MZEE.com: Du bist seit 2002 als Journalist für die BACKSPIN und andere Formate tätig. Worin unterscheidet sich der heutige Rap-Journalismus in deiner Wahrnehmung am meisten von dem damaligen?
Niko Hüls: Es sind die 18 Jahre, die seitdem vergangen sind. Aus dem heutigen Blickwinkel betrachtet waren sowohl der Journalismus als auch die Szene naiver. Es gab weniger Erfahrungen, was das Business und die Außenwirkung angeht und außerdem weniger Höhen und Tiefen. Genauso gab es weniger Geschrei und Nebenkriegsschauplätze. Damals ging es wirklich um Mucke und nicht um die Themen drumherum.
MZEE.com: Würdest du sagen, dass der Rap-Journalismus amateurhafter war?
Niko Hüls: Amateurhaft klingt negativ. Man muss es eher so beschreiben, dass noch mehr aus Passion und Liebe passiert ist – von allen Seiten. Viele Künstler, auch die, die damals groß waren, haben alles nur für die Kultur und die Musik gemacht. Selbst die Beginner hätten morgen wieder in irgendeinem Jugendzentrum gespielt. Die journalistische Seite war sehr nah dran. Zunächst waren es eher Fanzines, die sich über die Jahre emanzipiert haben.
MZEE.com: Hat die journalistische Distanz manchmal gefehlt?
Niko Hüls: Nee, im Gegenteil. Es ging für die Journalisten weniger um Profilierung oder Reichweite. Du hast für ein Heft geschrieben und wusstest nicht, wer das liest. Irgendwann hast du über Verkaufszahlen oder auf Veranstaltungen ein Feedback bekommen, aber natürlich viel weniger als jetzt. Ich glaube, dass das ein entscheidender Unterschied zu heute ist. Dass alles so feedbackgetrieben wurde, hat vielleicht dazu geführt, dass Formate weniger journalistisch gedacht wurden und es zu einer Art Abwärtsspirale in Bezug auf fehlende Distanz und den journalistischen Ansatz gekommen ist.
MZEE.com: Findest du, dass in der jetzigen Berichterstattung manchmal etwas zu sehr abgekumpelt wird?
Niko Hüls: Es geht nicht ums Abkumpeln. Ich habe noch nie in meinem Leben mit Rappern Partynächte gefeiert oder versucht, megacool mit denen zu sein. Aber ich wollte immer auf sie eingehen. Das mache ich bis heute und werde ich immer so machen. Ich wollte nie mit einer klar gezogenen Grenze und Distanz einfach nur Fragen stellen. Meine Stärke als Reporter ist es, nah ranzukommen. Das schaffe ich nur, indem ich den Leuten von Herzen das Gefühl gebe, dass ich sie verstehe oder zumindest verstehen will. Wie viele Journalisten hätten in den 2000ern oder 2010ern mit Celo & Abdi oder Haftbefehl ein paar Tage in Frankfurt verbracht, um sie zu verstehen? Und sie haben mich verstanden und akzeptiert, weil ich bereit war, in ihre Welt abzutauchen und nicht von außen versucht habe, mit der Pinzette kurz den Vorhang hochzuheben, um dahinter zu schauen. Von daher ist der direkte Kontakt zu den Künstlern der Kern meiner Arbeit. HipHop-Journalismus hat da in meinen Augen auch etwas mehr dehnbare Masse. Trotzdem gibt es einen, häufig moralischen, Punkt, an dem du zumindest nachhaken musst und Dinge nicht durchwinken darfst. Wenn das nicht passiert, finde ich das schon immer sehr schade.
MZEE.com: Denkst du denn, dass problematische Äußerungen zu häufig durchgewunken werden?
