"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." – so definierte der Philosoph Immanuel Kant moralisches Handeln. Bis heute ist der kategorische Imperativ vielen als grundlegendes Prinzip geläufig. Etwas weniger philosophisch ging es in unserem Gespräch über moralische Prinzipien mit Presslufthanna zu. Fans und Hörer:innen wissen, was bei ihr hoch im Kurs steht: Haltung zeigen und Einstehen für das, was man als richtig empfindet. Diese Einstellung spiegelt sich nicht nur in der Musik der Wahlbremerin wider. Auch über Instagram nimmt sie häufig zu aktuellen politischen Fragen Stellung oder kreidet gesellschaftliche Missstände an. Bevor Presslufthanna gemeinsam mit DJ Jiyan auf der Tapefabrik 2023 die Mainstage zum Wackeln brachte, trafen wir sie zum Gespräch über die Diskussionskultur in den sozialen Medien, den Kampf gegen strukturelle Probleme und ihren eigenen moralischen Kompass.
MZEE.com: Lass uns zum Einstieg mit einer Definition unseres heutigen Themas beginnen: Was verstehst du unter Moral?
Presslufthanna: Das ist mal eine Topeinstiegsfrage hier. (lacht) Für mich ist Moral eine persönliche Einstellung, die ich in mir trage. Wenn ich mit anderen Menschen so umgehe, wie ich auch selbst behandelt werden will, dann handle ich richtig.
MZEE.com: Was waren für dich persönlich die größten Einflüsse auf die Entwicklung deines eigenen moralischen Kompasses?
Presslufthanna: Ich glaube, von allem ein bisschen was. Einerseits waren es die Umstände, in denen ich aufgewachsen bin und die Prägung durch meine Eltern. Andererseits spielen auch eigene Erfahrungen, die ich beispielsweise als Frau oder als Arbeiter:innenkind gemacht habe, eine Rolle. Und natürlich auch Musik oder Freund:innen.
MZEE.com: "Für viele junge Leute spielen moralische Werte heute eine deutlich wichtigere Rolle als für frühere Generationen", schreibt das ZDF im Online–Artikel "Keine Zeit fürs Klima – Moral im Zwiespalt". Nimmst du das auch so wahr?
Presslufthanna: Das ist eine gute Frage. (überlegt) Wenn man sich aktuelle politische Debatten ansieht, könnte man schon meinen, dass es so ist. Gerade, was das Thema Klimawandel angeht, gibt es viele Menschen in der Generation meiner Eltern, die voll darauf scheißen und weiter ihr Ding durchziehen wollen. Die haben in den letzten Jahren auch einiges abgezogen, was man als unmoralisch bezeichnen könnte. Ich würde schon sagen, dass jüngere Leute im Vergleich dazu vermehrt einen ausgeprägteren moralischen Kompass haben. Vielleicht beziehe ich mich aber auch nur auf meine Bubble. Ob es wirklich auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene so ist, kann ich nicht sagen.
MZEE.com: Klimapolitik, Waffenlieferungen, bewusster Konsum und Wohlstand – haben wir überhaupt einen gemeinsamen Grundkonsens, was richtig und falsch ist oder spaltet sich unsere Gesellschaft zunehmend an moralisch aufgeladenen Themen?
Presslufthanna: Ich finde nicht, dass es einen Grundkonsens gibt. Das zeigt zum Beispiel die neu vereinbarte Änderung beim EU-Asylrecht. Menschen können jetzt direkt an EU-Außengrenzen eingesperrt werden, wo sie keine anwaltliche Unterstützung erhalten und abgeschottet werden. Wenn es einen Grundkonsens gibt, dann wohl eher, dass uns diese Schicksale scheinbar egal sind. Viele Menschen in unserer Gesellschaft sind einfach ignorant. Es ist auch teilweise heftig, wie das von Seiten der verantwortlichen Politiker:innen geframet wird. Nancy Faeser hat gesagt, dass dies die richtige Entscheidung für die EU sei. Ich finde das super dreckig.
