Das Jahr 2020 ist nun vorbei. Es wäre wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass dies eines der ereignisreichsten Jahre der letzten zwei Dekaden war – leider überwiegend im negativen Sinne. Gesellschaftliche Spannungen, Naturkatastrophen, politische Zerwürfnisse und vor allem eine weltweite Pandemie überschatten die letzten zwölf Monate. Fast wöchentlich musste man sich an eine neue Situation gewöhnen und Hiobsbotschaften hinnehmen. Dennoch gibt es eine Sache, die uns die letzten 365 Tage konstant begleitet hat: die Musik, insbesondere aber natürlich deutschsprachiger Rap. Auch wenn hier ebenfalls nicht nur Positives geschehen ist, hat uns unser Lieblingsgenre dieses Jahr nicht im Stich gelassen. Wagen wir also einen kleinen Rückblick auf das Jahr 2020 im deutschen Rap und im Rest der Welt.
2020 startet bereits mehr als chaotisch. Während im Januar quasi ganz Australien in Flammen steht, spitzt sich der Konflikt zwischen den USA und dem Iran zu und Großbritannien verlässt endgültig die Europäische Union. Von all diesen Ereignissen zeigt sich die deutsche Rapszene allerdings gänzlich unbeeindruckt. So setzt beispielsweise RAF Camora seinen andauernden Siegeszug mit "Zenit RR", dem Re-Release seines Erfolgsalbums aus dem Vorjahr, fort. Zeitgleich liefern die Argonautiks mit "Trauben Über Gold" den exakten Gegenentwurf zu hochpoliertem, kommerziellen Sound und tanzbaren Melodien. Somit ist von Anfang an klar: Auch musikalisch gesehen wird 2020 ein vielfältiges Jahr. Des Weiteren kommt bereits am Ende des ersten Monats eines der speziellsten und meist erwarteten Alben des Jahres auf den Markt: Mit "Golem" liefert Tarek K.I.Z ein eindrucksvolles Solo-Debüt zwischen ergreifenden privaten Einblicken und rabenschwarzem Galgenhumor.
Leider reißt die Reihe negativer Ereignisse im Februar nicht ab. Am 19.02. stürmt ein rechter Attentäter im hessischen Hanau in eine Shisha-Bar und ein Café und ermordet dort neun Menschen aus widerlichen, rassistischen Motiven. Ganz Deutschland steht für einen Moment unter Schock. Ebenso wie die HipHop-Szene, denn viele Artists sind selber Migranten, gegen die sich der Anschlag richtet. Unter den Opfern ist auch ein Freund und ein Angehöriger des Hanauer Rappers Azzi Memo, welcher zutiefst getroffen ist. Er initiiert den Benefiz-Song "Bist du wach? (Benefiz für Hanau)" für die Hinterbliebenen der Opfer, der knapp sechs Wochen später erscheint. An dem Song sind insgesamt 18 Artists beteiligt, unter anderem Kool Savas, Rola, Credibil und Disarstar. Dennoch ist es ein kleiner Wermutstropfen, dass sich so wenige große und verkaufsstarke Namen in der Liste finden. Trotz allem gibt es in diesem Monat auch positive Entwicklungen: Schon in den letzten Jahren konnten Produzenten zunehmend Aufmerksamkeit auf sich ziehen und aus dem Schatten der Rapper treten – eine Entwicklung, die sich 2020 fortsetzt. Das beweist der Wahlberliner Suff Daddy im Februar mit seinem Album "Pompette". Er liefert hier smoothe Synthie-Sounds, unter anderem begleitet von Illa J und seiner butterweichen Stimme oder den Flows von JuJu Rogers.
