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Reportage

"Ich habe Recht und damit basta!" – die Diskussionskultur in der HipHop-Szene

"Das Auf­recht­erhal­ten der Dis­kus­si­ons­kul­tur soll­te nicht nur auf sound­tech­ni­scher Ebe­ne statt­fin­den, son­dern gera­de dann, wenn es um den Inhalt der Musik geht." – Über die abhan­den­ge­kom­me­ne Kri­tik­fä­hig­keit im Rap­ga­me, ihre Aus­wir­kun­gen und Par­al­le­len zu Radikalisierungsprozessen.

Immer wie­der kommt es in den letz­ten Jah­ren zu Skan­da­len rund um Rap­tex­te, Inter­view­aus­sa­gen von Künst­lern oder Aktio­nen fern­ab der eigent­li­chen Kunst. Die dar­aus resul­tie­ren­den Debat­ten mün­den dabei zumeist in einem inhalts­lee­ren Argu­men­ta­ti­ons­krieg, den am Ende der "Lau­te­re" gewinnt. Sel­ten geht es dabei wirk­lich um die ursprüng­li­chen Inhal­te der ange­sto­ße­nen Debat­ten. Statt­des­sen erhal­ten die "Sie­ger" der Debat­ten häu­fig enor­men Zuspruch ohne inhalt­li­chen Mehr­wert. Wes­halb ist die­ser Sta­tus quo so pro­ble­ma­tisch? War­um soll­ten wir für eine offe­ne­re Dis­kus­si­ons­kul­tur kämp­fen und wel­che teil­wei­se erschre­cken­den Par­al­le­len zu Phä­no­me­nen aus dem Bereich der Extremismus- und Radi­ka­li­sie­rungs­for­schung fin­den wir im HipHop?

 

"Wahr­heit" im HipHop

Wer einen Satz wie "Ich ken­ne die ein­zi­ge und abso­lu­te Wahr­heit!" uniro­nisch aus­spricht, ist wahr­schein­lich auch rela­tiv emp­fäng­lich für extre­mes Gedan­ken­gut. Dies ist kein übli­cher Satz im HipHop-​Kontext. Trotz­dem sind in der deut­schen HipHop-​Szene eini­ge Prot­ago­nis­ten zu beob­ach­ten, die sich selbst, zumin­dest im Rap-​Kontext, als all­wis­send dar­stel­len. Dabei soll­te gera­de Musik eine Geschmacks­fra­ge sein und somit enorm viel Dis­kus­si­ons­raum bie­ten. "Du bist fake", "Das ist ech­ter Hip­Hop" oder "Das hat mit Hip­Hop nichts zu tun" sind nur ein­zel­ne Bei­spie­le für Aus­sa­gen, die einem gera­de im Rap­ga­me immer wie­der begeg­nen. Die­se Aus­sa­gen stel­len zumeist kei­ne rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung dar, son­dern eine Bean­spru­chung der Deu­tungs­ho­heit – eine Bean­spru­chung, die gera­de im kul­tu­rel­len Kon­text kei­ne Legi­ti­mi­tät besitzt.

Der bri­ti­sche Phi­lo­soph John Stuart Mill könn­te hier eini­gen Ver­tre­tern die­ses Teils der Sze­ne hin­sicht­lich ihres fest­ge­fah­re­nen Stand­punkts viel­leicht die Augen öff­nen: "Ihre Schluß­fol­ge­rung mag rich­tig sein, aber sie könn­te nach dem, was wir wis­sen, auch falsch sein; sie haben sich nie­mals auf den geis­ti­gen Stand­punkt der­je­ni­gen gestellt, die anders den­ken als sie … und sie ken­nen dem­zu­fol­ge nicht […] die Auf­fas­sung, zu der sie sich beken­nen."