Niko Hüls: Ich habe ein Problem mit Pauschalisierungen. Du kannst HipHop- oder auch Videojournalismus nicht pauschal bewerten. Das ist so, als würdest du sagen, BILD, SPIEGEL, ZEIT und die BRAVO seien das Gleiche. Nein, sind sie nicht. Es gab schon immer Facetten. Auch früher gab es starke Journalisten im Hintergrund, die aber keine Gesichter waren. Es gab immer Leute, die gute Dokumentationen gemacht und kritische Fragen gestellt haben. Ich glaube aber außerdem, dass HipHop sich in einem Prozess befindet. HipHop testet immer Grenzen aus und es wurde immer extremer. Wenn mir jemand sagt, dass ich der 187 Strassenbande kritischer gegenübertreten müsste, antworte ich, dass derjenige sich meine Interviews mit ihnen von früher ansehen soll. Schon damals habe ich mit den Jungs über ihr Frauenbild und andere Themen gesprochen. Nur, weil das Jahre später ein Thema für die Gesellschaft geworden ist, wird geschrien, dass alles zu unkritisch sei. Auf der anderen Seite ist es für den gesellschaftlichen Prozess wichtig und gut, dass es immer mehr neue und junge Journalisten gibt, die Bock auf HipHop haben und versuchen, das aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Nur so kommst du weiter. Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, Rap in eine gesellschaftliche Normung zu packen. Aber es ist gut und wichtig, von allen Seiten drauf zu gucken und zu meckern.
MZEE.com: Gibt es für dich Äußerungen und Überzeugungen, aufgrund derer du Interviews mit Künstlern vollständig ablehnst?
Niko Hüls: Ja, da gibt es ganz klare Grenzen. Es gibt Gründe dafür, dass ich bestimmte Sachen in der Vergangenheit nicht gemacht habe. Das geht in alle Richtungen, von gesellschaftlich diskutabel bis hin zu szeneintern kritisch zu sehen. An irgendeiner Stelle wird es aber inhaltlich schwammiger. Das sind die Themen, die Rap von Beginn an mit prägen und seit Kurtis Blow oder N.W.A. da sind, wie beispielsweise das Frauenbild. Die müssen klar diskutiert werden. Man darf an der Stelle aber nicht die Lebensrealität der Künstler vergessen. Das ist nie eine Entschuldigung, aber man muss es von beiden Seiten betrachten. Du wirst einen großen Rapper, der sexistische Texte schreibt, nicht dadurch ändern, dass du ihn cancelst. Das hat noch nie funktioniert. Es sorgt nur dafür, dass seine Fans noch mehr hinter ihm stehen, dafür gibt es 50 Beispiele. Deshalb denke ich, dass der Dialog meist der richtige Weg ist, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist. Klar ist aber: Kein Fuß breit dem Faschismus.
MZEE.com: Du hast zuletzt in einem Panel auf dem Reeperbahn-Festival mit Rola, Fionn Birr und Aminata Belli über ein mögliches Sterben der Rapmedien diskutiert. Weniger als ein Sterben der Berichterstattung findet eine Verschiebung statt, oder? Hin zu Podcasts, freien Journalisten mit eigenen Kanälen und Artikeln in der "normalen" Musikpresse.
Niko Hüls: Das ist sehr komplex. Ich finde nach wie vor, dass es ein Mediensterben gibt. Es interessiert die Leute immer weniger, was ein Medium über Kunst sagt, wenn es kein Profil hat. Bis heute definieren sich sehr viele Redaktionen über das Medium. Dafür sind die JUICE, die SPEX oder die GROOVE Beispiele. Diese Medien galten in ihrer Szene als Instanz für Geschmack und Meinung. Aber das interessiert die Leute nicht mehr. Die wollen wissen, was du als Journalist sagst. Wenn du es schaffst, dir einen Namen zu machen, hören sie dir zu. Dann hat Journalismus auch eine Relevanz. Mein Musterbeispiel dafür ist Linus Volkmann, der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der INTRO. Der hat es über die Jahre geschafft, als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Er war etwas edgy, auch gerne mal ein bisschen drüber, aber er hat dafür gesorgt, dass die Leute mit ihm eine Meinung verbinden. Ob sie die teilen oder nicht, ist ein anderer Punkt. Dazu kommt die zweite Ebene, die einen Juri Sternburg oder euch bei MZEE beschreibt. Für wen machst du das? Machst du es für die breite Masse und willst HipHop-Deutschland erklären, was passiert? Aus der Sichtweise interessiert es niemanden. Wenn du dich aber klar als ein Special Interest-Magazin im HipHop verstehst, dann hast du Relevanz. Und das machen ja alle. Viele Podcasts und Autoren lassen sich so einordnen. Ich bin ein großer Verfechter des HipHop-Gedankens. Damit meine ich keinen Raum voller Graffiti und Breakdance. Das war die Verpackung für alles. Es geht um das Mindset: zu machen, worauf man Bock hat. Ich weiß, ich kann es. Du lässt mich nicht, also mache ich. Und das zeigt sich in meinen Augen auch in den verschiedenen Formaten im HipHop-Journalismus. Wieso gibt es denn allein in der HipHop-Szene fünf bis zehn relevante Podcasts? Wieso gibt es 20 Autoren, die überall einen Namen haben und gefragt sind, obwohl die Szene sie teilweise nicht wirklich wahrnimmt? Es geht immer um den Blickwinkel, von dem aus man das "Sterben der Medien" betrachtet.
