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Interview

Kerosin95 – ein Gespräch über Queerfeindlichkeit

"Mit wei­ßen hete­ro Künstler:innen und sanf­ten Inhal­ten macht man viel Geld. Je radi­ka­ler, je quee­rer, je femi­nis­ti­scher es wird, des­to sel­te­ner über­le­ben die­se Acts in der Musik­in­dus­trie." – Kerosin95 im Inter­view über que­er­feind­li­che Struk­tu­ren in der Musikindustrie.

Trig­ger­war­nung: In die­sem Arti­kel wird queer- und trans*-feindliche Gewalt beschrie­ben. Falls Euch das trig­gert, soll­tet Ihr hier viel­leicht nicht weiterlesen.

Ende August 2022 in Müns­ter: Der trans* Mann Mal­te C. eilt zwei quee­ren Frau­en zu Hil­fe, die am Ran­de des Chris­to­pher Street Days auf offe­ner Stra­ße von einem Mann bedroht und mit que­er­feind­li­chen Aus­sa­gen belei­digt wer­den. Der Angrei­fer schlägt dar­auf­hin mehr­fach auf ihn ein. Mal­te C. erlei­det schwe­re Kopf­ver­let­zun­gen und ver­stirbt weni­ge Tage spä­ter in einem Kran­ken­haus. Die­ses erschüt­tern­de Ereig­nis mar­kiert einen wei­te­ren Tief­punkt in der Lis­te an Feind­lich­kei­ten, denen que­e­re und trans* Per­so­nen inmit­ten unse­rer Gesell­schaft tag­täg­lich im Klei­nen wie im Gro­ßen aus­ge­setzt sind. Das gilt auch für eini­ge Künstler:innen der deutsch­spra­chi­gen Rap­sze­ne wie bei­spiels­wei­se Kerosin95 aus Wien. Kero­sin ist trans* und ver­zich­tet im Deut­schen in Bezug auf die eige­ne Per­son auf die Ver­wen­dung von Pro­no­men. Auf der 2022 erschie­ne­nen EP "Trans Agen­da Dynas­tie" wird Frust ent­la­den und Kero­sin wid­met sich all den Unge­rech­tig­kei­ten, mit denen trans* Per­so­nen Tag für Tag kon­fron­tiert wer­den. "Es gibt end­lich auf die Fres­se, das geschieht euch recht. Ich und mei­ne trans* Cuties fei­ern heut' ein Fest", heißt es auf dem gleich­na­mi­gen Titel­track der EP. Die Mes­sa­ge ist klar: Que­e­res Leben ist kei­ne aus­ge­dach­te Agen­da, son­dern die Rea­li­tät vie­ler Men­schen – und es ist an der Zeit, dafür ein­zu­ste­hen. Dass dies nicht an quee­ren Artists selbst hän­gen blei­ben darf und auch gro­ße, nicht-​queere Rapper:innen mehr Ver­ant­wor­tung über­neh­men sol­len, for­der­te Kerosin95 in unse­rem Inter­view eben­so deut­lich ein wie auf "Trans Agen­da Dynas­tie". Außer­dem ging es um que­er­fein­di­che Struk­tu­ren in der Musik­in­dus­trie sowie die Fra­ge, was Medi­en und wir selbst bes­ser machen können.

MZEE​.com: Wir spre­chen heu­te über ein sehr sen­si­bles The­ma mit dir. Du woll­test vor­ab wis­sen, ob wir selbst Teil der quee­ren Com­mu­ni­ty sind. Wel­che Befürch­tun­gen oder Über­le­gun­gen wer­den auto­ma­tisch bei dir aus­ge­löst, wenn du dar­über nach­denkst, mit Men­schen über Que­er­feind­lich­keit zu spre­chen, die selbst nicht davon betrof­fen sind?