MZEE.com: Würdest du dir also wünschen, dass unsere Gesellschaft mehr gemeinsame moralische Prinzipien hat?
Presslufthanna: Auf jeden Fall. Natürlich entspringt Moral auch verschiedenen politischen Überzeugungen. Aber es wäre schön, wenn mehr Menschen zu solchen Dingen Haltung zeigen würden.
MZEE.com: Wie du schon andeutest, sind Haltung oder moralische Entscheidungen am Ende eine individuelle Sache. Rezo meinte im Podcast "Alles gesagt" von Die Zeit im übertragenen Sinne, dass er den Drang hat, dafür zu sorgen, dass Menschen einen Schaden davontragen, wenn sie ihn unfair behandeln, auch wenn das einen ebenso großen Schaden für ihn selbst nach sich ziehen würde. Er sagte: "Ich zünde lieber das Boot an, auf dem wir beide sind. Hauptsache, du brennst auch." Kannst du diese Einstellung nachempfinden?
Presslufthanna: (überlegt) Auf persönlicher Ebene finde ich so eine "Auge um Auge, Zahn um Zahn"-Einstellung eher unsinnig. Aber natürlich ist das situationsabhängig. Ich kenne dieses Gefühl auch, wenn mich jemand richtig doll abfuckt oder krass angeht. Aber ich glaube, das ist eher eine Form der Selbstverteidigung und bedeutet nicht unbedingt, dass man Leute absichtlich in die Scheiße reiten will. Auf politischer Ebene finde ich diese Einstellung tatsächlich legitim. Vielleicht ist das ja sogar die Ebene, auf die Rezo sich bezieht.
MZEE.com: Inwiefern ist es auf der politischen Ebene anders?
Presslufthanna: Ich beziehe das auch mal auf unser bereits erwähntes Beispiel Klimawandel. Ich halte es für sinnlos, meinen persönlichen Konsum krass anzupassen, während große Konzerne so weitermachen wie gehabt. Natürlich hat das an sich einen Sinn, aber es wird nicht die Veränderung bringen, die wir brauchen. Deshalb denke ich mir: "Dann fickt euch halt" und fliege auch zwei oder drei Mal in den Urlaub dieses Jahr. Soll die Welt eben untergehen – das liegt nicht hauptsächlich an Einzelpersonen wie mir. Auf dieser Ebene ahne ich so eine Einstellung schon eher.
MZEE.com: Das klingt fast ein bisschen nihilistisch, aber ich kenne das. Ich habe auch aufgehört, die drei Euro teureren Tomaten zu kaufen, nur weil sie nicht in einer Plastikschale sind. Aber ich denke, man darf da nicht zu hart mit sich selbst sein.
Presslufthanna: Ja, voll. Dein Beispiel mit den Tomaten ist genau das, was ich meine. Es bringt halt nichts, die werden so oder so weiter produziert. Wir müssen woanders ansetzen, glaube ich.
MZEE.com: Wenn wir über moralische Prinzipien reden, reden wir heute oft über plakative Begriffe wie "Wokeness" oder "Cancel-Culture". Darunter schwingt bei einigen die Sorge mit, dass wir uns zunehmend gegenseitig vorschreiben, was richtig und falsch ist und zu schnell den moralischen Zeigefinger heben. Verlieren wir als Gesellschaft womöglich das Gespür dafür, was berechtigte Mahnung und was Anmaßung ist?
