Ein Hauptmotiv von Rap war schon immer, Geschichten aus der eigenen Heimat zu erzählen. Dies gilt auch für unsere heutigen Gesprächspartner Albert und Pablo. Bei den beiden Mitte 20-Jährigen geht es allerdings nicht um das Frankfurter Bahnhofsviertel, St. Pauli oder Berlin-Neukölln, sondern um die Provinz Mecklenburg-Vorpommerns – irgendwo zwischen Demmin und Jarmen im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Gemeinsam bilden sie die Crew Hinterlandgang und erzählen von Perspektivlosigkeit, grauen Fassaden und dem Lebensgefühl im ostdeutschen Hinterland. Von Zeit zu Zeit erweitern Albert und Pablo diesen Blickwinkel allerdings und widmen sich einer gesellschaftlichen Debatte, die älter ist als sie selbst: der Diskussion über die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern und die nach wie vor bestehende Mauer im Kopf vieler Menschen. Dies geschieht beispielsweise auf dem Song "3. Oktober" von ihrem 2022 erschienenen Debütalbum "Maschendraht", auf dem Albert rappt: "Resignierte Eltern mit einem Trauma aus der Wendezeit erklären ihren Kindern, dass der größte Feind der Westen bleibt." Doch wie sehen das besagte Kinder? Wir sprachen mit Pablo und Albert darüber, wie sie als Teil der jungen Generation, die lange nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland aufwuchs, auf die gesellschaftliche Debatte um Ost und West, die darin enthaltene Rolle von Klischees und Rapmusik sowie auf das spezielle Ostbewusstsein ihrer Generation blicken.
MZEE.com: Natürlich gibt es nicht "das eine Ostdeutschland", sondern viele Regionen mit verschiedenen Menschen, Geschichten und Generationen. Ihr seid beide Mitte 20 und habt eine junge Perspektive auf eure Region in Mecklenburg-Vorpommern. Was mögt ihr an der Gegend, aus der ihr kommt?
Albert: Ich mag gerne, dass hier wenig los ist. Das klingt paradox, aber dadurch haben wir die Freiheit, unsere eigenen Sachen aufzuziehen. Dieses Jahr haben wir beispielsweise ein Open Air auf der Waldbühne in Demmin veranstaltet, bei dem neben uns Zugezogen Maskulin und weitere Künstler aufgetreten sind. Das ist eine alte Bühne aus DDR-Zeiten, die für über 2 000 Menschen ausgelegt ist und damit für uns eigentlich viel zu groß ist. Wir konnten sie inklusive Anlagen für 200 € von der Stadt mieten. Ich selbst wohne in einem Dorf und finde es gut, dass man hier so ruhig und unaufgeregt lebt. Zurzeit sind wir recht viel in Deutschland unterwegs, morgen spielen wir beispielsweise ein Konzert in Dortmund. Das macht Spaß, aber ich freue mich schon darauf, nach Hause zu kommen und in Jogginghose und Schlappen durch das Dorf zu laufen, weil das hier keine Sau interessiert. Man hört oft, dass Leute Städte wie Berlin so geil finden, weil man dort angeblich rumlaufen kann, wie man will. Bei mir ist das genau andersherum. In Berlin habe ich das Gefühl, es interessiert mich und jeden anderen total, wie die Menschen aussehen. In Kleinstädten wie Demmin ist es dahingegen wirklich egal. Und ich mag die Nähe zum Meer.
Pablo: Den Punkt mit den Freiräumen kann ich bestätigen. Es ist cool, Dinge wie diese Bühne für unsere Musik nutzen zu können. Ich würde sagen, das Thema Freiräume spiegelte sich schon in der Kindheit wider. Ich wohne zwar mittlerweile in Greifswald und nicht mehr auf dem Dorf, aber ich glaube, als Kind hat es mir gutgetan, dass hier nicht alles voller Menschen und Autos war und man in Wäldern und auf Wiesen spielen konnte. Ich mag es auch, mal im Trubel der Großstadt zu sein, wo ständig etwas Neues passiert und sich die Welt um einen herum immer wieder verändert. Aber das Hinterland strahlt eine gewisse Ruhe und Beständigkeit aus und ich denke, dass das die Menschen dort beeinflusst. Vielleicht sind deshalb die Leute auf dem Dorf oft ein bisschen konservativer, aber diese Beständigkeit ist auf jeden Fall etwas, das ich genießen kann.
