Ein Abend im Frühling 2019. Der Interviewtermin war einst für "vor dem Konzert" vereinbart worden. Es ist 23:05 Uhr und wir warten. Vor uns liegt noch eine nächtliche Autofahrt einmal quer durch die Republik, die Fahrerin wackelt ungeduldig mit den Zehen. Wir zählen die in der Schlange vor dem Merch-Stand wartenden Fans. Nur noch 23. Erstaunlich viele Frauen. Noch 23 Mal Hände schütteln, Fotos machen und quatschen. Wir warten.
Ungefähr 50 Minuten später ist es soweit: Disarstar hat seinen Job für heute getan und wir dürfen durch den roten Samtvorhang eintreten – ein kleiner Raum hinter der Bühne. Gefüllt mit Menschen, die der Künstler selbst "noch nie gesehen hat". Kurze Zeit später finden wir uns im Keller auf den Stufen eines vollgetaggten Treppenhauses wieder. Es ist kalt, es zieht und Menschen tragen Teile der Bühnendeko an uns vorbei zwei Stockwerke hoch in den Transporter. Aber: Wir haben unsere Ruhe, Disarstar darf rauchen und wir können endlich beginnen.
Ein Interview über das aktuelle Album "Bohemien", die Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft und die Antwort auf eine Frage des Schweizer Schriftstellers Max Frisch.
MZEE.com: Auf "Wie im Rausch", dem ersten Track deiner aktuellen Platte, rappst du über eine Vision, die du seit Jahren verfolgst. Wie genau sieht sie aus? Und hat sie sich in den letzten Jahren wirklich nicht verändert?
Disarstar: Meine Vision hat sich in den letzten Jahren tatsächlich kaum verändert. Sie wird aber mit der Zeit immer konkreter und geht auf. Ich glaube, dass ich mit "Bohemien" jetzt auf dem richtigen Weg bin. Ich liebe meine alten Alben und sie liegen mir sehr am Herzen, aber ich hab' mittlerweile ein viel besseres Verhältnis zum Musikmachen, meinen Weg und meinen Sound gefunden. Und eigentlich war genau das immer meine Vision …
MZEE.com: Woran liegt es, dass du dich jetzt musikalisch gefunden hast?
Disarstar: Ich war immer ein absoluter Einzelkämpfer. In den letzten Jahren habe ich Musik gemacht, indem ich einen Beat geschickt bekam und darauf geschrieben hab'. Kein einziges Wort war von irgendwem anders. Natürlich schreibe ich meine Texte heute immer noch selbst und die Ideen sind auch alle von mir. Aber ich sitze mittlerweile mit vier, fünf Leuten im Studio, von denen einer krasser ist als der andere. Und wir spielen uns die Bälle hin und her. Das entlastet mich enorm und ist viel reflektierter. Ich habe mich also auch in der Art, wie ich arbeite, gefunden. Ich sitze nicht mehr alleine zu Hause vor meinem Laptop, sondern bin umgeben von Leuten, die das genauso gut können wie ich.
MZEE.com: Beim letzten Interview vor einem Jahr hattest du mit deinem neuen Album schon angefangen und uns einen Track gezeigt …
Disarstar: (unterbricht) Das war "Riot" oder "Robocop", das weiß ich noch.
MZEE.com: Dann hat er sich damals noch ganz anders angehört – ich hab' ihn als völlig andere Musikrichtung im Kopf.
Disarstar: Die haben sich damals tatsächlich noch ganz anders angehört – es waren beides keine Live-Nummern. Aber dann hab' ich an die Tour gedacht und deswegen richtige Live-Nummern draus gemacht. Ich finde, dass sie auf Platte weniger funktionieren als die Originale. Aber live scheppern sie halt alles weg …
MZEE.com: Das heißt, es sind Tracks auf "Bohemien", die schon vor über einem Jahr entstanden sind?
Disarstar: Es sind Sachen auf der Platte, die schon vor anderthalb Jahren entstanden sind. Ich überlege schon lange, was und wie ich es anders machen kann. Dass es mit den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, so gut passt, ist auch nicht auf einmal vom Himmel gefallen – das hat alles seine Zeit gebraucht. Und ich habe schon das nächste Album in genau der gleichen Arbeitsweise angefangen. Ich hab' richtig Bock und das Gefühl, dass ich mit "Bohemien" eine Tür aufgemacht hab', durch die ich dann mit dem nächsten Album gehen kann.
MZEE.com: Die ersten Zeilen von "Bohemien" lauten: "Für ein sorgenfreies Leben ist noch ein bisschen was zu tun …" – Was genau muss denn passieren, damit du ein sorgenfreies Leben führen kannst?