Kerosin95: Ich habe bei cis oder hete­ro Per­so­nen oft das Gefühl gehabt, dass die Inter­views unglaub­li­che Zeit­ver­schwen­dung waren, weil die Lebens­rea­li­tä­ten der Per­so­nen weit weg von mei­ner waren. Ent­we­der war ich ein Lexi­kon, das Din­ge erklärt, die man auch goo­geln kann, und habe mich gefühlt, als müss­te ich unbe­zahlt Auf­klä­rungs­ar­beit leis­ten. Oder die Inter­views waren in sich trans*- bezie­hungs­wei­se que­er­feind­lich. Das pas­siert stän­dig, auch im Klei­nen oder im Höf­li­chen. Nie­mand ist davon aus­ge­nom­men. Mei­ne Besties sind trans*feindlich. Auch ich bin trans*feindlich, obwohl ich trans* bin. Ab einem gewis­sen Maß kann das anstren­gend wer­den. Des­halb habe ich vor­ab gefragt, ob es in der Redak­ti­on que­e­re Per­so­nen gibt oder ob das Inter­view wie­der irgend­ein Fre­de­rik macht.

MZEE​.com: War­um hast du den­noch zuge­sagt, das Inter­view mit Per­so­nen zu füh­ren, die nicht Teil der quee­ren Com­mu­ni­ty sind?

Kerosin95: Das ist eine Fra­ge mei­ner Kapa­zi­tä­ten. Für mich bedeu­tet das hier, einen Raum zu betre­ten, den ich nicht ken­ne und in dem ich nicht weiß, was pas­siert. Ich muss mich davor fra­gen: "Habe ich gera­de einen Scheiß­tag oder nicht? Schaf­fe ich das emo­tio­nal? Schaf­fe ich es, zu kon­tern, wenn die Leu­te blöd wer­den?" Wenn ich die Kapa­zi­tä­ten habe, neh­me ich, was ich krie­gen kann, da es wich­tig ist, für das Pro­jekt Kerosin95 Publi­ci­ty zu krie­gen. Ich bin ein zu klei­ner Fisch in die­sem Game, um jedes Inter­view absa­gen zu kön­nen. Manch­mal kann ich die­se Arbeit aller­dings nicht leis­ten und schei­ße dar­auf. Gera­de ist die Zeit okay, des­halb geht es.

MZEE​.com: Uns ist das The­ma Que­er­feind­lich­keit ein Anlie­gen, weil sie lei­der regel­mä­ßig inmit­ten unse­rer Gesell­schaft statt­fin­det. Dass Que­er­feind­lich­keit tötet, haben nicht erst die letz­ten Mona­te gezeigt. Anfang Sep­tem­ber starb der trans* Mann Mal­te C. infol­ge eines tät­li­chen Angriffs am Ran­de des CSDs in Müns­ter. Im Okto­ber wur­den unweit dei­ner Hei­mat Wien in Bra­tis­la­va zwei Men­schen an einer Bar erschos­sen, die als Treff­punkt der loka­len quee­ren Sze­ne gilt. Wel­che Gefüh­le lösen sol­che Nach­rich­ten in dir aus?

Kerosin95: Solch eine Fra­ge bekom­me ich in Inter­views häu­fig gestellt. "Hey, es pas­sie­ren trans*feindliche Din­ge. Du bist doch trans*! Wie geht es dir damit?" Das ist eine wich­ti­ge Fra­ge, weil es dar­um geht, wie sich die Lebens­rea­li­tä­ten von trans* Per­so­nen ver­än­dern und wie die­se mit Angst umge­hen. Gleich­zei­tig ist es auch eine sehr per­sön­li­che Fra­ge, weil du mich etwas zu mei­nen Ängs­ten fragst. Die Ant­wort ist nicht span­nend: Es geht mir nicht gut mit sol­chen Nach­rich­ten. Es ist unheim­lich. Aber für mich ist das eine selbst­ver­ständ­li­che Fra­ge. Ich wür­de 100 Euro wet­ten, dass du mit die­ser Ant­wort gerech­net hast. Das gilt auch für die Fra­ge nach der Gewalt, die ich selbst jede Woche auf der Stra­ße in Wien erfah­re. Damit geht es mir auch nicht gut. Span­nen­der kann ich sol­che Fra­gen nicht beant­wor­ten. Wie geht es denn euch damit?