 

Ver­ständ­nis und Dis­kus­si­ons­kul­tur auf musi­ka­li­scher Ebene

Hier­bei geht es nicht dar­um, alle musi­ka­li­schen Aus­rich­tun­gen von Rap per se abzu­fei­ern, son­dern sie zumin­dest als das zu akzep­tie­ren, was sie sind: ein Teil der HipHop-​Kultur. Statt­des­sen erlebt man immer wie­der, wie sich eini­ge Prot­ago­nis­ten, ins­be­son­de­re Rap­per, von der aktu­el­len Sze­ne distan­zie­ren, "weil das ja nichts mehr mit dem wah­ren Sound zu tun hat". Einer mög­li­chen Dis­kus­si­on wird sich zumeist ver­wei­gert und das, obwohl die­se wahr­schein­lich einen posi­ti­ven Ein­fluss auf die künf­ti­ge musi­ka­li­sche Aus­rich­tung hätte.

Es ist zum Bei­spiel kein Pro­blem, im Jahr 2021 Torch zu hören. Pro­ble­ma­tisch wird es erst, wenn ande­re und vor allem jün­ge­re Künst­ler pau­schal abge­lehnt wer­den. Denn so wird die Eng­stir­nig­keit gleich im dop­pel­ten Sin­ne deut­lich. Der "klas­si­sche" Sound wird näm­lich auch heu­te noch pro­du­ziert, selbst wenn er viel­leicht nicht den aktu­el­len Zeit­geist wider­spie­gelt oder beson­ders erfolg­reich ist. Einem Künst­ler wie Umse tritt man bestimmt nicht zu nahe, wenn man sein 2020er Album "Uno", wel­ches gemein­sam mit Pro­du­zent Nottz ent­stand, sound­tech­nisch den 90ern oder dem Boom bap zuord­net oder als "klas­si­schen" Hip­Hop bezeich­net. Gleich­zei­tig kön­nen aber zum Bei­spiel auch Trap oder Clou­drap ent­ste­hen, ohne dass man das ver­teu­feln müsste.

UMSE & NOTTZ - Alles redu­ziert (feat. Mega­loh) [Offi­zi­el­les Video]

Außer­dem fin­den per­ma­nen­te Neue­run­gen auf musi­ka­li­scher Ebe­ne und Dis­kus­sio­nen dar­über statt. Das Pochen auf die eige­ne schein­ba­re All­wis­sen­heit und Deu­tungs­ho­heit ist also nicht son­der­lich pro­duk­tiv, son­dern wirkt hin­ge­gen eher ein­schrän­kend. Das häu­fig statt­fin­den­de "Schub­la­den­den­ken" funk­tio­niert bei den meis­ten HipHop-​Künstlern auch kaum bezie­hungs­wei­se nur in sehr gerin­gem Umfang. Snoop Dogg etwa scheint sich in nahe­zu jeder Sound­aus­rich­tung mal aus­pro­biert zu haben, die Zuge­hö­rig­keit in den HipHop-​Kosmos ist ihm jedoch seit sei­nem Debüt "Dog­gy­style" nicht abzu­spre­chen. Ähn­li­ches lässt sich auch über Kendrick Lamar sagen, ein Name, der immer wie­der bei der Dis­kus­si­on fällt, wer denn aktu­ell wohl der bes­te oder rele­van­tes­te Rap­per der Welt sein könn­te. Dabei lässt sich sein sound­tech­ni­scher Stil kaum näher defi­nie­ren, weil die­ser sich mit fast jedem neu­en Pro­jekt ent­schei­dend ändert. Auch wenn einem nicht alles von ihm gefällt, soll­te man die­se Stil­wech­sel als wich­ti­gen Teil des Künst­lers und von Rap all­ge­mein akzep­tie­ren. Denn ohne zu wis­sen, was einem per­sön­lich nicht gefällt, lässt sich auch wesent­lich schlech­ter defi­nie­ren und erläu­tern, wel­cher Sound einem gut gefällt.