Disarstar: Ich selbst muss mich auf jeden Fall verändern und massiv weiterentwickeln. Politisch gesehen ist die Zeile natürlich ein bisschen dumm und klingt etwas liberal. Aber zum einen möchte ich als Mensch noch reifen. Und zum anderen meine ich mit der Zeile neben anderen Themen auch, dass ich noch viel Geld verdienen will und muss, um mich einigen Kopfschmerzen zu entziehen. Denn "Geld macht nicht glücklich" sagen nur Leute, die Geld haben. Einer alleinerziehenden Mutter oder einem Rentner, der Pfand sammelt, brauchst du mit dem Spruch nicht kommen. Geld ist nun mal etwas, das viele unserer Sorgen beeinflusst. Bei Fragen wie: "Wo bin ich in 15 Jahren?" und "Wie bezahle ich meine Miete heute?" ist der monetäre Aspekt immer ein wesentlicher.
MZEE.com: Es gibt einen Track von dir, der es aus rechtlichen Gründen leider nicht auf dein Album geschafft hat. Auf "Wie es geht" sprichst du das Thema Homosexualität an, das in unserer Gesellschaft und vor allem innerhalb der deutschen Rapszene noch immer eine Art Tabu-Thema ist. Denkst du, dass ein offenkundig homosexuell lebender Rapper etwas an dieser Gegebenheit ändern könnte?
Disarstar: Ich hab' eher das Gefühl, dass heterosexuelle Männer mehr ausmachen können als homosexuelle. Und ich glaube, da müsste viel mehr von heterosexuellen kommen.
MZEE.com: Was meinst du, warum das Thema gerade in unserer Szene nach wie vor so ablehnend behandelt wird?
Disarstar: Weil 90 Prozent der Rapper in der Szene übertriebene Vollidioten sind.
MZEE.com: Wir haben auf Amazon eine Bewertung zu deinem Album gefunden, die erst sehr positiv über deine Musik spricht, um mit den Worten zu enden: "Und Respekt zu deinem Outing!" Gab es viele dieser Reaktionen nach der Veröffentlichung von "Wie es geht" und wie empfindest du das?
Disarstar: Ja, es gab auf jeden Fall viele solcher Reaktionen. Aber wir wussten vorher, dass man es so interpretieren kann … Und es ändert für mich nichts, wenn Leute denken, dass ich schwul sei. Das ist mir egal. Ich denke, wenn man sich ein bisschen mit mir auseinandersetzt, dann weiß man, dass ich damit anders umgehen und keinen Hehl daraus machen würde.
MZEE.com: Es gibt auf der Platte wieder sehr politische Tracks. Hast du denn musikalische Vorbilder, wenn es um politische Inhalte geht?
Disarstar: Politisch gesehen habe ich eigentlich gar keine Vorbilder – vor allem nicht im deutschsprachigen Raum. (überlegt) International fällt mir eigentlich auch nur Rage Against The Machine ein.
MZEE.com: Du hast mal angedeutet, dass du aufgrund deiner politischen Aussagen stellenweise sehr negative Reaktionen erhältst. Hat sich das mit den neuen Tracks im letzten Jahr noch mal verändert?
Disarstar: Ich kann gar nicht sagen, ob es mehr oder weniger geworden ist, weil es total an mir vorbeigeht. Ich werde irgendwie immer besser darin, mit Kritik umzugehen. (grinst) Ich bin tendenziell ein unsicherer Typ mit schlechtem Selbstwertgefühl – das hört man ja auch in meiner Musik. Und das stabilisiert sich einfach von Jahr zu Jahr. Ich glaube, das ist einfach der Lauf der Dinge. Ich bin mittlerweile 25, fühle mich viel gestandener und bin mir mehr im Klaren darüber, wer ich bin und wer ich nicht bin.
MZEE.com: Vor einiger Zeit hast du eine lange Story auf Instagram mit deinen Gedanken zum Thema Polizei veröffentlicht. Hast du die Abstimmung aus Bern in der Schweiz mitbekommen, bei der es um das neue Polizeigesetz ging?
Disarstar: Nein, worum ging es da genau?
MZEE.com: Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass der Veranstalter einer Demonstration zur Kasse gebeten werden kann, wenn es zu Beschädigungen und Gewalt kommt und nicht mehr der Staat dafür aufkommen muss. Außerdem darf die Polizei ohne hinreichenden Tatverdacht Personen bis zu vier Wochen lang überwachen und ist zu keinerlei Meldung oder Rechtfertigung verpflichtet.