MZEE​.com: Ich kann schwer ein­schät­zen, war­um ich das The­ma ver­stärkt wahr­neh­me. Ent­we­der steigt gera­de die Akzep­tanz dafür und es fin­det des­halb häu­fi­ger in den Medi­en statt, ich bin selbst sen­si­bler für das The­ma gewor­den oder sol­che Vor­fäl­le wer­den gera­de ein­fach häufiger.

Kerosin95: Das Ding ist: Eigent­lich ist es kein The­ma, son­dern eine Lebens­rea­li­tät. Mein gesam­tes Umfeld besteht aus quee­ren und trans* Per­so­nen. Ich bin schon län­ger als ein Jahr­zehnt damit beschäf­tigt, mit psy­chi­scher und struk­tu­rel­ler Gewalt umzu­ge­hen. Des­halb ist die Fra­ge, wie es mir damit geht, auch viel zu groß und per­sön­lich. Man müss­te sie mit einem Buch beantworten.

MZEE​.com: Gibt es auch Momen­te, in denen du dich von der Gewalt abkap­seln kannst – zumin­dest, wenn sie dir gera­de nicht selbst widerfährt?

Kerosin95: Ich kann die Nach­rich­ten nicht lesen. Ich kann nicht auf Insta­gram sein. Ich kann im Win­ter in Wien in die Öffent­lich­keit, weil ich dann sehr oft als hete­ro cis Mann gele­sen wer­de. Die­ses Pri­vi­leg ist groß­ar­tig. Im Früh­ling, Som­mer und Herbst ist das näm­lich anders. Gene­rell ist es eine ticken­de Zeit­bom­be, weil frü­her oder spä­ter sowie­so wie­der etwas pas­siert. Im bes­ten Fall hat man mal ein paar Wochen Pau­se davon. Dann pas­siert aber Leu­ten aus mei­nem Umfeld etwas, also gibt es kei­ne rich­ti­gen Pau­sen. Das ist mei­ne Rea­li­tät und wird mein gan­zes Leben lang so sein. Man darf aber nicht ver­ges­sen, dass ich über Pri­vi­le­gi­en ver­fü­ge, die ande­re nicht haben. Ich bin eine wei­ße, dün­ne, ablei­sier­te trans* Per­son mit einem Job und einer Mie­te, die ich mir leis­ten kann.

MZEE​.com: Was könn­te man unter­neh­men, um dei­ne Sicher­heit in der Gesell­schaft zu erhöhen?

Kerosin95: Ich gebe dir eine von tau­send mög­li­chen Ant­wor­ten: Wählt trans* Politiker:innen wie Tes­sa Gan­se­rer in den Bun­des­tag. Wählt trans* Per­so­nen in den Land­tag, in den Bezirks­tag oder in den Stadt­rat. Trans* Per­so­nen müs­sen in die Poli­tik kom­men, weil sonst stän­dig cis oder hete­ro Per­so­nen über sie ent­schei­den, so wie über­all auf der Welt Bros über den Kör­per von Frau­en ent­schei­den. Hier gibt es schon gro­ße Bewe­gun­gen und Kämp­fe und cis Frau­en sind viel sicht­ba­rer in der Poli­tik gewor­den. Um die­se Sicht­bar­keit geht es. Wir müs­sen Leu­te wie Tes­sa Gan­se­rer sup­port­en, Peti­tio­nen star­ten und uns in unse­ren Krei­sen orga­ni­sie­ren. Ich muss das tun, weil es um mein Über­le­ben geht. Aber auch ihr könnt euch orga­ni­sie­ren, denn viel­leicht habt auch ihr in eurem Umfeld eine que­e­re Per­son, die ihr im Klei­nen sup­port­en könnt. Ladet trans* Per­so­nen und que­e­re Per­so­nen ein und hört zu, was ihnen wich­tig ist.

