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Interview

Charlott Green – ein Gespräch über das Leben auf St. Pauli

"Leu­te wer­den immer wei­ter ver­scheucht und dür­fen inzwi­schen nicht mehr auf der Stra­ße oder unter einer Brü­cke lie­gen. Ich glau­be schon, dass sich im Moment auf St. Pau­li viel tut." ‒ Char­lott Green im Inter­view über die Gen­tri­fi­zie­rung auf St. Pau­li und den damit ver­bun­de­nen Umgang mit Obdachlosen.

St. Pau­li – ein Ort, der weit über die Stadt­gren­zen Ham­burgs hin­aus bekannt ist. In ganz Euro­pa ist der Bezirk den meis­ten Men­schen ein Begriff und vie­le kön­nen damit etwas ver­bin­den. Es gibt kaum eine ande­re Gegend in Deutsch­land, in der auf so engem Raum der­art unter­schied­li­che Lebens­rea­li­tä­ten auf­ein­an­der­tref­fen. Hier begeg­nen sich sozia­le Viel­schich­tig­keit und kul­tu­rel­le Viel­falt. Par­al­lel ver­schwim­men auf der Ree­per­bahn die Gren­zen zwi­schen nächt­li­chem Par­ty­le­ben und der gefähr­li­chen Unter­welt des Vier­tels. Denn unweit des Hafens der Han­se­stadt kol­li­die­ren auf St. Pau­li die unter­schied­lichs­ten Träu­me und Lebens­we­ge auf engs­tem Raum. Ins­ge­samt ist der All­tag in dem Ham­bur­ger Stadt­teil kaum zu grei­fen und umfasst ver­schie­de­ne The­men und Pro­ble­me. Eine Künst­le­rin, die St. Pau­li nicht nur kennt, son­dern lebt, ist Char­lott Green. Auf ihrer Debüt-​EP "Hood­mor­ning" fin­den der Bezirk und das dazu­ge­hö­ri­ge Mind­set immer wie­der Platz. Grund genug, uns mit ihr über den Mikro­kos­mos St. Pau­li zu unter­hal­ten. In die­sem Zusam­men­hang spra­chen wir über Obdach­lo­sig­keit, Poli­zei­ge­walt, Gen­tri­fi­zie­rung und ihre musi­ka­li­sche Sozia­li­sa­ti­on in Hamburg. 

MZEE​.com​: Wir wol­len heu­te über das Leben auf St. Pau­li spre­chen. Wie wür­dest du denn jeman­dem die­sen Ort beschrei­ben, der noch nie dort war?

Char­lott Green: Ich wür­de sagen: St. Pau­li ist ein Ort, an dem vie­le Kul­tu­ren und Men­schen zusam­men­kom­men. Es gibt eine Sze­ne, die sehr wild und nicht unge­fähr­lich ist. Gleich­zei­tig wird inzwi­schen viel kul­tu­rel­le Arbeit geleis­tet und Men­schen kön­nen zusam­men­kom­men. Es ist ein­fach eine wil­de Par­ty­mei­le. Wer es fei­ert, Par­ty zu machen, ist dort gut aufgehoben.

MZEE​.com: Wie bist du selbst in dem Stadt­teil sozia­li­siert und verwurzelt?

Char­lott Green: Ich habe in der Nähe von St. Pau­li mei­ne Schau­spiel­aus­bil­dung im Büh­nen­stu­dio gemacht und das hat mich auch in die­ses Vier­tel geführt. Inzwi­schen bin ich, was mei­ne Musik­kar­rie­re betrifft, rela­tiv gut in St. Pau­li ver­wur­zelt, weil ich in einer nahe gele­ge­nen Bar gear­bei­tet und vie­le mei­ner musi­ka­li­schen Kon­tak­te dort geknüpft habe. Ich habe dort Raum bekom­men und musi­ka­li­schen Anschluss gefun­den. Mei­ne ers­ten Stu­dio­ses­si­ons, ers­te Koope­ra­ti­ons­ge­schich­ten und vor allem mei­ne ers­ten Gigs – das hat alles auf St. Pau­li stattgefunden.

MZEE​.com​: Ursprüng­lich bist du ja über dei­ne Schau­spiel­aus­bil­dung nach St. Pau­li gekom­men. Hast du dort als Schau­spie­le­rin gearbeitet?