MZEE.com: Rap ist so groß wie nie. Er ist in der Mitte der Gesellschaft und auch in der Wahrnehmung anderer Medien angekommen. Reicht es nicht aus, wenn Journalisten dort oder im Feuilleton über Rap schreiben?
Niko Hüls: Da gibt es wieder mehrere Seiten. Du kannst Rap nicht pauschal beschreiben. Natürlich schreiben die größeren Medien über Loredana, Bushido und Capital Bra. Aber keins dieser Medien schreibt darüber, wie toll die neue Döll-EP ist.
MZEE.com: Es gibt ja aber auch alternative Magazine wie DIFFUS, die solche Releases abbilden.
Niko Hüls: Ja, aber das ist wieder Special Interest, das ist nicht Mainstream. Die drei Gruppen hast du: die großen Medien, Special Interest- oder Kulturmedien und HipHop-Medien. Viele HipHop-Journalisten haben ja ein Liebe-Hass-Verhältnis zur Szene, die können die Scheiße nicht mehr leiden und trotzdem lässt sie sie nicht los. Gleichzeitig ist eine große Expertise da, sodass differenziert darüber geschrieben wird. Es ist keine einheitliche Masse. An jeder Stelle können Experten sitzen. Es ist nicht mehr so wie früher, dass außerhalb der HipHop-Medien nur Leute sitzen, die keine Ahnung haben. Aber es gibt immer noch genug Journalisten, die nicht verstehen, was in der Szene passiert. Und das geht bis zu den größten Künstlern. Du kannst auch einen Capital Bra nicht aufgrund von zwei Nachrichten verurteilen, das geht nicht.
MZEE.com: Du bist also der Meinung, dass HipHop-Medien weiter eine wichtige Rolle spielen.
Niko Hüls: Ich glaube, es wird sie nach wie vor geben müssen. Da kommen wir zurück zum Anfang des Interviews: Wenn du früher über Rap geschrieben hast, hast du das aus Passion und nicht für Geld gemacht. Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem sich HipHop-Medien entscheiden müssen, was sie machen möchten. Wenn DEINUPDATE gerne die BILD-Zeitung sein möchte – cool, dann macht ihr genau das. Und auf der anderen Seite gibt es Leute, die fünfseitige Text-Interviews ins Internet stellen, weil sie wissen, dass auch das bestimmte Menschen interessiert.
MZEE.com: Durch Social Media müssen sich Künstler heute nicht mehr in klassische Interview-Situationen begeben. Sie können auch einfach eine Fragerunde auf Instagram veranstalten.
Niko Hüls: Da unterscheiden sich große Künstler auch voneinander. Wenn du lange erfolgreich bleiben willst, brauchst du Profil. Das schaffst du nicht dadurch, dass du deinen Followern nur das Bild von dir präsentierst, das du gerne hättest. Sondern dadurch, dass du dich in Diskussionen setzt und dir Fragen stellen lässt, die dich von einer anderen Seite beleuchten. Nur dann wirst du größer. Fler ist ein Musterbeispiel dafür. Ohne die Anzahl an Interviews hättest du nicht so viele Punkte über ihn erfahren, die dazu führen, dass du ihn magst oder eben nicht. In der Riege der zehn Großen geben wahrscheinlich aktuell sieben keine Interviews, weil sie keinen Bock darauf haben. Alles, was du hast, ist ihre Musik. Das ist auch so gewollt. Aber dadurch wird es irgendwann limitiert. Dadurch, dass Fler so ist, wie er ist, kann er sich seit 20 Jahren immer wieder neu erfinden. Das gilt ebenso für Kool Savas, Sido, Marteria oder Casper, für jeden aus diesen Generationen. Ein Künstler wie Haftbefehl wäre in meinen Augen der Größte der Dekade geworden – nicht nur für Kritiker, sondern auch für die Masse –, wenn er noch mehr Profil zugelassen hätte. Er will es nicht – cool. Er ist, wie er ist, und die Leute lieben ihn dafür. Aber ich glaube, dass er trotz der brachialsten Bretter, die Deutschrap in den letzten zehn Jahren gehört hat, nicht derjenige mit zehn Nummer-eins-Singles ist, liegt daran, dass er nicht so viel von sich öffentlich preisgegeben hat.
