An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden beschäftigt sich unser Redakteur Simon mit dem Vergleich zwischen HipHop heute und in scheinbar besseren Zeiten.
Es ist eine der Lieblingsbeschwerden aller, sobald sie sich beim morgendlichen Blick in den Spiegel mit dem eigenen Altern auseinandersetzen müssen: "Früher war's irgendwie besser." Trost spendet da oft die Erinnerung an ebendieses "Früher", mit all seinen wichtigen Einflüssen, zu denen natürlich auch die Musik der Jugend gehört. An diesem Punkt lauert dann meist ein verlockender Trugschluss: Der verklärte Blick auf die eigenen fetten Jahre überträgt sich auf den Soundtrack von damals – und nicht nur der persönliche, sondern auch der kulturelle Zenit scheint überwunden. Das jugendliche Selbst, und damit auch dessen musikalische Prägung, wird kreativer, frischer und schöner als das heutige wahrgenommen. Die Wertung, die in dieser Wahrnehmung liegt, kann dann leicht auf aktuelle Musik überspringen, mit welcher eben keine Erinnerung an vermeintlich bessere Zeiten verknüpft ist. "Früher war's irgendwie besser." Solche Beschwerden werden in dem Fall gerne wiederholt. Vor fünf, zehn oder 20 Jahren sei vieles einfach echter gewesen, Skills hätten von der Pike auf erlernt werden müssen und überhaupt sei es mehr um die Kunst an sich, denn ums Geschäft gegangen.
Aber was ist denn überhaupt dran an diesen Aussagen? Gab es früher tatsächlich bessere und gehaltvollere Kunst als heute? Natürlich nicht. Dies ist nur nostalgisches Romantisieren vergangener Zeiten und nicht mehr. Jegliches Mitrappen der alten Klassiker mit Gänsehaut nach dem dritten Sekt heißt erst mal nur, dass man bestimmte Emotionen damit verbindet. Ob der Track jetzt handwerklich gut oder schlecht ist, scheint da zunächst egal. Und selbst wenn ein besonders hochwertiges Stück Musik dabei sein sollte, dann heißt eine fehlende emotionale Reaktion auf heutige Songs im Umkehrschluss keineswegs, dass Tracks in solcher Qualität inzwischen nicht mehr produziert würden.
Natürlich gibt es Unterschiede, beispielsweise zwischen 2003 und 2023. Das liegt vor allem an der schieren Quantität, in der Musik releast wird. In den letzten zwei Monaten des vergangenen Jahres wurden in Deutschland so viele EPs und Alben veröffentlicht wie im kompletten Jahr 2003. Auch sind die Songs inzwischen deutlich kürzer geworden, instrumentelle Intros und Outros für einzelne Lieder finden sich kaum noch, aus drei 16ern werden teilweise zwei 8er. Alle aus diesen Veränderungen gezogenen Schlüsse, dass diese Entwicklungen nachteilig wären, sind jedoch im besten Fall verkürzt und in der Regel schlichte Unterstellungen. Was von manchen Fans und gerade älteren Künstler:innen daraus gemacht wird, ist nämlich häufig Folgendes: Heutzutage releasen alle Artists viel häufiger und viel kürzere Songs. Sie geben sich weniger Mühe für das einzelne Lied und wollen nur Output haben. Statt die Energie in die Kunst zu stecken, fließt diese in die Vermarktung. Durch schnelllebige Hypes erarbeiten sich die Künstler:innen keine Skills oder eine gesunde Fanbasis mehr, sondern poppen kurz auf und verschwinden direkt wieder. Diese Darstellung mag sogar auf einzelne Artists zutreffen, ist aber ansonsten als Analyse der popkulturellen Entwicklung ungeeignet, weil das eine nicht zwangsläufig aus dem anderen resultiert. Natürlich gibt es heute wie damals Künstler:innen, die all ihre Leidenschaft und ihr ganzes Können in die Kunst stecken, die versuchen sich zu verbessern und wie besessen sind von ihrem Schaffen. Genauso wie es vor 20 Jahren Leute gab, die sich mal ein bisschen ausprobiert haben und einen kurzen Hype hatten, aber nichts Bleibendes hinterlassen konnten und nur funktionierten, weil kurz mal alles in Richtung HipHop funktionierte. Kool Savas hat das vor ein paar Jahren ja schon richtig beurteilt: Künstler:innen wie Nina MC, Reen, Cappuccino, Alexey oder Der Wolf wären fast alle von der Bildfläche verschwunden. Wer in diesem Zusammenhang an jungen Künstler:innen rummeckert, blendet sowohl die Negativbeispiele damals, als auch die Positivbeispiele heute schlicht aus.
Das Einzige, das sich nachweislich verändert hat, sind die technischen Möglichkeiten, Musik zu produzieren und aufzunehmen. Damit einher gehen Auswirkungen auf die Konkurrenz, in der alle Labels und damit zwangsläufig auch ihre Künstler:innen zueinanderstehen. Denn natürlich lässt sich heute viel weniger zeitintensiv technisch hochwertig produzieren. Effekte lassen sich viel genauer auf die Stimme legen und können vermeintliche Makel ausbügeln oder Ecken und Kanten hinzufügen. Kaum jemand braucht ein professionelles Tonstudio, um so zu klingen, als habe er oder sie in einem solchen aufgenommen. Wenn sich weniger zeitaufwändig produzieren lässt, bedeutet das zwangsläufig, dass die Kosten dafür sinken. Dementsprechend muss mehr produziert werden, um in der Konkurrenz mit den anderen Marktteilnehmer:innen bestehen zu können. Da sind erst einmal keinerlei künstlerische Facetten in den Überlegungen enthalten, sondern rein ökonomische Sachzwänge. Darin eingeschlossen sind auch die erhöhte "Fannähe" über Social Media und andere Marketingtricks. Davon können sich einzelne Künstler:innen und Labels ein wenig befreien, wenn sie eine bestimmte Nische bedienen. Für den Großteil ist dieses Verhältnis von Output und Konkurrenz jedoch eine Gegebenheit, mit der man lernen muss umzugehen und die man nicht nach Belieben ändern kann.
Statt also die ganze Zeit einen letztlich sinnlosen Vergleich zu angeblich besseren, weil vergangenen Zeiten zu ziehen und in Nostalgie zu versinken, lohnt es sich, das Wesentliche in den Blick zu nehmen: Geschäft ist nun mal Geschäft und Popkultur ist Popkultur. Alle müssen liefern und alle müssen Geld verdienen. Um das zu schaffen, müssen sich alle anpassen. Das mag zwar dazu führen, dass es in der Regel mehr Schmutz als Perlen gibt. Das war aber schon immer so und nach Perlen muss man eben manchmal ein bisschen tauchen. Dafür macht es umso mehr Spaß, wenn eine gefunden wird.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)