Char­lott Green: Nein, ich habe drei­ein­halb Jah­re eine Schau­spiel­aus­bil­dung gemacht, aber auf­grund gesund­heit­li­cher Pro­ble­me zwi­schen­durch ein hal­bes Jahr pau­siert. Und in dem hal­ben Jahr habe ich ange­fan­gen, Rap-​Texte zu schrei­ben. Danach lief das tat­säch­lich par­al­lel. Nach der Schau­spiel­aus­bil­dung habe ich mich dann eher mit der Musik con­nec­tet. Ich habe mal ein paar Sachen für die SAE (Anm. d. Red.: Die SAE ist eine Uni­ver­si­tät mit über­wie­gend krea­ti­ven Stu­di­en­gän­gen. In Ham­burg sitzt die SAE direkt an der Feld­stra­ße im soge­nann­ten Medi­en­bun­ker.) neben­an gespielt und für Kurz­fil­me geschau­spie­lert. Natür­lich haben wir in die­ser Schu­le auch Stü­cke gelernt und gespielt. Aber ich habe in die­ser Zeit gemerkt, dass mein Schwer­punkt vor allem auf der Musik liegt und ich das wirk­lich füh­le. Ich kann­te auf ein­mal die Nuan­cen zwi­schen "Ich mache Schau­spiel. Das ist cool und es macht irgend­wie Spaß" und "Ich mache Musik und spü­re mich rich­tig". In die­sem Zusam­men­hang habe ich gemerkt, was der Unter­schied zwi­schen dem ist, was ich machen möch­te, und dem, was wirk­lich mein Ding ist.

MZEE​.com:​  Neben dei­nem musi­ka­li­schen Out­put ver­knüpft du sogar dein ers­tes Merch mit kla­ren State­ments. Dei­ne ers­ten Shirts ziert bereits der "1312"-Schriftzug. Wor­in liegt für dich das Haupt­pro­blem bei einem Staats­or­gan wie der Polizei?

Char­lott Green: Ich glau­be, dass wir mit der Poli­zei meh­re­re Pro­ble­me haben. Das Per­so­nal ist nicht sozi­al geschult und wir müs­sen viel Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung inner­halb die­ses Staats­in­stru­ments fest­stel­len. Ich den­ke, mit Polizist:innen kannst du nicht dis­ku­tie­ren, ob du kurz durch eine Absper­rung gehen darfst, weil du ger­ne nach Hau­se möch­test, unab­hän­gig davon, war­um sie etwas absper­ren. Die hau­en dir direkt auf die Fres­se. Unser Sys­tem hat eine ras­sis­ti­sche Struk­tur – umge­setzt wird die­se bei der Poli­zei von Men­schen, die "nur" aus­füh­ren­de Kraft sind und dabei kei­ne Ver­ant­wor­tung für ihre Hand­lun­gen über­neh­men. Wenn im Zuge des G20-​Gipfels 150 Leu­te weg­ge­knüp­pelt wer­den, weil sie auf einer Demo sind, dann ist das ein Auf­trag, den die Poli­zei aus­führt. An die­ser Stel­le ver­nach­läs­si­gen die Men­schen ihr eige­nes Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein und han­deln stumpf nach Vor­ga­be von oben, was bei der Poli­zei auf kei­nen Fall pas­sie­ren dürf­te. Gera­de die Poli­zei müss­te ver­ant­wor­tungs­be­wusst sein sowie sen­si­bel und auf­merk­sam Din­ge berück­sich­ti­gen und unter­schei­den kön­nen. Was ist zum Bei­spiel eine nöti­ge und was eine dis­kri­mi­nie­ren­de Hand­lung? Das ist etwas, was augen­schein­lich gar nicht pas­siert. Ich fin­de es tat­säch­lich grund­sätz­lich ver­werf­lich, Polizist:in zu sein, weil man ein Sys­tem reprä­sen­tiert, das sehr dis­kri­mi­nie­ren­de Struk­tu­ren fährt und schon ganz lan­ge gefah­ren hat. Das pas­siert im Auf­trag, sodass Polizist:innen selbst immer sagen kön­nen: "Ich mache nur, was ich machen soll." Okay, trotz­dem hast du bei­spiels­wei­se das Kind mit dem Schlag­stock geschla­gen. Wir müss­ten min­des­tens mal gucken, dass wir Polizist:innen bes­ser schu­len – hin zu einer empa­thi­sche­ren Art und Wei­se. Polizist:innen soll­ten nor­ma­ler­wei­se die Lage ent­schär­fen und eine Situa­ti­on her­stel­len, die wie­der Sicher­heit gewähr­leis­tet. Das wäre eine Idee. Wie das genau funk­tio­niert, weiß ich nicht. Aber die Poli­zei wird ja umfas­send aus­ge­bil­det. Die machen unfass­bar vie­le Schu­lun­gen und krie­gen alle mög­li­chen Kampftechnik-​Ausbildungen. Im sozia­len Bereich müss­te man aber noch mal tätig wer­den und zum Bei­spiel sagen: "Pass auf, grund­sätz­lich gilt: PoC wer­den nicht schlech­ter behan­delt als wei­ße." Das wäre schon mal ein Ansatz.