Nach all den Niederschlägen in diesem noch jungen Jahr bahnt sich im März dann die nächste Hiobsbotschaft an: Das Coronavirus verbreitet sich auf der ganzen Welt und auch in Deutschland steigen die Infektionszahlen drastisch an. Fast wöchentlich treten neue Anordnungen in Kraft, um die Pandemie einzudämmen. Erst erfolgt die Absage der Fußball-Europameisterschaft und der Olympischen Spiele, dann werden alle Veranstaltungen mit über 1 000 Personen verboten. All das gipfelt am Ende des Monats in strikten Kontaktbeschränkungen und einer weitestgehenden Stilllegung des öffentlichen Lebens – dem ersten Lockdown. Glücklicherweise gibt es wenigstens einen musikalischen Lichtblick, denn im März releasen gleich mehrere Top-Artists. Vega erklimmt mit seinem Album "LOCKE", welches sich zwischen Pathos und Ethos bewegt, Platz zwei der Charts. In Gesellschaftskritik übt sich Disarstar auf seiner Platte "Klassenkampf & Kitsch" und Haze beweist auf "Brot & Spiele", dass Oldschool-Sound in Wirklichkeit zeitlos ist. Somit ist man, zumindest als HipHop-Fan, gut für die Zeit zu Hause gerüstet.
Der April verläuft, bedingt durch den Lockdown, natürlich vergleichsweise ruhig. Diese Ruhe ist jedoch trügerisch, denn durch die Ladenschließungen sind unzählige Existenzen bedroht. Besonders die Veranstaltungsbranche steht nun vor einer ungewissen Zukunft. So versuchen Künstler und Veranstalter, die Auftritte und Live-Sets in Form von Streams in die Wohnzimmer zu bringen. Von vergleichsweise kleinen Instagram-Streams, wie der von Salwa Houmsi und dem DJ-Duo Hoe__mies bis zu groß angelegten Performances bei United We Stream, welche vom Fernsehsender arte unterstützt werden. An der Aktion haben weltweit mittlerweile mehr als 2 200 Künstler teilgenommen. Außerdem zeigt sich in dieser schwierigen Situation glücklicherweise eine große Solidarität für die Gastronomie-, Kunst- und Veranstaltungbranche, welche sowohl von innen als auch außen kommt. Das wird beispielsweise durch Aktionen wie den "Support Your Locals"-Masken von UNFAIR ATHLETICS deutlich. Sogar internationale Unternehmen wie die Musikplattform Bandcamp verzichten zeitweilig auf ihre Plattformgebühren, sodass 100 % der Einnahmen an die Künstler gehen – denn diesen fehlen jetzt natürlich die Einnahmen durch Live-Auftritte. Zwar werden staatliche Hilfen gezahlt, allerdings bleibt die Kultur- und Veranstaltungsbranche weitestgehend auf sich alleine gestellt, denn kleine Finanzspritzen, der Abverkauf von Masken und Streams können den fehlenden Umsatz im Endeffekt nicht ausgleichen. Das Release-Karussell dreht sich jedoch unaufhaltsam weiter: Während mit "Rich Rich" von Ufo361 und "Jibrail & Iblis" von Samra zwei waschechte Streaming-Riesen ihre Alben auf den Markt bringen, kommen im April außerdem Liebhaber von Musik abseits des Mainstreams auf ihre Kosten. So releast Tua mit der "System"-EP einen wahren Lichtblick, auch wenn es nur einige Songs sind, die es nicht auf sein Album "Tua" geschafft haben. LGoony bringt mit dem Mixtape "Frost Forever" erneut Newschool Trap-Bretter. Überaus großen Anklang findet neben dem futuristischen "DICKICHT" von Yung Kafa & Kücük Efendi auch die "BOI"-EP von MAJAN.
Im Mai scheint sich die Lage in Deutschland allmählich zu entspannen. Die Läden öffnen und das öffentliche Leben kommt langsam, aber sicher unter entsprechenden Auflagen wieder in Gang. Passend dazu erscheint in diesem Monat der vielleicht größte Gute-Laune-Hit des Jahres – "Airwaves" von Pashanim. Die Formel lautet hier: Berliner Hinterhof-Romantik gepaart mit lockerem Flow und einem tanzbaren Beat. Der bis dato relativ unbekannte Berliner liefert den Soundtrack des sich langsam anbahnenden Sommers und heimst damit Millionen von Streams ein. Ein weiterer bemerkenswerter Newcomer, der im Mai releast, ist Ansu. Auf seinem Debütalbum "ASSOZIATIV" rappt er mit seiner tiefen, einprägsamen Stimme über finstere, Memphis-inspirierte Beats. Des Weiteren erscheint "90/10" von T9 alias Torky Tork und Doz9. Auf den zehn 90-sekündigen Tracks liefert Doz9 alles vom Representer bis zum gesellschaftskritischen Song untermalt von Torky Torks samplebasierten, aber modernen Instrumentals. Leider hält die positive Stimmung nicht lange an, denn gegen Ende des Monats kommt es in den USA zu einem schrecklichen Vorfall: Der Afroamerikaner George Floyd wird bei seiner Verhaftung von Polizisten getötet. Dadurch werden Proteste in den gesamten Vereinigten Staaten ausgelöst, denn rassistisch motivierte Polizeigewalt gegen Minderheiten stellt dort seit langer Zeit ein riesiges Problem dar.