Disarstar: Das ist megakrass – schockiert mich aber nicht. Die Bullen sind halt die Leibgarde der Bonzen. In jedem kapitalistischen Land sind die Herrschenden reich und machen die Gesetze. Die Polizei wiederum setzt die Gesetze durch, die die Herrschenden machen. Und der Kapitalismus hat zwei solide Möglichkeiten, Krisen zu bewältigen: einmal mit der Polizei und einmal mit Rassismus. Entweder der Flüchtling ist an allem Schuld und wenn das nicht mehr zieht, kloppt man die Demo halt kaputt.
MZEE.com: Über Dreiviertel der Bürger haben für dieses Gesetz gestimmt. Und das, obwohl Bern einer der Hauptaustragungsorte für Demonstrationen in der Schweiz ist – gerade auch durch die "Reitschule", die vergleichbar mit der "Roten Flora" in Hamburg ist. Was denkst du, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte?
Disarstar: Ich gehe davon aus, dass die Medien über Wochen und Monate darauf hingearbeitet haben, das Ding durchzubringen. Da sind die Leute irgendwann krass indoktriniert und rennen jubelnd in eine Kreissäge, weil sie so blöd sind.
MZEE.com: Glaubst du, dass das auch in Deutschland passieren könnte?
Disarstar: Das passiert ja schon in Deutschland. Zum Beispiel mit dem Polizeigesetz, das in Bayern verabschiedet wurde. Die Zügel werden stramm gezogen. Davon sind wir in Deutschland nicht weit entfernt. Das klingt verschwörungstheoretisch – aber dem Ganzen spielt Rassismus natürlich übertrieben in die Karten. Rassismus ist etwas, womit man das alles geil argumentieren kann. Dieses "Die Polizei ist gut"-Denken kriegt man von Tag eins an. Und die Leute, die nie eine andere Perspektive erhalten, verinnerlichen das irgendwann. So stellt man gar nicht mehr in Frage, dass die Polizei auch etwas Schlechtes sein könnte. Das hat dann viel mit Vertrauen zu tun – weil man der Polizei halt einfach irgendwie vertraut.
MZEE.com: Wir haben dir ein Bild des bekannten britischen Streetart-Künstlers Banksy mitgebracht, dessen Titel wir dir bewusst vorenthalten. Wir wüssten gerne deine Meinung dazu – was siehst du und wie interpretierst du es?
Disarstar: (hält das Bild in der Hand) Banksy ist auf jeden Fall krass. (überlegt) Das Bild lässt natürlich viel Interpretationsspielraum zu … Ein Emoji ist ja etwas derbe Unpersönliches. Aber mit dem Grinsen würde ich es so interpretieren, dass viele Polizisten auch Idealisten sind, die denken, sie würden die Welt verbessern und dass sie gekommen sind, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
MZEE.com: Es gibt einen Text dazu, der lautet: "The face of the riot policemen is hidden behind an acid-bright yellow smiley face. He doesn't have ears to hear the voice of the crowd and he is facing their problems with a smile. Banksy wants us to listen to the message of the angry crowd and wants us to think about the mask we are all wearing in this capitalistic system." – Was denkst du darüber?
Disarstar: Wenn zum Beispiel im Demonstrationskontext auf Polizisten mit Steinen geschmissen wird, argumentieren die Bürgerlichen immer mit "Das sind ja auch nur Menschen" oder "Die machen ja nur ihren Job". Aber – und das sollte der Polizist auch mal kritisch hinterfragen – es ist ja so, dass sie sich krass entindividualiseren und depersonalisieren, indem sie alle das Gleiche anhaben. Dass du das Gesicht kaum siehst. Dass du die Ohren nicht siehst. Wenn es knallt, wollen Polizisten als Menschen wahrgenommen werden, aber sie sind als solche gar nicht richtig erkennbar.
MZEE.com: "Die machen ja nur ihren Job" kann kein Argument sein. Den Job haben sie sich schließlich selber ausgesucht.