MZEE​.com:​ Die Poli­zei hat auf dem Kiez viel mit der soge­nann­ten "Unter­welt" zu tun. Von Dro­gen­kar­tel­len und Macht­miss­brauch über Men­schen­han­del und Gewalt bis hin zu Kor­rup­ti­on – das fin­det alles statt. Kannst du dich von bestimm­ten Umfel­dern abgren­zen, obwohl sie direkt vor dei­ner Haus­tür existieren?

Char­lott Green: Ich pas­se schon auf, nicht zu tief in kri­mi­nel­le Geschich­ten hin­ein­zu­ge­ra­ten. Das ist mir schon immer sehr wich­tig. Gleich­zei­tig bin ich in dem Bereich aber tätig, da ich als Wirt­schaf­te­rin in einem Bor­dell in der Her­bert­stra­ße arbei­te. (Anm. d. Red.: Char­lott Green ist unter ande­rem zustän­dig für die Abwick­lung und Kon­trol­le der lau­fen­den Kos­ten und Aus­zah­lung an die Mitarbeiter:innen.) Das führt natür­lich dazu, dass ich nicht die größ­te Distanz zum Milieu habe. Ich ver­su­che, distan­ziert zu blei­ben und kei­ne Kon­tak­te zu pfle­gen, bei denen ich mer­ke, dass ich in irgend­wel­che Kartell-​Gefüge rein­rut­sche. Aber gleich­zei­tig, glau­be ich, ist es wich­tig, dass man nicht die Augen davor ver­schließt. Auf St. Pau­li wer­den Dro­gen kon­su­miert, es gibt unfass­bar viel Obdach­lo­sig­keit und vie­le Kin­der dort benö­ti­gen Hil­fe. Hier ist es für mich wich­tig, einen Mit­tel­weg zu fin­den. Jede:r muss ja grund­sätz­lich – nicht nur auf St. Pau­li – dar­auf auf­pas­sen, nicht selbst in Schwie­rig­kei­ten zu gera­ten. Trotz­dem kann sich jede Per­son sozi­al enga­gie­ren, solan­ge sie die Kapa­zi­tä­ten dafür hat.

MZEE​.com:​ Wie kam es dazu, dass du par­al­lel zu dei­nem künst­le­ri­schen Wer­de­gang als Wirt­schaf­te­rin in einem Bor­dell arbeitest?

Char­lott Green: Ich bin über eine Bekann­te dort rein­ge­kom­men, die die­sen Pos­ten selbst schon seit Jah­ren aus­führt und eine Ersatz­kraft für Wochen­en­den, Urlau­be und sol­che Geschich­ten gebraucht hat. Sie hat mich gefragt, ob ich Lust dar­auf hät­te. Ich habe es mir ange­guckt und gemerkt, dass ich ein biss­chen was aus­rich­ten und die Frau­en, die dort arbei­ten, unter­stüt­zen, beschüt­zen oder ein biss­chen für Sicher­heit sor­gen kann. Des­halb habe ich den Job angenommen.

MZEE​.com​: Wir haben bereits kurz über ein Staats­or­gan gespro­chen. Dar­an anknüp­fend: Wie blickst du auf die Kom­mu­nal­po­li­tik auf St. Pau­li? Was müss­te sich da ver­bes­sern oder geän­dert werden?

Char­lott Green: Grund­sätz­lich glau­be ich, dass unser Staats­sys­tem im All­ge­mei­nen als Aggres­sor dient und vie­le Berei­che nicht abge­deckt sind. Ich glau­be, man müss­te den gan­zen Ver­ein ein­mal umkrem­peln. Ich habe nicht die per­fek­te Lösung, dafür bin ich nicht tief genug in der Poli­tik. Trotz­dem habe ich das Bedürf­nis, Kri­tik zu äußern, wenn Din­ge offen­sicht­lich falsch laufen.