Diese Proteste werden im Juni global. So gehen zu Beginn des Monats zehntausende Menschen in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen Rassismus und Gewalt zu demonstrieren. An der Spitze dieser Proteste steht die Black Lives Matter-Bewegung, die weltweit von unzähligen HipHop-Artists unterstützt wird. Zeitgleich erlebt die Deutschrap-Szene einen musikalischen Paukenschlag. Haftbefehl releast mit "Das weisse Album" den lang ersehnten Nachfolger zum Klassiker "Russisch Roulette" aus dem Jahr 2016. Brachiale Beats von Bazzazian treffen auf melancholische Street-Tales und pure Wut von Baba Haft. Auch wenn das Album dieses Mal nicht im Winter erscheint, erschaffen die beiden hier den perfekten Soundtrack für finstere Tage. Außerdem bringt Deutschrap-Urgestein Lakmann in Kombination mit Produzent Rooq "Reasonable Kraut" auf den Markt. Auf der Platte präsentiert sich der General sowohl in altbekannter Manier als auch auf modernen Beats jenseits der 100 BPM und beweist damit auch nach all den Jahren noch Skills am Mic. Letztendlich releast Juse Ju sein Album "Millennium" inklusive Bonusalbum "Popbizenemy" und schafft es komplett independent auf Platz elf der Charts.
Der Juli kann ebenfalls mit guter Musik aufwarten: "SUI SUI" von Haiyti erscheint, auf dem sie ihren ganz eigenen Sound weiterhin durchzieht. Darüber hinaus releast der Shooting-Star Apache 207 sein Debütalbum "Treppenhaus". Nachdem er im Vorjahr bereits mit der "Platte"-EP eine Goldplatte einheimsen konnte, schließt er nun an diesen Erfolg an. Unter den Releases des Monats finden sich auch wieder einige Produzentenalben: So liefert Hubert Daviz mit dem fünften Teil seiner "Sichtexotica"-Reihe entspannten und teils experimentellen Sound für gemütliche Abende daheim, während Green Berlin-Member Nobodys Face mit "Chemical Animals" ein abwechslungsreiches Werk, gespickt mit Gastbeiträgen von beispielsweise MAJAN oder Chefket, auf den Markt bringt.
Die bereits erwähnte Entwicklung, dass Produzenten mehr eigene Aufmerksamkeit erhalten, setzt sich im August fort und findet in diesem Monat sogar ihren Höhepunkt: "KitschKrieg" erscheint. Das Album des gleichnamigen Kollektivs wurde im Vorhinein sowohl in der Szene als auch im Mainstream sehnsüchtig erwartet. Leider bleibt hier allerdings ein bitterer Beigeschmack, denn einige der auf dem Album vertretenen Acts sind durchaus zwielichtig. Raptechnisch gibt es im August jedoch einige Schmankerl. So releasen gleich zwei der reimstärksten Rapper ihre Projekte: Megaloh mit der "Hotbox EP" und Laas Unltd. mit "Laas Man Standing". Letzteres ist das erste Projekt des Rappers nach vier Jahren Funkstille und erhält entsprechende Resonanz.