MZEE.com: Habt ihr auch in Zukunft vor, diese Freiräume für weitere Events wie euer Open Air "100 Tage Sommer" zu nutzen oder sogar Pläne, die über die Musik hinausgehen?
Albert: Wir haben auf jeden Fall Bock, dieses Open Air jedes Jahr zu veranstalten und dort mit größeren Acts so richtig auf die Kacke zu hauen. Ansonsten gibt es seit Jahren die Träumerei, einen Jugendtreff in Demmin zu gründen. Einen Treff, wo junge Leute wirklich gerne hinkommen, weil es geile Angebote und keinen Bullshit gibt.
Pablo: Es geht darum, hier Dinge auf die Beine zu stellen. Gewissermaßen ist das ja die Geschichte, die wir als Hinterlandgang in unserer Musik erzählen möchten. Viele gehen nach Berlin oder Leipzig und versuchen da ihr Glück. Wir machen dafür halt etwas in der Provinz. Das Open Air soll ein langfristiges Projekt sein, das mit uns wächst und an dem auch andere Leute aus der Gegend mitwirken und sich verwirklichen können.
Albert: Wir achten beispielsweise auch darauf, die Ticketpreise so günstig wie möglich zu halten, damit alle jungen Leute kommen können. Für mich als 15-Jähriger wäre es damals einfach das Krasseste gewesen, wenn Zugezogen Maskulin in Demmin aufgetreten wäre. Auch für das nächste Jahr haben wir einen besonderen Act in der Pipeline. Wir wollen damit außerdem ein Statement setzen, damit die Leute von außen fragen: "Krass, wieso kommt dieser große Act nach Demmin?"
MZEE.com: Ihr seid beide nach der Wende in einem vereinten Deutschland geboren. Könnt ihr euch an einen Moment in eurem Leben erinnern, an dem euer Ostbewusstsein geweckt wurde und ihr gemerkt habt, dass es bis heute in den Köpfen der Menschen so etwas wie Ost- und Westdeutschland gibt?
Pablo: Als Kind hat das für mich überhaupt keine Rolle gespielt. Ich hatte nie das Gefühl, dass Ostdeutschland in der Schulzeit besonders ausgeprägt behandelt wurde. Natürlich hat man beispielsweise mal über die Stasi geredet, aber mir war nie bewusst, dass das bei vielen Menschen, die einen umgeben, bis heute prägend und ein Stück familiärer Geschichte ist. Den einen Moment, an dem ich dachte "Ok, ich fühle mich jetzt ostdeutsch", hatte ich als Kind also nicht. Aber in den vergangenen Jahren, als meine Freunde und ich älter wurden, ist auf jeden Fall so ein Ostbewusstsein gewachsen. Ich finde, dass das bei unserer Generation sogar recht ausgeprägt und irgendwie ein Riesending ist. Dabei geht es dann gar nicht so sehr um die Aufarbeitung der Geschichte. Viele feiern diese "Ostalgie", also symbolische Dinge wie Simson-Mopeds oder Plattenbauten. Das unterscheidet uns vielleicht von der Generation unserer Eltern. Mir wurde mal erzählt, dass nach der Wende viele Menschen ihre Trabbis einfach an den Straßenrand gestellt haben, weil sie keinen Bock mehr darauf hatten. Nach dem Motto: "Das soll jetzt alles weg, jetzt kommt eine neue Zeit." Von der Generation unserer Eltern, auch bei mir, wurden diese Themen deshalb oft gar nicht mehr so intensiv behandelt. Die Jugend scheint sich diese Dinge selbst zu angeln.
Albert: Bei mir war es anders. Es gab diesen einen Moment, an dem ich gecheckt habe: "Ok, ich bin Ostdeutscher." Das war in meiner Ausbildung zum Zimmerer. Gegen Ende des ersten Lehrjahres kam ein Vertreter von der Gewerkschaft IG Bau in die Berufsschule. Er hat uns erklärt, dass es auf dem Bau in Deutschland zwei verschiedene Lohngruppen gibt, eine für nicht-ausgelernte Bauhelfer und eine für Gesellen. Das galt zumindest in Westdeutschland. In den neuen Bundesländern, also in Ostdeutschland, sagte er, sind die Firmen nur verpflichtet, Gesellen mindestens den Stundenlohn für ungelernte Bauhelfer zu bezahlen. Für unsere ganze Berufsschulklasse war das unfassbar. Wir haben uns gefragt, wofür wir überhaupt diese Ausbildung machen, wenn wir theoretisch ohne Abschluss auf den Bau gehen könnten und als Bauhelfer das Gleiche verdienen würden. Das war der Moment, an dem ich gemerkt habe: "Krass, nur weil ich hier lebe, bekomme ich für die gleiche Leistung festgelegt drei bis vier Euro weniger." Und das Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung! Das wurde dann so begründet, dass in den neuen Bundesländern die Wirtschaftskraft geringer war und deshalb nicht mehr Lohn vorgesehen war. Was auch immer der diffuse Begriff Wirtschaftskraft überhaupt bedeutet. Für mich hieß das damals: "Ihr verdient halt weniger Geld, weil alle bei euch weniger Geld verdienen."
