Gewalt werden und geworden sind."
2009: K.I.Z – Selbstjustiz
K.I.Z sind Teil einer Reihe von Künstler:innen, die ihre politischen Botschaften gerne mal subtil und mit viel Humor verbreiten, dabei aber trotzdem relativ eindeutig Position beziehen. So auch im Track "Selbstjustiz". In der ersten Strophe nimmt Nico geschickt typische Argumentationsketten von sogenannten Bürgerwehren aufs Korn: "Ich hol' Katzen vom Baum und helf' alten Leuten über die Straße, reit' mit Lasso durch die Hood und nehme Kinder gefangen!" Mitte der 2000er waren vermutlich über 4 000 Neonazis in sogenannten Kameradschaften organisiert. Ihr Vorteil: Kameradschaften oder ähnliche Organisationsformen waren zu diesem Zeitpunkt vor Verboten und der Unterbindung von Vernetzungen weitestgehend geschützt. Nico schließt seinen Part mit der Zeile "Den deutschen Pass kriegst du erst, wenn du Kaiser Wilhelm salutierst" ab. Dies ist ein eindeutiger Seitenhieb in Richtung Einbürgerungstest, in dem es unter anderem darum geht, Fragen zur deutschen Geschichte zu beantworten. Tarek bezieht sich im zweiten Part ebenfalls auf die Bürgerwehren und stellt fest, dass diese Gruppierungen längst nicht die einzigen problematischen beziehungsweise rechten Umfelder in Deutschland seien. Und so gleicht, laut ihm, auch die Polizei einer Gang, während die Politik Mafia-ähnliche Strukturen offenbart. In der Hook stellen die Rapper dann fest, dass die Welt voll mit Verrückten sei. Sie bieten jedoch auch eine mögliche Lösung an: So würden die K.I.Z-Richter in Zukunft Selbstjustiz üben und dementsprechend die Helden einer gerechten Welt sein.
In den 2000ern schien es aber auch positive politische Veränderungen zu geben, denn "endlich kann Obama die Weißen versklaven". Barack Obama wurde 2008 zum ersten nicht-Weißen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Fast zeitgleich zur Wahl in den USA fand eine der größten Finanzkrisen aller Zeiten statt. In diesem Zusammenhang kriegen auch Bankiers von K.I.Z ihr Fett weg: "Ackermann, du Arschloch." An dieser Stelle ist Josef Ackermann gemeint, der als alleiniger Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Bank AG maßgeblich an der Finanzkrise mitbeteiligt war. Maxims Vorschlag, um diese "Krise" zu verhindern: Holt euch das Geld von den Banken. Damit diese es nicht weiterhin von "den Armen nehmen und den Reichen schenken". Zudem stellt er die sogenannten Rettungspakete infrage, von denen oft lediglich die bereits versorgten Firmenchefs profitierten, während kleinere Arbeitnehmer:innen häufig entweder Gehaltssenkungen oder sogar Kündigungen hinnehmen mussten. Auch wenn der Song ironische Elemente und Überspitzungen kombiniert, so blitzen doch immer wieder eindeutig politische Statements von K.I.Z auf, die sich speziell auf die Zeit der 2000er beziehen.
2017: Ebow – Asyl
Der überwiegende Teil künstlerischen Outputs von Ebow ist vermutlich der Inbegriff eines Politikums. Die gebürtige Münchnerin setzt sehr bewusst darauf, ihrem musikalischen Werk stets einen politischen Rahmen zu verpassen. Das bedeutet nicht, dass all ihre Songs explizit politische Themen behandeln. Eine mindestens latente Positionierung lässt sich jedoch fast immer heraushören. Speziell ihr Einsatz für migrantische und queere Communitys ist hier auffällig. Das Besondere: Ihre politischen Botschaften vermittelt sie zwar sehr eindeutig und konkret, präsentiert diese aber häufig mit einer Battlerap-Attitude, die in dieser Form einzigartig ist. Dies geschieht auch auf dem Track "Asyl".