Die musi­ka­li­sche Offen­heit bie­tet auch gera­de im Live-​Bereich viel­fäl­ti­ge Mög­lich­kei­ten. In den letz­ten Jah­ren inte­grier­te zum Bei­spiel Fet­tes Brot als Band, die musi­ka­lisch in den 90ern ver­wur­zelt ist, immer wie­der neue­re musi­ka­li­sche Ele­men­te in ihre Live­shows. So wur­de unter ande­rem 2019 "Bier" geco­vert, ein Trap­song der 102 BOYZ und BHZ. Gera­de die Kom­bi­na­ti­on von zwei ver­schie­de­nen musi­ka­li­schen Rich­tun­gen, wie in die­sem Fall Boom bap und Trap, ist letzt­lich das, was die HipHop-​Kultur musi­ka­lisch vor­an­bringt und ein Auf-​der-​Stelle-​Treten ver­hin­dert. In der deut­schen Rap­land­schaft sind sich eini­ge Künst­ler für ein offe­nes Ohr bezüg­lich ande­rer musi­ka­li­scher Strö­mun­gen häu­fig aber zu scha­de. Statt­des­sen wird nicht sel­ten erwähnt, deut­sche Rap­mu­sik nicht zu hören, nicht zu ken­nen oder grund­sätz­lich schlecht zu fin­den. Kon­kret erhält dann nur das eige­ne Camp oder Label Sup­port. Sze­ne­über­grei­fen­de Props für Künst­ler blei­ben eine Sel­ten­heit, wie etwa Haft­be­fehl, auf den sich vie­le ver­schie­de­ne Par­tei­en eini­gen können.

 

Kri­tik­fä­hig­keit im Rapgame

Das Auf­recht­erhal­ten einer Dis­kus­si­ons­kul­tur soll­te aber nicht nur auf sound­tech­ni­scher Ebe­ne statt­fin­den, son­dern auch, wenn es um den Inhalt der Musik geht. Doch hier sieht es ins­ge­samt eher düs­ter aus. "Schmut­zi­ge Rap­per, Schutz­geld­erpres­ser. Ihr macht alle, was ihr wollt, aber eure Mucke nicht bes­ser", rappt Yas­sin auf dem Track "Klin­gel­ton" gemein­sam mit Audio88. Damit trifft er einen wun­den Punkt vie­ler Rap­per, die sowohl pri­vat als auch inhalt­lich nega­tiv auf­fal­len. Das Pro­blem: Wäh­rend inhalt­lich teil­wei­se neue Tief­punk­te erreicht wer­den, sind auf der ande­ren Sei­te auch immer grö­ße­re Erfol­ge zu ver­bu­chen. Künst­ler mit einem gewis­sen Bekannt­heits­grad sind (zumin­dest finan­zi­ell) meis­tens nicht gezwun­gen, auf Kri­tik gegen­über homo­pho­ben, sexis­ti­schen oder ras­sis­ti­schen Text­zei­len ein­zu­ge­hen. Die aktu­ell erfolg­reichs­ten Künst­ler sind häu­fig nicht mal bereit, sich in Inter­view­si­tua­tio­nen zu bege­ben, selbst wenn es kei­ne Kri­tik zu befürch­ten gilt. Denn die Selbst­ver­mark­tung funk­tio­niert ab einer gewis­sen Grö­ße über die eige­nen Social Media-​Kanäle schlicht schnel­ler und einfacher.

Attri­bu­te wie Kri­tik­fä­hig­keit schei­nen teil­wei­se fast voll­stän­dig ver­lo­ren gegan­gen zu sein. Anstatt einer kri­ti­schen Aus­sa­ge in dis­kurs­freund­li­cher Form ent­ge­gen­zu­tre­ten, wird die­se ent­we­der voll­stän­dig igno­riert, als grund­sätz­lich falsch abge­tan oder das eige­ne Ver­hal­ten durch Begrif­fe wie "Kunst­frei­heit" ver­tei­digt. Gera­de durch die­ses Ver­hal­ten ent­ste­hen ungüns­ti­ge Situa­tio­nen, die zumeist extre­me Posi­tio­nen wei­ter stär­ken. Der Rap­per nimmt nicht die Rol­le des unter­le­ge­nen Außen­sei­ters ein, son­dern sieht sich selbst mit­samt sei­ner extre­men Ein­stel­lung auf einem schein­bar unan­tast­ba­ren Podest und ist in der Lage, die­se Vor­teils­po­si­ti­on auch für sich zu nut­zen und zu verteidigen.