MZEE.com: Die Journalistin Nhi Le schilderte Ende November auf einer Podiumsdiskussion in Leipzig die Beobachtung, dass junge Menschen, die die DDR gar nicht mehr miterlebt haben, sich stärker als Ostdeutsche zu identifizieren scheinen als ältere Generationen. Pablo hat gerade von der gleichen Beobachtung erzählt. Könnt ihr euch erklären, woran das liegt?
Pablo: Nicht wirklich. Vielleicht picken sich junge Leute einfach die geilen Sachen heraus. Ich habe letztens einen Typen getroffen, der ungefähr zehn alte Motorräder von seinem Vater restauriert hat, weil er sie geil fand und nicht, weil er damit ostdeutsche Geschichte aufarbeiten wollte oder so. Ich glaube, der Unterschied ist, dass unsere Generation viel weniger Berührungsängste mit diesen Dingen hat als unsere Eltern. Für die ist das alles politisch aufgeladen. Da hieß es nach dem Mauerfall bei jeder kleinen Annäherung zum Osten: "Aha, du bekennst dich also zum Unrechtsstaat? Du weißt aber schon, dass die DDR eine Diktatur war?" In meiner Generation gibt es dahingegen an vielen Stellen deutlich mehr Leichtigkeit. Das wird meiner Meinung nach beispielsweise in dem Buch "Nullerjahre" von Hendrik Bolz oder dem Film "Alle reden übers Wetter" deutlich.
MZEE.com: Woher kommt diese Leichtigkeit in deiner Generation?
Pablo: Ich denke, für unsere geringen Berührungsängste sorgt die Tatsache, dass die Generation unserer Eltern so ungern über ihre Altlasten spricht. Dabei gibt es schon Dinge, über die man hätte reden müssen. Was ist denn in den einzelnen Familien damals so passiert? Was macht es mit einer Familie, wenn beispielsweise der Vater Stasi-Beamter war? Welche Vorstellungen verfolgen euch seitdem noch immer? Bei Hendrik Bolz geht es zum Beispiel viel um diese "Ein Junge weint nicht"-Einstellung. Das sind Themen, die unsere Eltern vielleicht noch immer prägen und über die man hätte sprechen müssen.
Albert: Aber ich glaube, dass es da eine Entwicklung gibt. Gerade ist Ostdeutschland ein häufiges Thema, beispielsweise weil die AfD in Thüringen, Sachsen oder auch hier in Mecklenburg-Vorpommern so extrem groß und erfolgreich ist. Alle fragen sich seitdem: "Was ist da eigentlich los?" Aber faktisch wurde sich diese Frage davor 30 Jahre lang nicht gestellt. 30 Jahre lang hieß es: "Ach, der Osten ist Vergangenheit. Lasst uns jetzt in die Zukunft blicken und bloß nicht mehr darüber reden." Ich glaube, genau das bricht gerade auf. Jetzt haben Menschen das Bedürfnis, darüber zu reden, weil ihnen vorher gar nicht die Zeit gelassen wurde, alles zu verarbeiten. Die Menschen in der DDR sind ja 40 Jahre lang komplett anders aufgewachsen als in der BRD. Sie hatten andere staatlich oder familiär vorgelebte Ideale, ein anderes System und andere Zukunftsaussichten. Es gibt also so viel Andersartigkeit, die 30 Jahre lang nicht beleuchtet wurde. Dabei muss man sie beleuchten, wenn man verstehen will, was jetzt gerade los ist.