MZEE​.com: Orte, an denen sich orga­ni­siert wird, sind bei­spiels­wei­se Kon­zer­te oder Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen. Durch die Pan­de­mie haben die­se Orte, die für vie­le Com­mu­ni­tys Safe Spaces dar­stel­len kön­nen, lan­ge Zeit gefehlt. Was hat die­ses Feh­len für dich bedeutet?

Kerosin95: Ich habe ein bestimm­tes Ver­hält­nis zu dem Wort Safe Space. Ich war nur in ganz weni­gen Situa­tio­nen in mei­nem Leben in Spaces, die ich als wirk­lich sicher bezeich­nen wür­de. Mein ein­zi­ger rich­ti­ger Safe Space ist mein pri­va­tes Umfeld. Ansons­ten spre­che ich lie­ber von Safer Spaces. Wenn ich zum Bei­spiel auf eine Ver­an­stal­tung gehe, die domi­niert ist von wei­ßen trans* Per­so­nen, dann ist das viel­leicht für mich ein etwas siche­re­rer Space. Aber eigent­lich müs­sen wir beim The­ma Safe Space inter­sek­tio­nal und viel grö­ßer den­ken. Es geht auch um Reli­gi­on, Haut­far­be, Sexua­li­tät oder Behin­de­run­gen und hat für mich gar nicht so viel mit der Pan­de­mie zu tun. Durch COVID wur­de zwar viel weg­ge­nom­men oder in digi­ta­le Räu­me ver­la­gert, die auch pro­ble­ma­tisch sein kön­nen, aber eigent­lich gab es auch davor kaum wirk­li­che Safe Spaces. Ich per­sön­lich füh­le mich viel­leicht ein­mal im Jahr voll safe auf einer Ver­an­stal­tung in Wien. Man denkt das viel­leicht, aber auch Kerosin95-​Konzerte sind kei­ne Safe Spaces. Dort sol­len so vie­le Men­schen wie mög­lich ein so gutes Gefühl wie mög­lich haben, aber das ist bei Ver­an­stal­tun­gen nicht nur von mir, son­dern auch von Organisator:innen und ande­ren betei­lig­ten Per­so­nen abhängig.

MZEE​.com: Ist es gar nicht mög­lich, Safe Spaces zu schaf­fen, ohne dass alle an einem Kon­zert betei­lig­ten Per­so­nen selbst Teil der quee­ren Com­mu­ni­ty sind?

Kerosin95: Doch, ich glau­be schon, aber dann müs­sen die Betei­lig­ten auf Zack sein. Grund­sätz­lich ist es schon etwas ande­res für mich, wenn ich bei­spiels­wei­se auf ein Fes­ti­val gehe und mich dort ein que­e­res Line-​Up erwar­tet, als wenn ich, wie so oft, die ein­zi­ge trans* Per­son in einem Back­stage vol­ler Men­schen bin, die ich als hete­ro cis Män­ner lese. Es gab aller­dings auch schon vie­le Orte, an denen ich gemerkt habe, dass sich die Veranstalter:innen zumin­dest grund­le­gend damit aus­ein­an­der­ge­setzt haben. Das ist cool zu sehen, auch wenn dafür nie­mand einen Pokal, eine Medail­le oder ein extra­gro­ßes Dan­ke bekom­men soll­te. Oft ist es näm­lich so, dass que­e­re Per­so­nen die­se Jobs aus Selbst­ver­ständ­lich­keit machen und dafür kei­ne extra Cre­dits bekom­men, wäh­rend hete­ro oder cis Per­so­nen dafür gelobt wer­den, wenn sie sich mal grund­le­gend mit quee­ren Per­spek­ti­ven beschäftigen.

MZEE​.com: Du sag­test eben, dass auch dei­ne eige­nen Kon­zer­te für dich kei­ne Safe Spaces dar­stel­len. Du behan­delst in dei­ner Musik vie­le que­e­re The­men und gehst sehr offen mit dei­ner Iden­ti­tät um – nicht zuletzt auch, indem du Inter­views wie die­ses gibst. Damit bie­test du ver­mut­lich viel Angriffs­flä­che für Que­er­feind­lich­keit. In einem ande­ren Inter­view hast du gesagt, dass der Hass, mit dem du kon­fron­tiert wirst, auch dir manch­mal nahe­geht und es nicht immer ein­fach ist, so viel von sich preis­zu­ge­ben. Woher nimmst du die Kraft, es den­noch regel­mä­ßig zu tun?