Eini­ge Rap-​Portale ver­öf­fent­li­chen in den letz­ten Jah­ren ver­mehrt Vide­os bezie­hungs­wei­se spe­zi­ell Inter­views mit Künst­lern, in denen Musik, wenn über­haupt, eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le spielt. Bereits die Video­ti­tel sind geprägt von Schlag­wor­ten wie "Beef", "Rap­per X über Rap­per Y", "Diss" oder "State­ment zu". Die­se Bezeich­nun­gen sind sicher­lich för­der­lich für die Klick­zah­len, nicht aber als Bezeich­nung für Vide­os gedacht, bei denen es ursprüng­lich mal um Musik, Kunst und Kul­tur gehen soll­te. Die genann­ten Schlag­wor­te hei­zen Fans oder Für­spre­cher der jewei­li­gen Par­tei­en noch zusätz­lich an. Denn die­se ste­hen bereits in den Start­lö­chern, um die neu­es­ten Kon­fron­ta­tio­nen und ver­ba­len Angrif­fe mög­lichst schnell anzu­se­hen, um sie dann wei­ter zu ver­brei­ten. Ähn­li­che Phä­no­me­ne exis­tie­ren auch in Debat­ten fern­ab der HipHop-​Welt. Erst im letz­ten Jahr kam es zum gro­ßen "TV-​Duell" zwi­schen Donald Trump und Joe Biden. Wor­um es inhalt­lich ging, wis­sen mitt­ler­wei­le ver­mut­lich nicht mal mehr die bei­den Kon­tra­hen­ten. Dies liegt auch dar­an, dass sie sich inhalt­lich (ins­be­son­de­re Donald Trump) nicht viel zu sagen hat­ten. Statt­des­sen wur­den mög­lichst schlag­kräf­ti­ge "Pun­ch­li­nes" gegen den jeweils ande­ren vor­ge­tra­gen oder alter­na­tiv die eige­ne Rede­zeit über­zo­gen, um den Geg­ner und eine mög­li­che Debat­te gleich­zei­tig zu schwächen.

Zudem schei­nen sich, gera­de im poli­ti­schen Wett­kampf in den USA, Men­schen fast schon blind und fana­tisch hin­ter Poli­ti­ker zu stel­len, ohne sich mit den tat­säch­li­chen poli­ti­schen Inhal­ten näher zu befas­sen. Was zählt, ist schließ­lich die "Cool­ness". Das Pen­dant hier­zu bil­den im Rap-​Kosmos Per­so­nen, sowohl Künst­ler als auch Fans, die sich ohne Wei­te­res blind hin­ter Rap­per stel­len, ohne dabei mög­li­cher­wei­se gerecht­fer­tig­te Kri­tik zu beach­ten. Das Ergeb­nis sind dann häu­fig "#TeamRapperXY"-Kommentare und State­ments, die Dis­kus­sio­nen, unab­hän­gig von der The­ma­tik, kei­nen Mehr­wert lie­fern. Die Ver­brei­tung sol­cher Hash­tags ist für Dis­kur­se nur sel­ten för­der­lich. Anstatt die eige­ne Hal­tung mit Argu­men­ten zu unter­mau­ern, wird sich ledig­lich kom­men­tar­los hin­ter eine Per­son gestellt. Hier­durch ent­ste­hen noch grö­ße­re Spal­tun­gen, die Debat­ten auf Augen­hö­he unmög­lich machen. Durch das teil­wei­se blin­de Bekennt­nis zu Ein­zel­per­so­nen wird bereits der Ansatz einer Dis­kus­si­on unter­bun­den, da mög­li­che Kri­tik­punk­te als grund­sätz­lich unge­recht­fer­tig­te Angrif­fe betrach­tet wer­den. Par­al­lel ver­ur­tei­len die­sel­ben Künst­ler und Fans häu­fig eine ent­ste­hen­de Can­cel Cul­tu­re. Dabei sind die­se gera­de mit ihren häu­fig argu­ment­lo­sen State­ments und Soli­da­ri­täts­be­kun­dun­gen zumeist für das Ent­ste­hen einer Can­cel Cul­tu­re mit­ver­ant­wort­lich, da auf Kri­tik nicht ein­ge­gan­gen wird.