MZEE.com: Kommen wir einmal zu dir persönlich. Ich habe das Gefühl, dass du in öffentlichen Diskussionen oft versuchst, sehr neutral zu bleiben. Hast du nicht manchmal das Bedürfnis, deine Meinung beziehungsweise deinen Standpunkt zu vertreten?
Niko Hüls: Gut beobachtet. Ich mache das ganz bewusst. Wenn in der Twitter-Bubble irgendjemand ganz aufgeregt der Meinung ist, dass es einen Skandal gibt und alle ein Statement setzen müssen, wird man oft gefragt, warum man sich nicht äußert. Da ticke ich anders. Ich muss nicht überall immer wieder sagen, wo ich stehe. Wenn man mich kennt, weiß man das. Dann weiß man auch, was ich über bestimmte Dinge denke. Ich muss das nicht ständig erzählen, nur um mich darüber zu profilieren. Das ist für mich ein ganz großes Problem auf Social Media: Twitter ist Ausrufezeichen und nicht Fragezeichen. Du musst die ganze Zeit schreien und Statements setzen. Wenn ein Thema ganz einfach vom logischen Menschenverstand betrachtet moralisch verwerflich ist, muss ich das doch nicht noch mal sagen. Ich komme eher sofort in den Fragemodus. Bei jedem Thema frage ich mich: Warum ist das eigentlich so? Ich will verstehen, wie 360 Grad aussehen. Das war früher so und das ist heute so. Natürlich führt das zu einer gewissen Neutralität. Aber wenn man mir zuhört, nehme ich auch Stellung, zum Beispiel im BACKSPIN Podcast. Es gibt viele Themen, die du weder in 280 Zeichen auf Twitter noch in zwei gesprochenen Sätzen erklären kannst. Also nehme ich mir den nötigen Raum ein paar Tage später im Podcast, wenn sich alle etwas beruhigt haben und wir uns vernünftig unterhalten können. Dadurch habe ich nicht weniger eine Haltung als diejenigen, die sofort losschreien.
MZEE.com: Du hast vorhin angesprochen, dass man als Journalist heute ein Gesicht haben und eine Meinung vertreten sollte, um erfolgreich zu sein. Ist das aus einer idealistischen Sicht auf den Journalismus, der eigentlich neutral sein sollte, nicht problematisch?
Niko Hüls: Da kommen wir wieder zum Mediensterben und generell der Art und Weise, wie heute Nachrichten konsumiert werden. Was machen die Leute denn? Die wollen durchgehend schnell und kurz informiert werden. Beziehungsweise wollen sie gar nicht unbedingt informiert werden, sondern vor allem eine eigene Meinung haben. Früher hat niemanden interessiert, was Thomas, 17, aus Castrop-Rauxel gesagt hat. Im Internet kann er 30 Likes dafür bekommen, jemanden zu beleidigen. Das geht fünf Stufen weiter, wenn du als Journalist da stehst und eigentlich neutral sein musst. Das ist ja richtig. Ich glaube aber, dass die Entwicklung der medialen Nutzung und das Mediensterben dazu führen, dass es wichtig ist, dass öffentliche Protagonisten Haltung zeigen. Das ist der entscheidende Faktor. Du kannst Aktivist werden, das finde ich auch gut. Es gibt in der Szene genügend Leute, die tendenziell Aktivisten sind. Wenn du für ein Thema brennst, solltest du das machen. Du kannst trotzdem zurückkommen und deinen Job als Journalist machen, da habe ich überhaupt keine Bedenken.