MZEE​.com:​ Ich habe mir noch mal die Ergeb­nis­se der Hamburg-​Wahlen 2020 ange­guckt. St. Pau­li sticht hier her­aus: Die Grü­nen und Lin­ken haben mit die stärks­ten Ergeb­nis­se auf St. Pau­li, wäh­rend Par­tei­en wie die FDP, CDU und AfD auf Ableh­nung sto­ßen. Machst du dir trotz­dem Sor­gen um die poli­ti­sche Ent­wick­lung inner­halb der Stadt?

Char­lott Green: Ich mache mir inner­halb des Lan­des Sor­gen um die poli­ti­sche Ent­wick­lung, weil die AfD in ande­ren Städ­ten gro­ßen Zuspruch bekommt. Und das ist eigent­lich das, was mich kon­kret am meis­ten belas­tet. Dass wir in der Poli­tik irgend­wo zwi­schen Cho­le­ra und Pest wäh­len, ist uns allen inzwi­schen bewusst, glau­be ich. Trotz­dem bin ich froh, dass mein Stadt­teil ein sehr enga­gier­ter ist. Wir haben eine sehr hohe Wahl­be­tei­li­gung, hier sind Men­schen moti­viert, zu wäh­len. Das könn­te dar­an lie­gen, dass es eben ein sozia­ler Brenn­punkt ist. Ande­rer­seits bin ich natür­lich stolz auf Ham­burg, weil wir eine der größ­ten anti­fa­schis­ti­schen Sze­nen haben und damit eben in der Links­po­li­tik viel ver­än­dern kön­nen. Was ich mir wün­schen wür­de, ist, dass ande­re Stadt­tei­le und Städ­te in die­sem Bereich etwas enga­gier­ter sind, damit der Zuwachs bei der AfD rück­läu­fig wird.

MZEE​.com:​ Du hat­test den sozia­len Brenn­punkt bereits ange­spro­chen. Auf St. Pau­li sind die sozia­len Umstän­de his­to­risch gewach­sen. Auch heu­te tref­fen auf der Ree­per­bahn die ver­schie­dens­ten Lebens­rea­li­tä­ten auf­ein­an­der, zum Bei­spiel obdach­lo­se Men­schen und rei­che Tou­ris­ten. Wie betrach­test du die sozia­le Zusam­men­set­zung in dem Stadtteil?

Char­lott Green: Durch die sich wei­ter öff­nen­de sozia­le Sche­re wer­den Woh­nun­gen auf St. Pau­li für vie­le unbe­zahl­bar. Es kom­men gera­de mehr Leu­te, die ein höhe­res Gehalt als der Durch­schnitt haben, um dort zu woh­nen, weil es irgend­wie tren­dig ist. Grund­sätz­lich den­ke ich aber, dass wir noch eine sehr gute Mischung haben, allei­ne dadurch, dass es immer ein ver­rück­ter Stadt­teil war. Frü­her waren die Mie­ten auf St. Pau­li nicht so teu­er, weil dort das Milieu war. Es war alles ein biss­chen ver­rucht, aber man hat dort nicht ger­ne gewohnt. Es gab schon immer vie­le Unter­künf­te für Men­schen ohne Obdach, wodurch die Obdach­lo­sig­keit sehr sicht­bar war. Heu­te ist St. Pau­li ein biss­chen tren­di­ger gewor­den und die Miet­prei­se stei­gen, soweit ich weiß, in ganz Ham­burg. Armut wird aus der Stadt ver­drängt. Grund­sätz­lich sehen wir das an die­sen gan­zen Vor­gän­gen, die sich klar gegen Obdach­lo­se rich­ten. Es wer­den jetzt Bügel auf Bän­ke gebaut, damit die Men­schen nicht mehr dar­auf schla­fen kön­nen. Leu­te wer­den immer wei­ter ver­scheucht und dür­fen inzwi­schen nicht mehr auf der Stra­ße oder unter einer Brü­cke lie­gen. Ich glau­be schon, dass sich im Moment auf St. Pau­li viel tut. Ich wür­de aber sagen, dass jetzt gera­de der Zustand noch sehr gemischt ist. Dass dort Leu­te mit klei­nem und gro­ßem Bud­get und mit ganz unter­schied­li­chen Lebens­vor­stel­lun­gen leben.