MZEE.com: Eine Art, auf die das gemacht wird, ist Musik. Gerade erst releasten Marteria, Silbermond und FiNCH den Song "Wendekind", der vom Aufwachsen und dem Lebensgefühl in Ostdeutschland erzählt. Inwiefern könnt ihr euch darin wiederfinden und was bedeutet euch so eine Kollabo?
Pablo: Ich finde es auf jeden Fall spannend. Ich würde nicht behaupten, dass der Song "Wendekind" viel zu einer Debatte beiträgt, aber das ist an sich ja nichts Schlimmes. In diesem Beispiel ist es ein schmaler Grat zwischen wichtigen Themen und Klischees. Ist es wieder nur die alte Story von Alkohol, Perspektivlosigkeit und Plattenbauten oder schafft man es, etwas darüber Hinausgehendes zu erzählen? Im selben Spagat befinden wir uns mit unserer eigenen Musik. Die große Kunst für mich ist es, die Themen anzusprechen, die eine große Rolle spielen, ohne in diese ausgelutschten Bilder zurückzufallen, die man ewig lange vom Osten gesehen hat. Man muss aufpassen, dass man nicht irgendwann dahin kommt zu erzählen, als Ostdeutscher fühle man sich in Deutschland wie Afroamerikaner in den USA oder so. Klar ist das ein wichtiges Thema, das Deutschland seit Jahren prägt und das auch in Zukunft tun wird, aber man muss vorsichtig sein, den Kern der Sache nicht zu vergessen.
Albert: Wir haben uns beispielsweise vor keinem Song gesagt: "So, jetzt machen wir ein Lied über Ostdeutschland." Auch nicht bei dem Song "3. Oktober", obwohl man das vermuten könnte. Da habe ich die erste Zeile geschrieben und daraus hat sich dann die gesamte Strophe entwickelt. Das kam, weil es ein inneres und persönliches Bedürfnis war, darüber zu sprechen. Um auf den Song "Wendekind" zurückzukommen: Ich denke, viele finden ihn cool, aber mich persönlich berührt er nicht so sehr. Vielleicht, weil er in einer anderen Generation stattfindet, aber auch, weil er nicht so unmittelbar, sondern ein bisschen überlegter entstanden ist. Womöglich ist das aber auch gar nicht so, darüber möchte ich mir kein Urteil erlauben. Ich finde es einfach nur geil, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas organisch und unüberlegt entsteht. Deshalb haben Pablo und ich gar keinen Bock darauf, Ostdeutschland zu sehr zu unserem Aushängeschild zu machen, nur weil es gerade ein so gefragtes Thema ist. Wenn wir das Bedürfnis haben, darüber zu rappen, dann passiert das und wird manchmal in kleinen sprachlichen Bildern und sehr präsent, wie auf "3. Oktober", in unsere Musik einfließen.
MZEE.com: Wie ihr bereits beschrieben habt, gehen Künstler:innen ganz verschieden mit dem Thema um. Felix Kummer sagt, ihm geht die Selbstermächtigung teilweise zu weit. Er empfindet die "Ost-Ost-Ostdeutschland"-Attitüde als störend. Bei Artists wie FiNCH ist genau das häufig der elementare Bestandteil ihrer Musik. Wie viel Ost-Selbstbewusstsein empfindet ihr als gesund?
Pablo: Ich finde diese Attitüde oft ein bisschen befremdlich. Ich war auch mal in Neubrandenburg auf einem Konzert von FiNCH, wo 5 000 Leute das aus voller Kehle gebrüllt haben. Das war schon verrückt. Es ist natürlich in gewisser Weise hängen geblieben, andererseits ertappe ich mich selbst manchmal dabei. Da geht es viel um das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein und ein bisschen den Harten zu markieren. Teilweise finde ich das aber etwas zu heftig. Wenn Leute auf unseren Konzerten die ganze Zeit "Ost-Ost-Ostdeutschland" grölen würden, fände ich das komisch.
Albert: Das ist ein ähnliches Phänomen wie in Fußballstadien und man darf es nicht überinterpretieren. Ich selbst laufe zwar nicht rum und rufe das, aber im Stadion brüllen die Fans ja auch die ganze Zeit den Namen der Stadt und der Region. In diesem Schlachtruf steckt so viel Energie drin, weil er so primitiv und einfach ist. Jeder kann das mitgrölen. Natürlich finden das manche befremdlich. Ich glaube auch, dass das ausarten kann und richtig schlimme Sachen passieren können, wenn ein Mob so eine Gruppendynamik entwickelt. In den meisten Situationen geht es aber um diese geile, dumme Stimmung. Ich war mal auf einem Konzert der 102 BOYZ in Rostock. Die haben diese eine Line, in der sie "Ostdeutschland asozial" rufen. Danach haben alle Leute in der Halle "Ost-Ost-Ostdeutschland" gebrüllt und ich habe mitgemacht. Das war in dem Moment befreiend und irgendwie geil, aber für mich hat das keine weiteren Ebenen beinhaltet. Es war nur dieser stumpfe Moment, ohne darüber nachzudenken, ob das jetzt hardcore patriotisch ist oder so.