MZEE.com: Unter dem YouTube-Video zum Panel, über das wir vorhin gesprochen haben, finden sich viele Kommentare, die die politische Haltung der "woken HipHop-Medienelite" kritisieren. Nimmst du ein Problem mit rechten Tendenzen in der deutschen Raplandschaft wahr?
Niko Hüls: Dass es unter dem Panel so einen Rant gab, hatte verschiedene Gründe. Aber ja, dieses Publikum ist immer lauter geworden. Ich muss dabei an Jan Delay denken: "Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt!" Früher standen die außen, heute ist HipHop so groß, dass sie mit dabei sind.
MZEE.com: Unabhängig von diesen eher sinnlosen Kommentaren denke ich, dass es natürlich zu Konflikten führen kann, wenn viele Redaktionsmitglieder in HipHop-Medien beispielsweise einen akademischen Hintergrund haben und aus ebendieser Sicht berichten. Da sind wir wieder bei den Lebensrealitäten.
Niko Hüls: Absolut und das geht schon früher los. Hast du als Journalist Lust, über Rap zu schreiben, der am Ballermann läuft oder ist das nicht deine Welt? Das ist die simple Variante davon. Ein Studium ist ein sehr gefährlicher Einstieg, um über Straßenrap zu reden. Du hast nicht mit zehn Jahren angefangen, mit Drogendealern am Block zu chillen. Du hast wahrscheinlich keine alleinerziehende Mutter gehabt, die vier Kinder durchbringen musste und die du vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund verteidigen musstest. Du musstest nicht mit Hartz IV über den Tag kommen und hast nicht mit zwölf angefangen, zu klauen, damit du auch die Dinge hast, die du bei den Kindern in der Schule siehst, die später studiert haben. Diese verschiedenen Lebensrealitäten darf man nicht unterschätzen. Ich kann eine gewisse Wut deshalb nachvollziehen. An bestimmten Stellen finde ich sie übertrieben. Die aktuelle Diskussion ist von beiden Seiten nachvollziehbar. Das Problem ist, dass wir einander gar nicht zuhören wollen. Da sind wir wieder bei Twitter und Ausrufezeichen. Alle wollen nur schreien. Entweder bist du meiner Meinung oder gegen mich. So funktioniert die Welt gerade. Wenn du nicht bereit bist, kurz Luft zu holen und zu versuchen, die andere Seite zu verstehen, wirst du das nicht ändern.
MZEE.com: Denkst du, dass wir Kommentaren auf YouTube oder in Social Media zu viel Aufmerksamkeit zukommen lassen? Die Mehrheit der Menschen kommentiert ja gar nicht im Internet.
Niko Hüls: Ich würde das nicht unterschätzen. Diese Menschen sind da. Es gibt ein Interview von Richard David Precht mit Rezo, in dem dieser von seinen Livestreams erzählt. Er sagt, dass dort teilweise 50 000 Menschen ein Thema ausdiskutieren, das gesellschaftlich für sie eine Megarelevanz hat, die Öffentlichkeit aber einen Scheiß interessiert. Das heißt nicht, dass es kein Thema ist. Wir haben mittlerweile so viele Parallel-Blasen, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, YouTube-Kommentare und Ähnliches nicht ernst zu nehmen. Das ist ja das Gefährliche daran. Wir hatten es schon vorhin: Thomas, 17, aus Castrop-Rauxel findet im Internet jetzt 500 andere, die genauso denken und beschränkt sind wie er. Das ist doch der Grund, warum es auf einmal Telegram-Gruppen voller Verschwörungstheorien mit tausenden Followern gibt.
MZEE.com: Gibt es einen Punkt, an dem es für dich keinen Sinn ergibt, auf diese Sichtweisen einzugehen?
Niko Hüls: Ich habe vor einigen Jahren im Format "STRASSENWAHL" Rapper und Politiker zusammengebracht. Unter anderem Bushido und Beatrix von Storch, einer der größten Fehler meiner Karriere. Ich habe gemerkt, dass der Diskurs, den ich mir in meiner naiven Welt gewünscht habe, dort nicht funktioniert. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass ich bestimmte Themen nicht mehr aufmache. Du kommst da nicht durch. Was willst du jemandem sagen, der dir allen Ernstes erzählt, dass die "Elite" Blut von Kindern trinkt, die von UNICEF geschlachtet werden? Wo willst du da anfangen?