MZEE​.com​: Was bräuch­te es für dich, um die­se Ent­wick­lung der Gen­tri­fi­zie­rung zu stoppen?

Char­lott Green: Bezahl­ba­re Mie­ten. Ich glau­be, dass auch das ein poli­ti­sches The­ma ist. Wir müs­sen unbe­dingt dar­an arbei­ten, dass die Prei­se für Wohn­räu­me nicht noch wei­ter in die Höhe stei­gen. Aber das ist wie­der so ein kapi­ta­lis­ti­sches Pro­blem. Wir haben 500 Meter wei­ter in der Gro­ßen Elb­stra­ße geschätzt 50 Büro­ge­bäu­de mit Büro­räu­men, die leer ste­hen, weil sich keine:r die Mie­te für die­se Büros leis­ten kann. Gleich­zei­tig schla­fen die Leu­te unter der Brü­cke, weil die Woh­nun­gen hier nicht mehr bezahl­bar sind. Ich ver­mu­te, dass es in Ham­burg ganz viel unge­nutz­ten Wohn­raum gibt. Wir müs­sen mal wie­der mehr in eine sozia­le als in eine kapi­ta­lis­ti­sche Rich­tung den­ken. Der Wohn­raum wird an vie­len Stel­len künst­lich ver­knappt. Eigent­lich ist er in Ham­burg nicht so knapp, dem­entspre­chend müss­ten die Mie­ten nicht so hoch gehen. Dann gäbe es kei­ne Grün­de, die Prei­se immer wie­der anzu­he­ben und Vermieter:innen hät­ten kei­ne Aus­re­den, um zu sagen: "Dort kann ich jetzt doch noch mal 'nen Hun­ni mehr neh­men." In mei­ner Vor­stel­lung wären wir dann wie­der mehr auf einem sozia­len Level. Ich glau­be, wenn man mehr Wohn­raum frei­ge­ben, es weni­ger Obdach­lo­se und dem­entspre­chend weni­ger Wohn­raum­man­gel geben wür­de, wäre die Gen­tri­fi­zie­rung nicht so groß.

MZEE​.com​: Lass uns noch über Kul­tur und Musik spre­chen. St. Pau­li ist als Bezirk flä­chen­mä­ßig gese­hen nicht groß und hat trotz­dem enorm viel­fäl­ti­ge Ecken, auch abseits der Ree­per­bahn. Was sind für dich die beson­de­ren und wich­tigs­ten Orte?

Char­lott Green: Für mich per­sön­lich ist es immer schön, wenn es kul­tu­rell und gene­rell sehr bunt gemischt ist. Ich mag es, wenn Men­schen aus unter­schied­li­chen Kul­tu­ren, Sze­nen und Schich­ten zusam­men­kom­men. In die­sem Zusam­men­hang ist natür­lich die Schan­ze ein sehr gei­ler Ort. Vor allem, wenn es im Som­mer drau­ßen hin­ter der Roten Flo­ra spon­ta­ne Open-​Air-​Konzerte gibt und alle etwas spie­len oder machen kön­nen. Ich arbei­te im Moment rela­tiv viel im DIY-​Studio. Das ist für mich inzwi­schen ein sehr wich­ti­ger Ort gewor­den, weil dort das zustan­de­kommt, was ich am Ende des Tages auf eine Plat­te brin­ge. Das Wohn­zim­mer mei­nes Bru­ders ist ein sehr wich­ti­ger Ort für mich, weil dort vie­le tol­le Songs ent­ste­hen und es einen musi­ka­li­schen Raum dafür gibt. Dafür war auch die Med Bar in der Markt­stra­ße ein sehr wich­ti­ger Ort für mich. Dort habe ich super­viel ken­nen­ge­lernt und mei­ne ers­ten Gigs gespielt. Die­se gan­ze Ecke: Stern­schan­ze, St. Pau­li, Karo­vier­tel – das sind für mich Vier­tel, wo man hin­ge­hen und sich erkun­di­gen kann. Hier kann man auf ver­schie­de­ne Ver­an­stal­tun­gen gehen und sich Rap-​Konzerte angu­cken, aber auch selbst mit­ma­chen, wenn man möch­te. Es gibt noch das Cas­ca­das am Jung­fern­stieg. Dort gibt es eine Ver­an­stal­tung am Don­ners­tag, die "POETRY & HIP HOP" heißt, bei der Künstler:innen, die sich aus­pro­bie­ren wol­len, eine Platt­form gebo­ten wird. Das war auch mei­ne ers­te Büh­ne. Bei "POETRY & HIP HOP" habe ich das ers­te Mal einen Song von mir selbst per­formt. Es gibt wirk­lich eini­ge Orte, die ich musi­ka­lisch oder was das Gesamt­kon­zept betrifft, toll und wich­tig finde.