2015 und 2016 ließ sich speziell in Deutschland ein klarer Rechtsruck feststellen. Hauptursache dafür war die sogenannte "Flüchtlingskrise". Der Begriff ist nicht nur unschön. Hinter ihm verbirgt sich auch eine Ideologie, die menschenfeindlicher kaum sein könnte. So werden Ursache und Wirkung in Bezug auf Flucht verdreht und Flüchtende als Sündenböcke und Verursacher:innen ihrer eigenen Situation dargestellt. Nutznießer:innen dieser Situation waren unter anderem die rechtsextreme Organisation Pegida und die erst drei Jahre zuvor gegründete Partei Alternative für Deutschland. 2016 waren ihre Hauptthemen dann insbesondere die "Flüchtlingskrise" und Migration in Kombination mit einer zu befürchtenden "Islamisierung des Abendlandes". Dies führte dazu, dass die Partei weiteren Zulauf von rechten Wähler:innen erhielt und dadurch unter anderem in etliche Landesparlamente einziehen konnte. Alexander Gauland bezeichnete die "Flüchtlingskrise" sogar dreist und menschenfeindlich als "Geschenk" für seine Partei.
Ebow nimmt in ihrem Track sehr bewusst eine beobachtende Rolle ein und begrüßt ihre "Brüder und Schwestern", die in Deutschland ankommen. Dabei umkurvt sie geschickt die von rechten Organisationen und Parteien genutzten Begrifflichkeiten und stellt stattdessen die Situation der Geflüchteten in den Mittelpunkt. Ihre "Brüder und Schwestern" sind angekommen an einem Ort, der ihnen im Optimalfall eine Perspektive, Sicherheit und auch eine neue Heimat bieten sollte. Stattdessen kommen sie aber in einem Land an, dass lediglich auf den ersten Blick eine Perspektive und Sicherheit bietet. Oder um es mit den Worten von Ebow zu sagen: "Angekommen im Wilden, Wilden Westen." Und tatsächlich ist dieser Vergleich nicht sonderlich weit hergeholt.
Der Wilde Westen: Im Amerika des 19. Jahrhunderts waren es die aus Europa stammenden Einwander:innen, die die indigene Bevölkerung insbesondere in den Südstaaten durch Gewalt verdrängten und das scheinbare "Recht des Stärkeren" durchsetzten. 2015 und 2016 waren es hingegen weite Teile der deutschen Bevölkerung, die den Immigrant:innen das Leben zur Hölle machten. Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit waren zwei stetige Begleiter der Asylbewerber:innen in Deutschland, doch überwog zu dieser Zeit das Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit eindeutig. Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte und rechte Gewalt gegenüber Asylsuchenden war nicht nur Realität, sondern wurde teilweise sogar als "Normalität" hingenommen. Hinzukamen Veränderungen im Bereich des Asylrechts, sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene, die es Asylsuchenden zusätzlich erschwerten, dauerhaft Fuß zu fassen. Denn auch die bürokratischen Hürden auf dem Weg zu einem erfolgreichen Asylantrag glichen der Unübersichtlichkeit des Wilden Westens. "Der Antrag ging verloren. Der Antrag kam nie an. Ein Kind ist gestrandet. Ohne Namen, ohne Land." Ebow kommt in ihrem Track zu dem Schluss, dass Geflüchtete nur dann akzeptiert würden, wenn sie in irgendeiner Form dem kapitalistischen und dementsprechend profitorientierten System Deutschlands dienen: "Vergiss deine Werte. Mach Geld oder sterbe." Ebow offenbart mit "Asyl" die zynischen Züge westlicher Gesellschaften: Denn Menschen fliehen vor Kriegen und Krisen nach Europa. Also in Länder, die diese Kriege und Krisen zumeist mitverantworten und sogar an ihnen verdienen. Parallel werden die Asylant:innen unter anderem aus rassistischen Motiven von vielen Menschen nicht akzeptiert und als "Ursprung allen Übels" betrachtet. Es bleibt erschreckend, wie groß der Anteil der deutschen Gesellschaft – speziell im Hinblick auf die deutsche Geschichte – ist, der rechte Ideologien unterstützt oder zumindest toleriert. Nicht zuletzt dieser Umstand macht auch aus Ebow selbst eine Künstlerin, die immer wieder mit Anfeindungen und der dauerhaften Gefahr rechter Übergriffe zu kämpfen hat.