"Es sind Frei­mau­rer, ich weiß das von Xavier Naidoo", ist eine Zei­le von Fato­ni aus dem Track "Trä­nen oder Pis­se", in wel­chem er sich kri­tisch und iro­nisch mit Ver­schwö­rungs­theo­rien aus­ein­an­der­setzt. Sät­ze wie "Ich weiß das von XY" oder "Das habe ich auf Face­book gele­sen" sind häu­fi­ger die Grund­la­ge für Social Media-​Diskussionen. Auch eini­ge Rapf­ans fol­gen die­ser Idee und schrei­ben als Ant­wort auf kri­ti­sche Stim­men "star­ke" State­ments unter YouTube-​Videos ihrer Hel­den. Kon­kre­te Argu­men­te sucht man häu­fig ver­geb­lich. Es geht ledig­lich dar­um, sich für eine Sei­te zu ent­schei­den und die­ser bei­zu­pflich­ten. Pro­ble­ma­tisch wird es, wenn anstel­le eines mög­li­chen argu­men­ta­ti­ven Dis­kur­ses mit der Gegen­sei­te eine sofor­ti­ge Grenz­li­nie gezo­gen wird. In sol­chen Momen­ten greift auch der Begriff der "Can­cel Cul­tu­re" zu kurz. Denn das "Can­celn" betrifft nicht nur eine Dis­kurs­par­tei oder Ein­zel­per­son, son­dern nahe­zu alle Teil­neh­mer des Dis­kur­ses. Der eigent­li­che Inhalt spielt dann kei­ne Rol­le mehr. Statt­des­sen lie­fern sich die Dis­kurs­par­tei­en einen Schlag­ab­tausch, ohne sich auf die ursprüng­li­chen The­ma­ti­ken zu bezie­hen. Das Ergeb­nis sind nicht sel­ten Kom­men­tar­spal­ten auf Face­book, Insta­gram oder You­Tube, wel­che in einem Sumpf aus inhalts­lee­ren Belei­di­gun­gen und State­ments ertrinken.

 

Social Media – Mobi­li­sie­rung von Fans

Noch vor eini­gen Jah­ren war die Nut­zung von Social Media-​Plattformen kei­ne All­täg­lich­keit. Doch mitt­ler­wei­le gehö­ren die bereits erwähn­ten Hass­kom­men­ta­re zum Tages­ge­schäft. Sie sind die extrems­te und offen­sicht­lichs­te Aus­prä­gung eines Phä­no­mens, das durch Social Media enorm gewach­sen ist. Kommt es zu Kri­tik an Künst­lern, dau­ert es meist kei­ne 24 Stun­den, bis sich schein­ba­re "Hardcore-​Fans" mobi­li­sie­ren und dem kri­ti­sier­ten Künst­ler Zuspruch geben, wäh­rend die Kom­men­tar­spal­ten unter Bei­trä­gen von Kri­ti­kern par­al­lel mit Aus­sa­gen wie "Du laberst Schei­ße" oder "Was für ein Schwach­sinn" geflu­tet wer­den. Die­se und ähn­li­che Sät­ze füh­ren zu einem sofor­ti­gen Ende einer mög­li­chen Dis­kus­si­on um häu­fig zurecht kri­ti­sier­te Inhal­te. Denn ein Satz wie "Du laberst Schei­ße" bezieht sich meis­tens nicht auf die inhalt­li­che Kri­tik, son­dern auf den gene­rel­len Umstand, dass Kri­tik an dem eige­nen Lieb­lings­künst­ler geübt wur­de – die­ser nimmt näm­lich für eini­ge Fans die Rol­le eines unan­tast­ba­ren Hel­den ein. Die­se Posi­ti­on ist sicher­lich hilf­reich in ver­schie­dens­ten Situa­tio­nen und Lebens­la­gen der Fans, da Musik bekannt­lich Kraft spen­det und dabei hilft, schwie­ri­ge Umstän­de zu durch­le­ben. Aber sie wird eben höchst pro­ble­ma­tisch, wenn im Zuge des­sen auch alle Aus­sa­gen des Künst­lers als grund­sätz­lich unan­fecht­bar betrach­tet wer­den. Selbst bei extrem frag­li­chen Aus­sa­gen wird sich teil­wei­se noch blind mit dem Künst­ler solidarisiert.