Disarstar: Es gab auf dem Rathausmarkt mal eine Flüchtlingsdemo, die von zwei Hundertschaften geräumt werden sollte und die das dann verweigert haben … Natürlich gibt es auch gute Personen hinter den Polizisten. Wenn man das aus einer übergeordneten Adorno-Perspektive betrachtet – das heißt, mit richtiger Distanz, ganz unemotional und rational – ist der Polizist im Grunde genommen ein Sohn der Gesellschaft, der diese Überzeugungen implementiert bekommt und genau die gleichen Existenz- und monetären Ängste hat wie wir. Vielleicht hat er einfach Bock, Beamter zu werden, weil es ein sicherer Job ist. Und hat dabei dann noch das Gefühl, er würde etwas Gutes tun und die Welt retten. Natürlich hat er auch einen gewissen Spielraum. Ich glaube, das Ganze hat etwas mit Exotisieren zu tun. Da spricht auch Arendt von: Wenn du, egal wo und in welchem Kontext, aus der Masse herausstichst, gegen den Strom schwimmst oder Teil einer Minderheit bist, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du assimilierst einfach alles, was um dich herum ist – und das geht bei dem Polizisten jetzt nicht – oder du exotisierst dich halt krass. Ich glaube, dass die Polizei damit auch so umgeht, dass sie da wieder Marketing draus schlägt: "Wir haben auch Polizisten, die das voll kritisch hinterfragen und solche Sachen nicht machen." Es geht aber nicht um den einzelnen Polizisten – der Polizist ist ja nur ein Symptom. Wir leben in einem per se ungerechten, grausamen System, in dem die Polizei eine ganz wichtige Rolle bei der Erhaltung dessen spielt. Das ist das eigentliche Problem. Und wenn ich Bullen auf so eine Art und Weise kritisiere, dann geht's dabei eigentlich nur darum, einen dialektischen Prozess voranzutreiben und die Leute zum Nachdenken anzuregen. Man muss dazu auch sagen: Ohne Polizisten in diesem kapitalistischen System, wie es das jetzt ist, gäbe es Mord und Totschlag. Man müsste die Gesellschaft grundlegend ändern, um die Polizei überhaupt abschaffen zu können. Aber auch das nimmt die Polizei nicht aus der Kritik.
MZEE.com: Wir haben gehört, dass es auch AfD-Wähler gibt, die deine Tracks hören. Wie empfindest du das?
Disarstar: Ich freue mich darüber, weil ich natürlich hoffe, dass ich sie über einen längeren Zeitraum erschüttern kann. Einerseits zeigt es mir, wie dumm diese Leute zum Teil sind. Andererseits tun sie mir aber auch übertrieben leid. Es spricht eigentlich nur dafür, wie verloren sie im Leben sind, wie wenig Profil und Identität sie haben und wie unsicher sie sich in ihrer Person sind.
MZEE.com: Zu guter Letzt haben wir noch eine Frage aus den "Fragebögen" von Max Frisch für dich dabei. Sie lautet: "Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?"
Disarstar: Ich find' mich entweder viel besser als alle anderen oder viel schlechter. Ich hab' nie eine realistische Selbsteinschätzung und deswegen ist meine Selbstkritik auch voll für'n Arsch. (überlegt) Ich wünschte, meine Selbstkritik wäre liebevoller … Ich hätte gerne einen liebevolleren Umgang mit mir.
MZEE.com: Bezieht sich das auf die Zeiten, in denen du dich schlechter als die anderen findest?
Disarstar: Nein, wenn ich mich besser finde, resultiert daraus ja wieder, dass ich mich irgendwann wieder schlechter finde: "Warum komm' ich auf Normalität nicht klar?" (Zitat seines aktuellen Albums, Anm. d. Red.) Ich bin wie ein Pendel, das immer übers Ziel hinausschießt. Jetzt hab' ich drei Monate lang keinen Schluck Alkohol getrunken. Davor gab es Wochen, in denen ich völlig ausgerastet bin – und hatte danach übertriebenen Selbsthass. Dann hab' ich mir gesagt, ich mach' das gar nicht mehr und das ziehe ich jetzt drei oder sechs Monate, vielleicht ein ganzes Jahr durch. Ich weiß aber jetzt schon: Es wird der Tag kommen, an dem ich wieder völlig ausraste.
MZEE.com: Das heißt, deine Selbstkritik überzeugt dich nicht?
Disarstar: Nein, die überzeugt mich wirklich gar nicht.
MZEE.com: Möchtest du zum Abschluss noch etwas Positives sagen?
Disarstar: Mein Leben ist schön gerade und es war lange nicht schön. Ich bin froh, wie es im Moment ist. Ich weiß aber auch, dass es nicht immer so bleiben und auch wieder andere Phasen geben wird. It's all about the Kontraste. Ich mein', es ist gerade nur so geil, weil es davor so scheiße war. Und es wird auch wieder scheiße werden – einfach, weil es gerade so geil ist …
(Florence Bader, Laila Drewes und Marie Wallmann)
(Fotos: Maximilian König)