Presslufthanna: Irgendwie stimmt beides. Einerseits ist es krass, wie solche Begriffe genutzt werden, um Stimmung gegen linke Positionen zu machen. Zum Beispiel, dass Markus Söder sagt: "Wokeness ist illiberales Spießertum. Wir sind gegen Wokeness." Ich finde nicht, dass solche Sorgen die Realität abbilden. Andererseits merke ich, auch in den eigenen Reihen, wie häufig sich Linke untereinander nicht einig sind. Es ist auch krass, wie sehr wir verlernt haben, miteinander zu debattieren, Widersprüche auszuhalten und trotzdem in Diskussion zu treten. Oft machen wir es uns zu leicht, sagen "Da bin ich raus", gehen dann nicht mit auf eine Demo oder arbeiten nicht mehr mit bestimmten Leuten zusammen. In dieser Hinsicht geht vielleicht wirklich das Gespür verloren. Aber im Kontext der gesamten Gesellschaft würde ich das nicht behaupten. Nehmen wir beispielsweise wieder das Thema Klima: Eigentlich geht es dabei nur um Fakten. Über den Klimawandel an sich lässt sich gar nicht diskutieren. Trotzdem kommen Leute mit Wokeness an und denken, wer nicht einer Meinung folgt, wird gecancelt. Dabei betrifft uns das doch alle gleich und basiert auf Fakten. Dieses politische Framing, dass Wokeness ein Riesending und Problem wäre, sehe ich nicht so.
MZEE.com: Vor kurzem hast du dich über Instagram mit der Kritik auseinandergesetzt, deine Posts über Femizide und andere strukturelle Probleme seien lediglich "sinnlose Symbolpolitik", für die man sich "in einer Blase gegenseitig auf die Schulter" klopfe. Was ärgert dich an solchen Vorwürfen?
Presslufthanna: Das hat mich mega abgefuckt und geht mir einfach auf den Sack. An dieser Nachricht war so vieles falsch. Erstens: Was ist das für ein Anspruch? Ich bin Musikerin und keine Sozialarbeiterin im Deutschrap. Ich nutze meine Reichweite gerne für Themen, die mir am Herzen liegen und ich finde es wichtig, auf Femizide und patriarchale Gewalt aufmerksam zu machen. Zweitens: Ich glaube nicht, dass sich Menschen in einer Blase nur gegenseitig auf die Schulter klopfen. Ich erreiche zum Beispiel über Musik auch Menschen, die nicht meiner Überzeugung sind. Es ist einfach wichtig, dass alle Leute darüber Bescheid wissen, dass alle vier Tage eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird. Das ist wieder das Gleiche wie beim Thema Klimawandel. Du zeigst ein strukturelles Problem auf, das sind Fakten. Der nächste Punkt, der mich stört, ist, dass die Person vorgeschlagen hat, ich könnte Spenden sammeln. Ja, das könnte ich auch machen, aber das ändert nichts an dem Problem. Das ist viel größer. Wir müssen einfach mal aufhören, Probleme immer so krass zu individualisieren und versuchen, die Struktur dahinter zu verstehen und anzugreifen. Wir müssen zusammenstehen und -halten, auch wenn wir in manchen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Aber dafür brauchen wir eine breitere Masse.
MZEE.com: Sind soziale Medien diesbezüglich ein Fluch oder ein Segen in deinen Augen?
Presslufthanna: Sowohl als auch. Ich finde es schon geil, dass man dadurch viel schneller an Informationen kommt. Auf sozialen Medien sieht man aber auch immer nur einen Bruchteil einer Thematik. Außerdem kotzen manche einfach ihre Meinung da rein und die verpufft im Nichts. Oder eine andere Person nimmt etwas falsch auf und findet es voll scheiße. Es kann viel missverstanden werden, deswegen finde ich, dass nicht alle Diskussionen immer in den sozialen Medien geführt werden müssen.
MZEE.com: Mit dem Einstehen für moralische Prinzipien in den sozialen Medien ist der eher abwertende Begriff "Virtue Signaling" verknüpft. Er beschreibt das demonstrative Zurschaustellen der eigenen moralischen Korrektheit auf Social Media. Gibt es für dich eine Grenze zwischen glaubhaftem Beweisen von Moral und bloßer Selbstdarstellung?