2021: Roger Rekless – Planspiel
Ebow ist längst nicht die einzige Künstlerin, die ihren künstlerischen Output mit politischem Aktivismus verbindet. Ähnliches gilt unter anderem für den Rapper Roger Rekless. Denn auch unabhängig von seiner Musik ist er enorm aktiv – Stichwort: "Rekless tut Dinge". Hierzu zählen unter anderem seine antirassistische Arbeit als Autor und als Podcast-Host für "Talk Black - Leben trotz Rassismus". Dazu gesellt sich seine Kooperation mit Goldeimer – zur Produktion von antirassistischem Klopapier, durch dessen Verkauf unter anderem Spenden für die Amadeu Antonio Stiftung und den ISD generiert werden – sowie sein Einsatz in der offenen Jugendarbeit und für das Goethe-Institut. Fast beiläufig leiht er seine Stimme neben einigen anderen Sprecher:innen dem Hörspiel "Saal 101", das sich mit der Aufarbeitung des NSU-Prozesses befasst.
Im September 2021 erscheint sein Song "Planspiel" nur wenige Tage vor der Bundestagswahl in Deutschland. Dieser Veröffentlichungszeitpunkt ist vermutlich sehr bewusst ausgewählt, denn der gesamte Track behandelt Themen und Probleme, die auf politischer Ebene oberste Priorität haben sollten. Bereits in der Beschreibung des Musikvideos heißt es: "Wenn wir begreifen, dass wir unsere Welt aktiv formen können, dann können wir es nicht hinnehmen, dass manche Menschen es wie eine Art Planspiel sehen." Ein klarer Fingerzeig auf politische Entscheider:innen, die ihre Macht nutzen und ihre Entscheidungen treffen, als würden diese keine realen Auswirkungen auf andere Menschen und den Planeten im Allgemeinen haben.
"Als wir noch sagten 'Babylon', klang das alles so dystopisch." Mit "Babylon" ist hier nicht ausschließlich die historische und theologische Stadt gemeint, sondern vor allem ihre popkulturelle Bedeutung: ein Ort des Exils und der Versklavung oder sogar das "Zentrum des Bösen". Speziell durch Reggae-Musik – unter anderem von Bob Marley – wird dieses Bild geprägt und etabliert. Dabei wird sich aber auch immer wieder auf real existierende Problematiken bezogen, wie zum Beispiel Versklavung. Für die Rastafari aus Jamaika steht der Begriff sogar explizit für das westliche Gesellschaftssystem, welches von Korruption und Unterdrückung durchzogen ist. Dies sind Bilder und Themen, die auch in "Planspiel" aufgegriffen werden.
"In Moria drängen sich Mеnschen aneinander." Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist einer der Orte, der das menschliche und politische Versagen – insbesondere von Europa – offenbart. In dem Lager, welches für nicht mal 3 000 Personen ausgelegt ist, lebten 2020 über 20 000 Menschen. Diese Situation war bereits menschenunwürdig, wurde im September 2020 jedoch durch einen Großbrand nochmals dystopischer. Über Nacht wurden etwa zwei Drittel der Bewohner:innen obdachlos. Eine Situation, die zuvor auf politischer Ebene und von verschiedensten Parteien und Instanzen hätte längst verhindert werden müssen. Doch stattdessen wurden Stimmen, die einen besseren Umgang mit Geflüchteten forderten, ignoriert und NGOs, welche sich für unter anderem Seenotrettung einsetzen, als "illegale Schlepperfirmen" abgestempelt.