Aus etli­chen Stu­di­en geht mitt­ler­wei­le her­vor, dass gera­de Jugend­li­che und Per­so­nen aus sozi­al schwä­che­ren Milieus sehr emp­fäng­lich für extre­mis­ti­sches Gedan­ken­gut und dem damit eng ver­knüpf­ten Radi­ka­li­sie­rungs­pro­zess sind. Eben­je­ner Pro­zess ist des­halb so gefähr­lich, weil es im wei­te­ren Ver­lauf ste­tig schwie­ri­ger wird, die­sen umzu­keh­ren oder zu durch­bre­chen. Das liegt dar­an, dass die Welt mit Beginn des Radi­ka­li­sie­rungs­pro­zes­ses durch eine Bril­le mit einem extremistisch-​ideologischen Rah­men betrach­tet wird. Ist die­ser Rah­men erst mal vor­han­den, wird eine Gegen­ar­gu­men­ta­ti­on beson­ders schwie­rig, da die eige­ne ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung der sich radi­ka­li­sie­ren­den Jugend­li­chen eben als fest­ste­hend und unum­stöß­lich betrach­tet wird.

Ursäch­lich für die Radi­ka­li­sie­rungs­pro­zes­se sind hier zumeist die Dua­lis­men zwi­schen ver­schie­de­nen sozia­len Milieus, die sich aus der schon ewig bestehen­den sozia­len Ungleich­heit in der deut­schen Gesell­schaft erge­ben. Bei der Hin­wen­dung zu einer extre­men Ideo­lo­gie, um zum Bei­spiel die Ursa­chen und "Schul­di­gen" für die eige­ne sozia­le Stel­lung zu suchen, ver­fängt man sich schnell in einem Pro­zess der Deplu­ra­li­sie­rung. Dabei wer­den indi­vi­du­el­le Pro­ble­me schein­bar durch das Ver­fol­gen einer all­ge­mein­gül­ti­gen bezie­hungs­wei­se kol­lek­ti­ven Lösung lös­bar, vor­ge­ge­ben durch eine Ideo­lo­gie. Der ideo­lo­gi­sche Deu­tungs­rah­men beschränkt dann die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten der Indi­vi­du­en enorm. Zusätz­lich ent­steht ein Abgren­zungs­be­dürf­nis, wel­ches aus simp­len Kate­go­rien wie "Ihr" und "Wir" besteht. Nicht unwich­tig ist dabei auch das noch rela­tiv neue Feld rund um das Inter­net und Social Media – dies zei­gen zum Bei­spiel die jüngs­ten Gescheh­nis­se rund um Coro­na, Ver­schwö­rungs­theo­rien und Rechts­extre­mis­mus, die sich ihren Raum im Netz suchen und die­sen in kür­zes­ter Zeit aus­wei­ten. Wit­ze über Telegram-​Gruppen sind im ers­ten Moment zwar rela­tiv unter­halt­sam, doch soll­te nie ver­ges­sen wer­den, wie emp­fäng­lich vie­le Men­schen für schein­bar ein­fa­che Lösun­gen und die Ver­teu­fe­lung ande­rer Per­so­nen­grup­pen sind.

Mani­pu­la­ti­on: Wie uns sozia­le Medi­en beein­flus­sen | Quarks

 

Aber was hat das mit Rap zu tun?