MZEE​.com:​ Mit wem hast du dich denn in der Med Bar con­nec­tet? Ich habe gehört, dass es hier eine direk­te Ver­bin­dung zu dei­ner ers­ten EP "Hood­mor­ning" gibt …

Char­lott Green: Auf jeden Fall. Als aller­ers­ten habe ich dort Vic­tor Flowers ken­nen­ge­lernt. Der heißt Flower­boy Music als Pro­du­zent. Ich sage immer: Er hat mich von der Stra­ße gesam­melt. Vic­tor ist bekannt dafür, dass er unfass­bar musik­af­fin ist. Er hat schon mit super nicen Leu­ten gear­bei­tet, auch in den Staa­ten. Er ist mit der Black But­ter­fly Group ver­ban­delt gewe­sen und hat unter ande­rem mit dem Wu-​Tang Clan und DMX gear­bei­tet. Er ist wirk­lich jemand, von dem man sagen kann: Der weiß schon, was er tut. Vic­tor war der ers­te, der gesagt hat: "Ey, fin­de ich wirk­lich geil. Ich schick' dir mal ein paar Beats." Und ich dach­te mir: Er ist der Hun­derts­te, der das sagt … Ich bin nach Hau­se gegan­gen und habe gedacht, er wür­de mir ein paar Beats schi­cken. Der nächs­te, der mei­ne E-​Mail-​Adresse auf­ge­schrie­ben hat. Aber tat­säch­lich hat­te ich am nächs­ten Tag von ihm 100 Beats in mei­nem Post­fach. Ich konn­te end­lich anfan­gen, auf pri­va­te Beats zu rap­pen und pro­fes­sio­nell zu arbei­ten. Vic­tor hat einen Song auf mei­ner EP pro­du­ziert: "Get In". Außer­dem haben wir noch ein paar Sin­gles vor­be­rei­tet, auf die ihr euch auch schon mal freu­en dürft.

MZEE​.com​: Etwas los­ge­löst von dei­ner Musik: Wel­che Kunst- und Kul­tur­for­men machen für dich St. Pau­li aus? Und wel­che Künstler:innen sind in der Hin­sicht beson­ders prägend?

Char­lott Green: Natür­lich Rap. Die­se Samy- und Dyna­mi­te Deluxe-​Nummer hat mich damals irgend­wie abge­holt. Aber auch Graf­fi­ti fin­de ich immer wie­der inter­es­sant. Ich feie­re zum Bei­spiel den Künst­ler Car­lo. Von dem habe ich tat­säch­lich schon Sachen gekauft. Ich habe den irgend­wann aus­fin­dig gemacht. Ich konn­te sei­ne Kunst nicht mehr nur auf der Stra­ße sehen und woll­te es nicht von der Wand holen. Der macht teil­wei­se politisch-​kritische Kunst und pla­ka­tiert vor allem Sachen. Das fin­de ich mega­nice. Graf­fi­ti fin­de ich gene­rell geil. In der Markt­stra­ße sieht man gut, dass es die unter­schied­lichs­ten Künstler:innen gibt, die nicht nur Bil­der oder Graf­fi­tis malen, was an sich schon geil ist. Es gibt zum Bei­spiel eine Künst­le­rin, die mit Bügel­per­len arbei­tet. Dar­aus macht sie unter ande­rem eine Gebär­mut­ter und klebt die dann an eine Häu­ser­wand. Es gibt auch Kuss­mün­der von ihr. St. Pau­li, das Karo­vier­tel und die Schan­ze sind Orte, die für Künstler:innen wie gemacht sind. Wenn irgend­wer in mei­nem Umfeld Kunst macht und es raus­hän­gen will, dann fährt er nicht nach Bill­stedt oder Wands­bek. In die­sem Bereich sind St. Pau­li und die Schan­ze die Haupt­an­lauf­stel­len, weil sich dort vie­le Leu­te auf­hal­ten, bei denen ein gro­ßes Inter­es­se dies­be­züg­lich herrscht. Die Leu­te lau­fen durch die Stra­ßen und gucken sich das wirk­lich an. Und ich bin eine davon. (lacht)

MZEE​.com:​ Dei­ne Debüt-​EP trägt den Titel "Hood­mor­ning". Wel­che Musiker:innen bil­den für dich den klas­si­schen Sound­track von dei­ner Hood auf St. Pauli?