MZEE.com: Ich möchte mit dir noch über ein anderes Thema sprechen. Du bist laut Website Geschäftsführer der Agentur KINGSTYLES, die unter anderem Videoproduktionen anbietet. Unter den ehemaligen Kunden finden sich die 187 Strassenbande und Banger Musik. Kam es zu Interessenskonflikten mit deiner journalistischen Arbeit?
Niko Hüls: Wir machen schon lange nichts mehr für 187 oder Banger Musik. Ich habe in den ersten Jahren, 2004 bis 2006, Künstler beraten und zum Beispiel Bonez MC bei seinen ersten Releases in dieser Form begleitet. Dann habe ich aber selbst gemerkt, dass ich das nicht kann und will, weil es zu Interessenskonflikten kommt und es Grenzen gibt, die man nicht überschreiten darf. Du kannst nicht beides machen, es geht nur das eine oder andere. Für Banger Musik haben wir mal ein Magazin produziert. Deshalb stehen sie auf dieser Seite. Aber ich habe in den letzten 15 Jahren niemals PR für irgendwelche Künstler gemacht. In keiner Form. Ich versuche, die Welten miteinander zu verbinden. Wenn Agenturen mit dem Thema HipHop arbeiten möchten, ist es mir lieber, dass sie mit mir darüber sprechen, als wenn sie von außen versuchen, das zu verstehen. Das gilt genauso für Medien, die ein Interesse daran haben, über HipHop zu berichten. Da versuche ich, für HipHop die richtige Botschaft zu senden.
MZEE.com: Die Interviews wirken auch nicht so, als würdet ihr in einer geschäftlichen Beziehung zueinander stehen.
Niko Hüls: Es geht um Respekt. Die sehen, dass ich Journalist bin und sagen, dass ich ihnen jede Frage der Welt stellen kann. Weil sie mir vertrauen und wissen, dass ich versuche, sie zu verstehen. Ich bin nicht deren Freund und will es auch nicht sein. Aber ich will ein respektvolles Verhältnis zu ihnen haben. Das ist mir wichtig und ich denke, dass diese Dinge deshalb funktionieren.
MZEE.com: Letzte Frage: Wie siehst du es allgemein, wenn Journalisten parallel zu ihrer Berichterstattung anderen Projekten nachgehen?
Niko Hüls: Ich glaube, es ist ein schmaler Grat, HipHop-Journalismus zu machen, wenn man es als wirtschaftliche Grundlage für sein Leben sieht. Deshalb kann ich es zu hundert Prozent nachvollziehen, wenn man seine Expertise nutzt, um Geld zu verdienen. Das machen andere Leute auch. Wenn du ein guter Lehrer bist, kannst du daneben Seminare über gutes Lehren geben. Und wenn du ein guter HipHop-Journalist bist, spricht nichts dagegen, deine Expertise an anderer Stelle zu monetarisieren. Solange du selbst für dich in deinen moralischen Grenzen damit umgehen kannst, mach das. Ich bin zum Glück viel breiter aufgestellt und führe eine Medienagentur mit Kunden und Projekten in verschiedensten Genres weit über die Grenzen von HipHop hinaus. Darum bin ich da nicht so abhängig, aber kann dennoch viele Projekte, auch in Verbindung mit HipHop, durchführen. Dokumentationen wie "Back 2 Tape" sind in dem Umfang nicht ohne die Unterstützung einer großen Marke wie Porsche möglich. Wir waren vier Wochen lang mit einem zehnköpfigen Team in Europa unterwegs, um über HipHop zu berichten. Aber es ging nicht darum, dass ich dreimal pro Ausgabe "Porsche" sage. Die hatten Lust, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich konnte meine Ideen einbringen und machen, was ich will. Ich muss mit einer Marke im Gleichgewicht zusammenarbeiten können, ohne dass sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt, um ihre eigene Agenda durchzudrücken. Auf diese Weise gibt dir das einen Raum, um Kultur abzubilden. Solche Projekte mit Haltung und Positionierung anzunehmen, ist doch eine gute wirtschaftliche Grundlage, um auf der anderen Seite deiner Passion nachzugehen und so über HipHop zu berichten, wie du es möchtest.
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Markus Schwer)