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Kommentar

Eine Doppelmoral – unser Umgang mit sexualisierter Gewalt

Sexua­li­sier­te Gewalt ist auch in der deut­schen HipHop-​Szene kei­ne Sel­ten­heit. Aber wie kon­se­quent gehen wir damit um? Über Dop­pel­mo­ral und wie­so wir damit auch gesell­schaft­lich nicht weiterkommen.

An die­ser Stel­le möch­ten wir Gedan­ken zu aktu­el­len Gescheh­nis­sen aus dem Deutschrap-​Kosmos zum Aus­druck brin­gen. Die jeweils dar­ge­stell­te Mei­nung ist die des:der Autor:in und ent­spricht nicht zwangs­läu­fig der der gesam­ten Redak­ti­on – den­noch möch­ten wir auch Ein­zel­stim­men Raum geben.

Im Fol­gen­den setzt sich unse­re Redak­teu­rin San­dra mit der Dop­pel­mo­ral der deut­schen HipHop-​Szene im Umgang mit sexua­li­sier­ter Gewalt auseinander.

 

Taten sagen mehr als Wor­te. Das gilt auch für das Can­celn von Tätern. Unse­re bun­ten, femi­nis­ti­schen Instagram-​Kacheln zum The­ma sexua­li­sier­te Gewalt sind nich­tig, wenn sie im Fall der Fäl­le eben nur das blei­ben: bun­te Kacheln. Erst wenn es ums Han­deln geht, zeigt sich, wie inter­na­li­siert unse­re Wer­te wirk­lich sind und wel­che Dop­pel­mo­ral mit ihnen ein­her­geht. Denn Per­so­nen wer­den meist nur dann boy­kot­tiert, wenn es gera­de passt – immer dann, wenn unse­re Bubble dahin­ter­steht. Wenn es eben bequem ist. Wir, die sich mit The­ma­ti­ken wie Femi­nis­mus, Sexis­mus und Co. stän­dig aus­ein­an­der­set­zen, sind oft so lan­ge woke, bis unser liebs­ter Artist oder jemand aus unse­rem Umfeld sich als zu can­celn­der Kan­di­dat ent­puppt. Das gilt nicht exklu­siv, aber unab­ding­bar auch für die HipHop-Szene.

Hier geht es nicht um indi­vi­du­el­le Schick­sa­le oder um expli­zi­te Schuld­zu­wei­sun­gen. Es geht dar­um, uns unse­re eige­ne Dop­pel­mo­ral bewusst zu machen. Denn jedem Men­schen, der das hier liest, fällt mit Sicher­heit auf Anhieb ein HipHop-​Künstler ein, dem sexua­li­sier­te Gewalt eher zuzu­trau­en wäre als manch ande­rem. Voll­tä­to­wier­te, breit gebau­te Män­ner mit grim­mi­gem Blick, ger­ne auch mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund – soweit das Vor­ur­teil. Gerät hier ein Gewalt­akt phy­si­scher oder psy­chi­scher Natur gegen eine Frau an die Öffent­lich­keit, bei­spiels­wei­se im Fal­le von R. Kel­ly, stür­zen sich die Medi­en dar­auf wie Enten auf Brot­kru­men. End­lich wird das Pro­blem benannt. Und dann, wenn auch nach lan­gem Zögern und vie­len Pro­tes­ten, pas­siert etwas: Kon­zer­te oder Inter­views wer­den abge­sagt, Täter wer­den ver­ur­teilt. Das macht Hoff­nung. Schein­bar kom­men wir in die­ser Sze­ne ein Stück wei­ter – und damit auch ein wenig in einer Gesell­schaft, in der jede drit­te Frau von kör­per­li­cher oder sexua­li­sier­ter Gewalt betrof­fen ist. Viel­leicht bringt uns das ver­damm­te Can­celn ja doch etwas. Zumin­dest set­zen wir mit die­ser Sei­te unse­rer Moral etwas in Bewegung.

Die ande­re Sei­te lässt uns schlech­ter aus­se­hen. Denn wie ver­hal­ten wir uns, wenn der Beschul­dig­te eben nicht der Bilderbuch-​Rüpelrapper ist, in dem wir schnell den Schul­di­gen sehen, son­dern der net­te Rap­per von neben­an? Die Schuld­zu­wei­sun­gen, die uns bei Erst­ge­nann­tem noch so leicht über die Lip­pen kamen, behal­ten wir jetzt lie­ber für uns. Wir wol­len ein­fach nicht glau­ben, dass die­ser radio- und fern­seh­taug­li­che Artist zu so etwas imstan­de ist. Media­le Bericht­erstat­tung? Wirk­lich nur das Aller­nö­tigs­te. Das Ver­fah­ren gegen kör­per­li­che Gewalt wur­de fal­len­ge­las­sen? Dann ist auch nie etwas pas­siert. Wenn dann auch noch die betrof­fe­ne Frau kei­ne Aus­kunft gibt und sich aus der Öffent­lich­keit zurück­zieht – ja, das ist ihr gutes Recht –, könn­te der Fall nicht kla­rer sein. Lasst uns also kol­lek­tiv erleich­tert auf­at­men: Unser Bauch­ge­fühl war kor­rekt. Wir kön­nen wei­ter mit dem Künst­ler abkum­peln, sei­ne Bei­trä­ge mit Herz­chen kom­men­tie­ren, ihn auf Fes­ti­vals ein­la­den und das Radio­pro­gramm mit sei­nen Hits gestal­ten, denn es ist ja nichts passiert.