Char­lott Green: Für mich ist Dis­ar­star ganz vor­ne dabei, weil er für mich das ver­kör­pert, was ich poli­tisch rich­tig und wich­tig fin­de. Ich wür­de sagen, er fährt in die­sem Bereich schon eine sehr extre­me Schie­ne und ist dadurch natür­lich etwas befan­gen. Aber ich fin­de es gleich­zei­tig voll wich­tig, dass es die­se Posi­ti­on gibt. Er ist ein kras­ser Conscious-​Rapper, das weiß, glau­be ich, jede:r, die:der sei­ne Musik fei­ert. Auch Ree­per­bahn Kareem ist zum Bei­spiel jemand, der die Musik­sze­ne für mich geprägt hat. Das kann man nicht anders sagen. Genau­so wie Nate. Der hat unfass­bar kras­se Musik gemacht und ich weiß nicht, war­um er es nie ganz raus geschafft hat. Aber dort auf der Ecke gibt es ganz vie­le Künstler:innen, die ich abso­lut feie­re. Boz, der Bru­der von Kareem, macht zum Bei­spiel Musik, da bre­che ich mir mein Genick, wenn ich die höre. Ehr­lich. (lacht) Und dann natür­lich die­se gan­ze Ham­burg Eimsbush-​Nummer, die zur Stern­schan­ze gehört. Jan Delay und Co. ver­gisst kei­ner. Sleep­wal­ker ist ein sehr gei­ler Pro­du­zent, der viel mit die­sen Eimsbush-​Leuten gemacht hat, soweit ich weiß.

MZEE​.com​: Ja, der ist doch auch auf dei­ner EP "Hood­mor­ning".

Char­lott Green: Genau, der hat den letz­ten Song mei­ner EP mit mir zusam­men gemacht. Das ist für mich eine unfass­bar kras­se Ehre, weil der Leu­te sup­port­et hat, die mich dahin gebracht haben, über­haupt Rap zu hören. Mein DJ ist Ben Kenobi. Der hat zum Bei­spiel auf dem Track "Weck mich auf" von Samy Delu­xe die Scrat­ches gemacht. Das sind Leu­te, bei denen ich mer­ke: Krass, das macht St. Pau­li und die Musik dort für mich aus. Par­al­lel zu mei­ner Bewun­de­rung kom­men die Leu­te aber zu mir und sagen: "Weißt du was, Schwes­ter, voll geil. Let's do some­thing!" Zum Bei­spiel pla­ne ich mit Ole (Anm. d. Red.: Ben Kenobi) ein paar Scrat­ches auf dem kom­men­den Album.

MZEE​.com​: Zum Abschluss: Auf dei­nem Song "Get In" rappst du: "Bit­te, bit­te fahr mich hier weg. Wir leben wie die Maden im Speck. Sie leben wie die Rat­ten im Dreck. All die schö­nen Far­ben sind weg." – Was müss­te pas­sie­ren, um dich aus St. Pau­li zu kriegen?

Char­lott Green: Um mich aus St. Pau­li zu krie­gen? Geld. (lacht) Ich glau­be, ich wäre mit dem Her­zen immer auf St. Pau­li. Aber ich wäre offen dafür, in ande­re Städ­te zu gehen oder mir ande­re Tei­le der Welt anzu­gu­cken. Es wäre schon sehr schön, ein Album außer­halb von Deutsch­land, viel­leicht an einem war­men Ort zu pro­du­zie­ren. Aber mein Herz schlägt natür­lich für immer auf St. Pau­li. Mei­ne Hei­mat ist hier und die Ent­ste­hung mei­ner Musik fin­det hier statt. Ich glau­be, so rich­tig kriegt man mich nicht aus St. Pauli.

(Alec Weber)
(Fotos von Nico Vogelsänger)