Hier geht es nicht um einen direk­ten Ver­gleich oder eine Abs­trak­ti­on der Phä­no­me­ne, die in der Rap­sze­ne und beim Pro­zess der Radi­ka­li­sie­rung statt­fin­den. Trotz­dem gibt es eini­ge Bege­ben­hei­ten in bei­den Fel­dern, die sich sehr ähneln und die man beach­ten soll­te, um eine Dis­kus­si­ons­kul­tur inner­halb der HipHop-​Szene als auch der Gesell­schaft auf­recht­zu­er­hal­ten. Zunächst wäre hier die Alters­grup­pe, die über­wie­gend Rap­mu­sik hört, zu beach­ten, die der Per­so­nen­grup­pe, wel­che für extre­me Ideo­lo­gien emp­fäng­lich ist, nicht unähn­lich ist. Hier han­delt es sich über­wie­gend um jun­ge Per­so­nen bezie­hungs­wei­se kon­kret Min­der­jäh­ri­ge, die nicht sel­ten aus einem eher kom­pli­zier­ten sozia­len Umfeld stam­men. Die sozia­le Her­kunft ist häu­fig eine Gemein­sam­keit zwi­schen Rap­pern und Fans, wel­che wie­der­um eine Iden­ti­fi­ka­ti­on der Fans mit den Rap­pern enorm stärkt. Die­se Iden­ti­fi­ka­ti­ons­kraft wird in den letz­ten Jah­ren zusätz­lich durch das ste­ti­ge Zuneh­men der Social Media-​Aktivitäten der Künst­ler ver­grö­ßert. Gera­de in die­sem Bereich wird das Pro­blem der feh­len­den Dis­kus­si­ons­kul­tur deutlich.

Die Kri­tik wie auch das Lob von Künst­lern und ihrem Werk sind wich­tig und sinn­voll. Aber zu oft wird sich auf bereits vor­ge­fer­tig­te Aus­sa­gen ver­steift, ohne sich mit einem neu­en Song, einem State­ment oder einer Interview-​Antwort eines Künst­lers kon­kret zu beschäf­ti­gen. Es geht längst nicht mehr um die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Inhal­ten der Musik. Zumeist wer­den ledig­lich bereits bestehen­de Mei­nun­gen kopiert und repro­du­ziert – ein­fach, "um auch etwas zum The­ma gesagt zu haben". Die­se Hal­tung wird durch Social Media stark geför­dert. Vie­le Men­schen befas­sen sich nicht mehr oder kaum noch mit The­men oder Inhal­ten, son­dern affi­zie­ren die "Infor­ma­tio­nen" und damit ein­her­ge­hen­den Mei­nun­gen von ande­ren "Exper­ten" über Social Media. Anders lässt sich auch nicht erklä­ren, wie eini­ge Per­so­nen die Ein­stel­lung ver­tre­ten, dass die kom­pli­zier­tes­ten Sach­ver­hal­te inner­halb von 280 Zei­chen auf Twit­ter dis­ku­tiert und bewer­tet wer­den können.

Ein Mit­tel­weg scheint in die­sen Dis­kus­sio­nen zu oft schlicht unmög­lich. Rap­per wer­den glo­ri­fi­ziert oder ver­teu­felt, sie gehö­ren ent­we­der in den HipHop-​Himmel oder sofort voll­stän­dig gecan­celt. Doch auch die­ses Schwert ist zwei­schnei­dig. Denn eine Ver­bes­se­rung der Dis­kus­si­ons­kul­tur kann nur in Zusam­men­ar­beit mit den Prot­ago­nis­ten der Sze­ne funk­tio­nie­ren. Zu vie­le Künst­ler mei­den Inter­views fast voll­stän­dig und gehen nicht auf Kri­tik ein. Und falls doch, dann zumeist nicht auf inhalt­li­cher Ebe­ne, son­dern auf der "Ihr checkt mei­nen Film ein­fach nicht"-Schiene, die den Spalt zwi­schen bei­den  Par­tei­en noch zusätz­lich ver­grö­ßert. Auch hier zei­gen sich eini­ge Par­al­le­len zu extre­men Ideo­lo­gien. Jugend­li­che suchen zumeist Ori­en­tie­rung, gera­de in sozi­al schwä­che­ren Milieus. Wenn sich ein Rap­per als "hart", "mei­nungs­stark" und "stand­haft" dar­stellt, kann das vie­le Jugend­li­che schnell beein­dru­cken und ihnen auch Halt lie­fern. Pro­ble­ma­tisch wird es aber, wenn dem Künst­ler blind aus der Hand gefres­sen wird: Es spielt kei­ne Rol­le, was der Künst­ler erzählt. Wich­tig ist nur, dass er eben die Rol­le des Hel­den ein­nimmt und die­se ver­kör­pert. Blickt man in die Kom­men­tar­spal­ten von Instagram-​Beiträgen oder YouTube-​Videos etwa­iger Rap­per, lässt sich zu oft die Streit­macht der "uni­for­mier­ten Unin­for­mier­ten" erken­nen. Ein Bei­spiel hier­für sind die nahe­zu kon­text­lo­sen #FreeGzuz-​Bekundungen vie­ler Fans in den letz­ten Mona­ten, ohne sich mit den mehr als pro­ble­ma­ti­schen Akti­vi­tä­ten von Gzuz als Künst­ler, aber auch als Pri­vat­per­son aus­ein­an­der­zu­set­zen. Statt­des­sen wer­den kri­ti­sche Stim­men ver­teu­felt und offen­sicht­li­che Fehl­trit­te des Rap­pers rela­ti­viert oder kleingeredet.