Pablo: Ich kann beide Blickweisen darauf verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass das ein geiles Gruppengefühl ist, und gleichzeitig, dass es, von außen betrachtet, komisch rüberkommt.
Albert: Was vielleicht auch noch ein Punkt sein könnte, ist, dass es für Generationen vor uns nie cool war, aus Ostdeutschland zu kommen. Gerade aus der Generation Hendrik Bolz sind fast alle weggezogen. Bei uns verspüre ich eher einen Stimmungwechsel. Auf einmal stehen tausende junge Menschen auf einem Konzert und rufen "Ostdeutschland!". Vielleicht schwappt das von einem Extrem ins andere. Vorher schämten sich die Leute dafür, wo sie herkamen, und jetzt schwingt das Pendel in die andere Richtung.
MZEE.com: Die Mauer ist vor 32 Jahren gefallen. Ebenso lang führt man in Deutschland eine gesellschaftliche Debatte über Ost und West. Welches Bewusstsein brauchen junge Generationen in Ostdeutschland eurer Meinung nach in dieser Debatte?
Pablo: Dazu muss man einen Schritt zurücktreten und sich fragen: "Wo stehen wir?" Klar ist, dass es lange Zeit enorme Lücken zwischen Ost und West gab. Auch heute gibt es, wie teilweise schon gesagt, Probleme wie niedrigere Löhne, weniger Kultur oder geringere Renten. Ich glaube aber, man muss aufpassen, nicht zu sehr in diese Underdog-Romantik zu fallen. Sonst verlieren die wirklichen Probleme an Bedeutung. Wir wurden ja nicht vom Westen versklavt oder so was. Man sollte sich bewusst machen, welche Dinge wirklich wichtig für die Debatte sind. Auch in der Corona-Pandemie kam so eine Opferrolle auf. Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, konnten in manchen Läden nicht mehr einkaufen und haben dann Vergleiche mit der Diskriminierung von Juden im Dritten Reich angestellt. Da sieht man, wie eine Opferrolle den Bezug der Menschen zur Realität verzerren kann.
Albert: Das stimmt. Ich finde aber, dass dieses Denken gegenüber dem Westen in unserer Generation gar nicht mehr so präsent ist. Bei älteren Generationen, wie der meiner Eltern, ist das schon wieder anders. Da gilt "Wessi" noch häufig als Schimpfwort und es wird über Westdeutsche hergezogen. Bei dieser Generation schwingt eben der Ausverkauf der DDR nach der Wende mit. Das ist uns heutzutage schon egal, aber diese Menschen sehen sich zu einem gewissen Grad vielleicht zurecht als Opfer. Es gibt schließlich Zahlen, die beispielsweise belegen, dass ein Großteil der ostdeutschen Immobilien nach der Wende von westdeutschen Investoren aufgekauft wurde. Nur sehr geringe Anteile sind in ostdeutscher Hand geblieben. "Ostdeutsche Hand" klingt jetzt nach dämlichem Scheiß, aber wenn man sich mal rational damit beschäftigt, wird man erkennen, dass der kapitalistische Markt eine Wiedervereinigung von heute auf morgen einfach nicht zugelassen hat. Es gibt noch andere Beispiele wie die Chemiefirmen, die von westdeutschen Firmen aufgekauft und sofort dichtgemacht wurden, damit keine Konkurrenz entstehen konnte. Das ist ein Mechanismus, der im Kapitalismus so funktioniert. Und Fakt ist doch, dass die Bürger der DDR darauf nicht vorbereitet waren. Die wussten doch gar nicht, wie kapitalistische Mechanismen funktionieren. Wenn man also aufarbeiten will, warum ältere Generationen sich in einer Opferrolle sehen, muss man verstehen, dass sie wirklich besonderen Situationen ausgesetzt waren. Das hat nichts mit dem "Bösen Westen" zu tun, aber das Gefühl, etwas aufgedrückt bekommen zu haben, ist bei manchen Menschen immer noch omnipräsent.