Presslufthanna: In erster Linie bin ich nicht die Person, die zu entscheiden hat, was ein Beweis von Moral und was Selbstdarstellung ist. Ich stehe nicht moralisch über allen anderen Menschen. Deswegen würde ich zum Beispiel nie so eine Nachricht schreiben, wie die zu meinen Posts über Femizide, über die wir vorhin gesprochen haben. Man kann doch von außen gar nicht sehen, was die Leute am Ende wirklich machen, ob sie auch ihr Verhalten reflektiert haben oder ob sie sich auch auf der Straße für etwas einsetzen. Deswegen fände ich es toll, wenn Social Media nicht so oft eine riesige Rolle spielt. Es zeigt eben immer nur einen Ausschnitt. Klar gibt es Fälle, bei denen ich mir denke: "Okay, du postest das zwar, aber in deinem Handeln erkenne ich das nicht." Natürlich ist es räudig, wenn du dich absichtlich nur über deine Posts definierst und gar nicht danach handelst. Dann bist du weniger ernst zu nehmen. Aber wir sind doch alle nicht vollkommen und auch nur Menschen, die Fehler machen.
MZEE.com: Ich denke auch, dass der Zusammenhang zwischen Posting- und Realverhalten überschätzt wird. Von Menschen, die sich für eine Sache einsetzen, wird generell oft erwartet, dass sie in jeglicher Hinsicht perfekt sind: "Du bist vegan, aber fliegst trotzdem in den Urlaub? Du gehst auf eine Demo von Fridays for Future, aber lässt dich mit dem Auto dort hinfahren?" Genau so wird Leuten, die politisch aktiv sind, teilweise unterstellt, dass sie nicht genug machen.
Presslufthanna: Genau. Das ist voll der Bullshit. Woher nimmt man eigentlich diesen Anspruch? Das finde ich echt unangenehm. Wir können uns jetzt ewig darüber aufregen, dass ich irgendwas gepostet habe und dann selbst gar nicht auf der Demo war. Aber dadurch verlieren wir schon wieder den Blick für das eigentliche Problem. Diese Grabenkämpfe, dieses Individualisieren von strukturellen Problemen, das geht mir in sämtlichen Diskursen langsam auf die Eier.
MZEE.com: Lass uns zum Abschluss über ein leichteres Thema sprechen. Inwiefern siehst du Musik oder Kultur im Allgemeinen in der Verantwortung, der Gesellschaft moralische Prinzipien mit auf den Weg zu geben?
Presslufthanna: Dazu sage ich jetzt etwas ganz Schlaues. (grinst) Ich sehe da alle in der Verantwortung und gleichzeitig niemanden. Ich bin der Meinung, wir sind gesamtgesellschaftlich dafür verantwortlich, dass Gesetze wie das EU-Asylrecht nicht so beschlossen werden können. Auch dass die AfD in Umfragen gerade bei 19 Prozent steht, geht uns alle etwas an. Da könnten mehr Leute Haltung beziehen, und das gilt auch in der Musik. Vielleicht sind das aber gerade die Leute, die auf die Straße gehen. Warum müssen sie es dann in ihrer Musik machen? Am Ende sollte das jeder Mensch selbst entscheiden.
MZEE.com: Du meintest dennoch, dass mehr Künstler:innen in ihrer Musik Haltung zeigen könnten. Kommt deutscher Rap seiner Verantwortung hier also nicht zur Genüge nach?
Presslufthanna: So negativ würde ich das gar nicht sehen. Ich finde, dass es da schon eine Entwicklung gibt. Apsilon, NANTI, Alice Dee – es gibt voll viele junge Künstler:innen, die da am Start sind. Das finde ich stabil und echt geil.
MZEE.com: Angenommen, du müsstest deine eigene Kunst unter einem zentralen moralischen Prinzip zusammenfassen, welches du an deine Hörer:innen vermitteln möchtest. Was wäre die Botschaft von Presslufthanna?
Presslufthanna: Sauft nicht so viel. (lacht)
(Enrico Gerharth & Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Janina Wagner)