Aber genau hier liegt die Krux: Fal­len­ge­las­se­ne Ver­fah­ren oder Frei­sprü­che bedeu­ten nicht gleich, unschul­dig zu sein. Eine per Social Media ver­öf­fent­lich­te Non­po­lo­gy, die als­bald wie­der gelöscht wird, ist gleich­gül­tig, inhalts­los, schnell ver­ges­sen. Wenn betrof­fe­ne Frau­en Anzei­gen gar nicht erst stel­len, sie zurück­zie­hen oder selbst die Tat ver­nei­nen, dann liegt das nicht zwin­gend dar­an, dass eine Tat nie gesche­hen ist, son­dern viel­leicht dar­an, dass der öffent­li­che Back­lash Betrof­fe­nen meist noch den Rest geben wür­de. Um das in Zah­len aus­zu­drü­cken: Laut einer Stu­die des Bun­des­kri­mi­nal­amts von 2020 wer­den gera­de ein­mal 1 Pro­zent der Sexu­al­de­lik­te in Deutsch­land zur Anzei­ge gebracht. Oft ist es auch egal, ob es offi­zi­el­le Poli­zei­be­rich­te gibt, wenn die Ver­bre­chen nicht wei­ter ver­folgt wer­den. Even­tu­ell erin­nern sich eini­ge von Euch dar­an, wie in der Ver­gan­gen­heit mit Frau­en in sol­chen Situa­tio­nen in der HipHop-​Szene und natür­lich auch dar­über hin­aus umge­gan­gen wur­de. Wir erspa­ren Euch die Recher­che: Ihnen wer­den Lügen vor­ge­wor­fen, die Fan­ba­se der beschul­dig­ten Künst­ler belei­digt sie aufs Übels­te – wie man gera­de an den aktu­el­len Miss­brauchs­vor­wür­fen bei Till Lin­de­mann beob­ach­ten kann – und es wird sogar mit Anwäl­ten oder Schlim­me­rem gedroht.

Zurück zu besag­ter Dop­pel­mo­ral: Dem ver­meint­li­chen Rüpel­rap­per wür­de man vie­les nicht durch­ge­hen las­sen. An die­ser Stel­le schwin­gen dann auch latent ras­sis­ti­sche Ten­den­zen mit, denn es darf sich ruhig die Fra­ge gestellt wer­den, wie­so es bei einem Artist, der nicht dem Ottonormal-​Deutschen ent­spricht, so leicht fällt, an Schuld zu glau­ben. Doch wer kann schon dem wei­ßen Lieb­lings­rap­per, den selbst Mama hört, böse sein? Na, eben: nie­mand. Des­halb wer­den sol­che Künst­ler nicht so schnell gecan­celt. Sie wer­den auch weni­ger bis gar nicht kri­tisch betrach­tet, ihre Fäl­le medi­al kaum behan­delt. Die HipHop-​Szene äußert sich dazu eben­so wenig. Trau­ri­ger­wei­se hal­ten auch die ihren Mund, die sonst das gan­ze Jahr lang den Femi­nis­mus zele­brie­ren, als wäre er ihr Erstgeborenes.

Nein, mit die­ser Dop­pel­mo­ral bringt es über­haupt nichts, Kon­zer­te abzu­sa­gen, Platt­for­men zu ver­wei­gern oder die Musik nicht mehr zu hören. Solan­ge inner­halb der HipHop-​Szene, aber auch gesamt­ge­sell­schaft­lich bestimm­ten Per­so­nen ein Frei­fahrt­schein ver­passt wird, weil sie sonst doch so nett sind oder in das "Vorzeige-Mann"-Schema pas­sen, ver­än­dert sich gar nichts. Mit die­ser Inkon­se­quenz wird der Sexismus-​Diskurs ein­fach nur in eine Ecke ver­scho­ben, in die er eben gut zu pas­sen scheint. Auf die Stra­ße, zu den super­kras­sen Gangster-​Rappern, zu denen, von denen man es eben erwar­tet – was auch immer das bedeu­ten mag.

(San­dra)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)