Ins­ge­samt wird es also äußerst schwie­rig, eine pro­duk­ti­ve Dis­kus­si­ons­kul­tur inner­halb der HipHop-​Szene zu schaf­fen. Teil­wei­se erscheint es so, dass Künst­ler nur als schlecht oder gut bewer­tet wer­den kön­nen. Dass sowohl Künst­ler, Kunst­fi­gu­ren als auch die Per­so­nen dahin­ter aber auch mensch­li­che Stär­ken und Schwä­chen besit­zen, scheint für eini­ge Fans mitt­ler­wei­le unmög­lich, wodurch der Dis­kus­si­on ein­zel­ner Inhal­te lei­der die Grund­la­ge ent­zo­gen wird.

Auf der einen Sei­te müss­ten sich also Künst­ler, spe­zi­ell die beson­ders erfolg­rei­chen, wie­der häu­fi­ger Kri­tik und Inter­view­si­tua­tio­nen stel­len. Auf der ande­ren Sei­te dürf­te sich die Kri­tik nicht nur in Form von ver­teu­feln­den Mani­fes­ten gestal­ten. Hier soll­te der kritisch-​produktive Dis­kurs bei­der Par­tei­en nicht mit einem "Abkum­peln" ohne etwa­ige Dis­kus­sio­nen ver­wech­selt wer­den, wie es eini­gen HipHop-​Medien, teil­wei­se zurecht, vor­ge­wor­fen wird. Aktu­ell sieht es aller­dings zu oft so aus, dass sich eini­ge weni­ge Prot­ago­nis­ten an der selbst geschaf­fe­nen "Gren­ze" tref­fen, um sich ledig­lich Schlag­wor­te an den Kopf zu wer­fen. Dahin­ter ste­hen dann Fans und Hater, die die­se Schlag­wor­te auf­grei­fen, repro­du­zie­ren und wei­ter­ver­brei­ten, ohne den Dis­kurs inhalt­lich zu bereichern.

Eben­je­ne Dis­kurs­ab­leh­nung fin­det mitt­ler­wei­le gleich auf meh­re­ren Ebe­nen in der HipHop-​Welt statt, so auch auf der musi­ka­li­schen Ebe­ne. Hier ist die Dis­kurs­ver­mei­dung zwar nicht so dra­ma­tisch wie auf inhalt­li­cher oder spe­zi­ell poli­ti­scher Ebe­ne, aller­dings eben­falls unpro­duk­tiv. Denn die schein­bar gän­gi­ge Phi­lo­so­phie, zwar deut­sche Rap­mu­sik zu pro­du­zie­ren, aber die­se gleich­zei­tig abzu­leh­nen, führ­te in den letz­ten Jahr­zehn­ten zu einer zuneh­men­den Auf­spal­tung der eins­ti­gen deut­schen HipHop-​Szene. Und wer sich bereits auf sound­tech­ni­scher Ebe­ne gegen­sei­tig ablehnt, wird ver­mut­lich auch nicht auf inhalt­li­cher Ebe­ne in eine Dis­kus­si­on gehen. Dies führt zu einer wei­te­ren Fron­ten­ver­här­tung, die letzt­lich nicht nur den HipHop-​Kosmos betrifft, son­dern auch gesamt­ge­sell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen hat, spe­zi­ell bei Betrach­tung der über­wie­gend jun­gen Fan­ba­ses ver­schie­dens­ter Rapper.

(Alec Weber)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)