Pablo: Das ist richtig. Eine Schwierigkeit ist der emotionale Blick auf das Thema Opferrolle. Natürlich wäre es richtig, sich beispielsweise bei politischen Entscheidungen einfach rational anzusehen, wie hoch Lohnunterschiede ausfallen, und diese Probleme dann zu lösen. Aber der springende Punkt ist: Es ist für viele eben auch ein emotionales Thema. Die Beispiele, die Albert anspricht, klingen so banal. Firmen wurden halt von anderen Firmen aufgekauft. Aber sie waren nicht banal. Das waren ja keine Firmen ohne Gesicht, sondern dahinter standen Menschen. Und auf einmal kamen andere Menschen aus dem Westen, wurden plötzlich die Chefs und trafen die Entscheidungen. Wenn man diese emotionale Ebene mitdenkt, kann man verstehen, dass da eine Kränkung und das Gefühl, das einem etwas übergestülpt wurde, vorherrschen.
MZEE.com: Findet ihr denn, dass die Debatte um Ost- und Westdeutschland generell in die richtige Richtung läuft, oder stört euch etwas daran?
Albert: Eine Sache, die mich stört, ist dieses generelle Medienphänomen der Suche nach Schlagzeilen. Das ist nicht spezifisch auf Ostdeutschland bezogen, aber gerade hier hatte ich in den letzten Jahren das Gefühl, dass gerne extreme Negativschlagzeilen gesucht wurden, weil diese gute Klickzahlen versprechen. Wenn Ostdeutschland im Fernsehen zu sehen war, dann meistens wegen Pegida oder so. Das geht jetzt nicht gegen die Medien, die funktionieren nun mal so. Aber dadurch ist eben ein sehr einheitliches Bild entstanden. Wenn man Dinge aufarbeiten und verstehen möchte, müsste viel weiträumiger Bericht erstattet werden.
Pablo: Ich wünsche mir, dass einfach mehr miteinander gesprochen wird. Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen in Westdeutschland unter anderem durch das, was Albert gesagt hat, eine bestimmte Einstellung entwickeln und sich denken: "Oh man, warum nerven diese Kack-Ossis mit ihren Kack-Demonstrationen eigentlich so rum?" Und auf der anderen Seite hast du dann hier dieses gekränkte ostdeutsche Bild von den Wessis mit ihren dicken Autos. Auch hier wird also viel Gülle gelabert. Es ist doch klar, dass nicht jeder Wessi ein unsympathischer Geldsack ist und nicht jeder Ossi ein arbeitsloser Neonazi. Es wäre so wichtig, einander zu respektieren, endlich aus diesen Schubladen raus zu denken und offen miteinander zu sprechen. Dazu müssen genügend ostdeutsche Repräsentanten in die Politik und in Führungspositionen, damit es eine Diskussion auf Augenhöhe wird.
MZEE.com: Wie ihr schon sagt, lebt diese Debatte häufig von Klischees übereinander. Eines von vielen ist der Begriff "Dunkeldeutschland", den ihr selbst auf dem Song "Hinterland Athletik" gebraucht. Stört euch diese Darstellung also nicht?
Pablo: Ich habe noch gar nicht so intensiv über dieses Wort nachgedacht. Dieser Song nimmt einen eigentlich in ein Gefühl mit, dass hier etwas nach vorne geht. Die Message ist also eine positive. Dieses Dunkeldeutschland stellt vielleicht nur eine Art Ausgangspunkt dar und steht als Begriff symbolisch für verschiedene Probleme, die man hinter sich lässt.
Albert: Es ging uns einfach nur darum zu sagen: "Ihr wollt zwei Atzen aus Dunkeldeutschland? Ihr kriegt zwei Atzen aus Dunkeldeutschland!" Wir geben den Leuten, die von außen darauf schauen, das Bild von den beiden Ostdeutschen aus der Provinz und benutzen dieses Unwort Dunkeldeutschland für uns selbst.
MZEE.com: Ein anderes Ostdeutschland-Klischee ist das von vielen Neonazis. Auf "3. Oktober" rappt ihr: "Wir werden links oder rechts, weil es hier sonst keine Szene gibt." – Kann man sich als Ostdeutscher weniger die Gemütlichkeit erlauben, unpolitisch zu sein und zu sagen "Die Probleme mit Faschos jucken mich nicht"?