Rekless verknüpft speziell in der zweiten Strophe die Zusammenhänge zwischen dem Leid "anderer" und dem Handeln einzelner Privatpersonen. "Keine Liebe für den unbekannten Fremden. Immer Gleiche unter Gleichen, nicht mit unbekannten Händen. Außer bei der Kleidung, die du trägst. Den Schuhen und dem Cap, der Karre und dem mobilen Gerät." In einer Zeit, in welcher die Globalisierung in immer größer werdenden Schritten voranschreitet, stellt sich das System des Kapitalismus gerne als ein System dar, in dem alle in Form kleiner Zahnräder arbeiten und auch alle profitieren und quasi "mitwachsen" können. Dass dies nicht der Fall ist, ist längst bekannt. Insbesondere in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften besteht ein Konsens darüber, dass Kapitalismus zwangsläufig zu noch mehr Ungleichheit, Ausschluss und Machtkonzentration führt. Rekless' Zeilen zielen hier jedoch sehr bewusst auch auf einzelne Personen. Zu selten reflektieren Menschen ihren Konsum von Kleidung, Autos oder Smartphones. Das Hinterfragen eigener Handlungen und Überlegungen darüber, welche Konsequenzen das eigene Handeln für "den unbekannten Fremden" hat, müssten jedoch eine wesentlich größere Rolle spielen.
Das "Planspiel" endet mit dem erneuten Verweis auf die dystopischen Zustände unserer Zeit. Zunehmend kommt es zu Krisen und Kriegen. Insbesondere in Europa verschließt man davor nicht nur die Augen und missachtet das eigene Verschulden, sondern schließt auch die Grenzen und überlässt unzählige Menschen ihrem eigenen Schicksal.
Status Quo – wo deutscher Rap stehen sollte
Roger Rekless erinnert mit "Planspiel" daran, dass alle Menschen auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind. Dieser Umstand reicht bereits, um zu verstehen, dass auch Rap-Musik kein in sich und nach außen hin abgeschlossenes System ist, welches keine Berührungspunkte mit anderen sozialen oder politischen Bereichen hat. Hinzukommt der – bereits erwähnte – historische Kontext, in welchem die HipHop-Kultur entstanden ist und welcher eine gewisse Grundhaltung von Akteur:innen in diesem Feld quasi voraussetzen sollte. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass auch in diesem Jahr etliche politische Rap-Songs auftauchen, unter anderem von Audio88 & Yassin, Danger Dan, Disarstar, Eunique, Fatoni & Edgar Wasser, Jalil, KAFVKA, Main Concept, MC Rene, MC Smook, Mädness, Nura oder Sugar MMFK. Auch in der Vergangenheit gab es stets Künstler:innen, Songs und ganze Alben, die sich explizit politischen Themen gewidmet haben. Die hier ausgewählten Songs stellen lediglich eine Speerspitze politischer Rap-Tracks in Deutschland der letzten dreißig Jahre dar.
Trotzdem sind diese explizit politischen Künstler:innen nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite tummeln sich etwaige Akteur:innen, die den Ursprung und Kern der HipHop-Kultur bewusst ignorieren, umdeuten oder nicht kennen. Anders lässt sich etwa die Entstehung einer rechten Rap-"Szene" nicht erklären. Aber auch andere Rapper:innen, die sich selbst als "nicht oder unpolitisch" beschreiben oder durch enorme Politikverdrossenheit glänzen, vergessen, dass auch diese Haltung politisch ist und eine Message ausstrahlt. Umso wichtiger erscheint der Einsatz anderer HipHop-Künstler:innen, die zudem häufig neben ihrer Kunst aktivistisch unterwegs sind und dementsprechend ihre Fans und Follower:innen mitreißen können. Rap und Politik sind letztlich wesentlich enger miteinander verbunden, als es einige Rapper:innen und Hörer:innen wahrhaben wollen. Zudem hat HipHop einen enormen Vorteil gegenüber einigen anderen Kunstformen: Schließlich können Menschen aus nahezu allen gesellschaftlichen Sphären partizipieren. Dementsprechend haben speziell Rapper:innen das Potenzial, Menschen verschiedenster sozialer Herkünfte politisch anzuregen oder sogar zu politisieren.
(Alec Weber)
(Grafik von Daniel Fersch)