Auch im September wird es sowohl in der Welt als auch im Deutschrap nicht ruhiger. Während Ulysse mit der "Corner-EP" den Hustle der Karlsruher Straßen vornehmlich auf staubtrockenen Boom bap-Beats representet, zeigt KALIM mit "MVP", wie finsterer Straßenrap auf Beats funktioniert, die allesamt direkt am Puls der Zeit liegen. Zeitgleich verzaubert Joy Denalane ihre Hörer mit ihrer samtweichen Stimme auf "Let Yourself Be Loved". Außerdem releast Erotik Toy Records, ein Bremer Kollektiv bestehend aus fünf Rappern und einem Produzenten, den ganz speziellen Sampler "Hafenwind". Ebenfalls im September zeigt das Sichtexot-Member Torky Tork bereits ein zweites Mal sein Können – zusammen mit eloquent erscheint "Modus Minus". Beide Protagonisten würde man auf den ersten Blick in eine ruhige, Boom bappige Ecke stellen. Jedoch klingt das Album sowohl flow- als auch beattechnisch sehr modern und vor allem extrem emotional.
Im Oktober gibt sich Witten Untouchable-Member AL Kareem auf "453 Blues" die Ehre. Der Titel könnte kaum passender gewählt sein, denn auf der Platte führt er den Hörer auf melancholische Weise durch das triste Wittener Stadtleben. Dem gegenüber steht Zonkeymobb-Member Binho mit brutalem ZNKMO-Sound und aggressiver Attitüde auf der "LIVESET"-EP. Und letztendlich meldet sich Ace Tee nach drei Jahren mit "ACE X" zurück. Indessen steigen die Corona-Infektionen weiter an und langsam, aber sicher muss sich Deutschland mit neuen Infektionsschutz-Maßnahmen anfreunden.
Schließlich wird es November und eine winterliche Kälte macht sich allmählich breit – das perfekte Wetter, um zu Hause zu bleiben. Das ist auch gefragt, nachdem die Regierung gezwungen ist, weitere Auflagen zu verhängen und mit einem Lockdown light das öffentliche Leben erneut einzuschränken. Passend zur Kälte releast der Duisburger FALK sein Album "Bitter", auf dem er berührende Einblicke in sein Seelenleben gibt und beweist, dass Battle-Rapper auch gute Musik machen können. Des Weiteren erscheint mit "Young Boomer" das dritte Rapalbum des Ex-Kinderfacharzts und Betty Ford Boys-Mitglieds Dexter, der getreu des Albumnamens einen sehr jungen Sound fährt.
Schlussendlich ist es Dezember und ein bewegtes Jahr neigt sich dem Ende zu. Leider bringen die bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen nicht das erhoffte Ergebnis und so wird im Dezember erneut ein "harter" Lockdown verhängt. Auch hier lässt Deutschrap uns, wie schon das gesamte Jahr über, nicht im Stich: Haiyti droppt mit "influencer" ihr zweites Projekt in 2020. Alte Hasen wie Separate und Nazar wollen zum Ende des Jahres noch einmal ihr Können unter Beweis stellen ebenso wie Young Kafa & Kücük Efendi. Des Weiteren erscheint mit der "KULTUR"-EP von Döll ein wahrer Kritikerliebling. Allein in der Diversität der Releases im letzten Monat spiegelt sich eine unglaubliche Vielfalt innerhalb der deutschen Rapszene wider, welche sich hoffentlich 2021 weiter verstärken wird.
Somit war 2020 zumindest aus musikalischer Sicht durchaus ein gutes Jahr. Für das nächste Jahr sind sogar schon einige Scheiben angekündigt, die Rap-Fans zuversichtlich auf die nächsten 365 Tage blicken lassen, wie zum Beispiel "Das Schwarze Album" von Haftbefehl, das verschobene "AGHORI" von Kool Savas oder "HRRR" von Xatar. Und ebendiese Zuversicht sollten wir alle definitiv auch in unserem Leben abseits von HipHop ins nächste Jahr tragen. Die Ereignisse dieses Jahres haben wahrscheinlich jeden hart getroffen, jedoch darf man die Hoffnung nie verlieren und muss solche Herausforderungen positiv angehen, auch wenn das mittlerweile sicherlich etwas schwerfallen dürfte.
Darum wünschen wir von MZEE euch viel Kraft, um das vergangene Jahr zu verarbeiten und alles nur erdenklich Gute für das nächste!
(die MZEE.com Redaktion)
(Titelbild von Daniel Fersch)