Albert: Ja, ich denke schon. Ich denke, dass jungen Leuten hier nichts anderes übrig bleibt, als politisch zu sein und das nach außen zu tragen. Ich nehme meine Umgebung in jeglichen Facetten als sehr politisch wahr. In meiner Ausbildung habe ich mir, gerade auf dem Bau, beispielsweise viel rechtes Gelaber anhören müssen. Ansonsten sind die Menschen, mit denen ich mich privat umgebe, natürlich nicht rechts, aber auch politisch. Meine Freundin kommt aus einem Dorf in der Nähe von Köln. Sie sagt, dass sie ihre Jugend als total unpolitisch wahrgenommen hat. Gerade für junge Menschen war Politik dort fast nie ein Thema, sondern langweiliger Erwachsenen-Kack. So nach dem Motto: Manche Eltern wählen halt CDU und manche SPD, verstehst du? Bei uns war das Thema Neonazis dagegen halt ein alltägliches und omnipräsentes Thema, über das man oft geredet hat. Nicht, weil ich so viel Angst vor ihnen haben musste, jemand wie ich wird ja von ihnen gar nicht bedroht. Aber dieses Thema ist einfach immer da. Wie vor einiger Zeit, als ich mit meiner Freundin in Mecklenburg-Vorpommern an einem Badesee war und eine Gruppe glatzköpfiger Typen in sehr klischeehaften Outfits auf uns zukam. Auf dem Pullover von einem der Typen stand überraschenderweise "Refugees Welcome". Ich habe mich noch gefreut und dachte "Geil, hier so korrekte Typen zu sehen". Erst als sie näherkamen, habe ich entdeckt, dass zwischen den zwei Worten auf seinem Pullover das Wort "not" stand. Was ich sagen will: Das Politische ist immer da. Bei mir hat das schon mit 15 oder 16 angefangen, als ich auf meine ersten Demos ging. Das ist für mich schon Teil der Jugendkultur hier.
Pablo: Bei mir fing das ebenfalls schon als Jugendlicher an. Allerdings muss ich sagen, dass ich mehr Leute kannte, denen das voll egal war, als solche, die sich politisch positionieren wollten. Der Großteil hat sich meiner Erfahrung nach im Jugendalter nicht für Politik interessiert. Ich vermute, das hängt sehr viel mit der Prägung aus dem Elternhaus zusammen, die man mitbekommt. Wie wird dort über das Thema gesprochen? Heißt es "Das ist ein Neonazi" oder "Das ist der Onkel von Sven. Der ist natürlich ein bisschen doll, aber eigentlich ist er ganz nett"? Leute, die sehr nah dran sind, bezeichnest du dann ja gar nicht als Neonazis. Dann wird das ein Teil der Normalität. Ist der Osten jetzt aber allgemein politischer? Ich finde das schwierig zu beantworten, weil ich die Zeit momentan generell als sehr politisiert wahrnehme. Ich kann es nicht abschließend sagen.
Albert: Du hast recht, eine generalisierte Aussage kann man dazu eigentlich gar nicht treffen. Ich glaube, ich umgebe mich mit vielen politischen Menschen und nehme meine individuelle Umgebung deshalb als sehr politisch wahr. Meine Mutter ist selbst eine politische Person, weshalb ich automatisch auch eine bestimmte Haltung entwickelt habe. Zum Thema Normalität von Neonazis möchte ich noch etwas ergänzen: Die gibt es ja auch anderswo, aber dort finden sie vielleicht auf einer anderen Ebene statt. In der Gegend um Köln, wo meine Freundin herkommt, gibt es beispielsweise ebenfalls eine Art von Fremdenfeindlichkeit. Die hat dort aber eher etwas Bürgerliches, Konservatives, Christliches und Wohlhabendes an sich. Hier hast du dagegen gleich das Bild der tätowierten, glatzköpfigen Typen im Kopf. Es ist nicht ungewöhnlich, hier auf Baustellen mit dem Hitlergruß begrüßt zu werden. Durch diese alltägliche Konfrontation und dem Auseinandersetzen damit entwickelt man dann eine politische Haltung, so wie es bei mir oder einigen meiner Freunde der Fall war. Ich habe das Politische einfach immer als eine wichtige Konstante in meinem Leben erfahren.
(Enrico Gerharth)
(Fotos von Ole Kracht)