Kerosin95: Ich schöp­fe die Kraft zum Groß­teil aus mei­ner Com­mu­ni­ty, aber auch aus Sport, gutem Essen oder Tagen mit Son­nen­schein. Das bringt mir alles Ener­gie. Genau wie die Hoff­nung, dass die Auf­klä­rungs­ar­beit, die ich in Inter­views oder bei ande­ren Gele­gen­hei­ten leis­te, euch oder den Leu­ten etwas mit­gibt. Wie ihr merkt, bin ich mitt­ler­wei­le ehr­lich und direkt. Noch vor einem Jahr habe ich in Inter­views immer sehr höf­lich geant­wor­tet und immer das Glei­che her­un­ter­ge­be­tet. Jetzt rede ich auch mal über die Struk­tur von Fra­gen und hof­fe, dass dar­aus für das nächs­te Inter­view mit einer trans* Per­son etwas mit­ge­nom­men wird.

MZEE​.com: Du sag­test auch mal, dass du nicht unbe­dingt die Rol­le eines Vor­bilds ein­neh­men möch­test. Siehst du dich den­noch als Sprach­rohr der öster­rei­chi­schen oder deutsch­spra­chi­gen LGBTQIA+-Community im Rap?

Kerosin95: Ich ver­su­che, als Per­son in der Öffent­lich­keit Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Ich fin­de das schräg, aber mein Arbeits­platz ist die Öffent­lich­keit. Die­ses Inter­view ist eine von vie­len Büh­nen und ich möch­te sie nicht nur eigen­nüt­zig, son­dern ver­ant­wor­tungs­voll nut­zen, um mei­nen Teil der Arbeit zu machen. Lei­der wird in der Indus­trie die meis­te Arbeit von quee­ren und trans* Per­so­nen gemacht. Ich wün­sche mir, dass sich das ändert und auch die vie­len Bros und cis Frau­en im Game sich mal über­le­gen, wofür sie ihre Büh­nen nut­zen wol­len. Ob ich eine Vor­bild­funk­ti­on für Leu­te habe oder ihnen über­haupt etwas mit­ge­be, kann ich sowie­so nicht beein­flus­sen. Ich kann nur mei­nen Teil dazu bei­tra­gen und freue mich, wenn die­se Arbeit nicht umsonst ist.

MZEE​.com: Was kann ein:e cis Rapper:in tun, um mehr Auf­merk­sam­keit und Raum für que­e­res Leben zu schaf­fen, damit dies nicht immer nur an den betrof­fe­nen Künstler:innen selbst hän­gen bleibt?

Kerosin95: Die könn­ten ein­fach mal anfan­gen, dar­über zu reden, und nicht immer die Fres­se hal­ten. Ich fin­de das pein­lich. Leu­te machen ein­fach ihre Kar­rie­ren, fei­ern ihre Erfol­ge und gön­nen es sich dabei, in ihrem gesam­ten Han­deln unpo­li­tisch zu blei­ben. Das ist so was von 2010 und ein­fach pein­lich. Lass uns doch mal in zehn Jah­ren auf die Kar­rie­re von Yung Hurn zurück­bli­cken. Was wird er geleis­tet haben? Er wird nichts zur Gesell­schaft bei­getra­gen haben. Und was haben im Ver­gleich dazu trans* Per­so­nen schon heu­te an Struk­tu­ren ver­än­dert? In nur weni­gen Jah­ren sehr viel. In mei­nen Augen muss Kunst poli­tisch sein und es gibt tau­send Mög­lich­kei­ten, das umzu­set­zen. Lei­der ist es vie­len Künstler:innen aber kom­plett egal. Sie inter­es­sie­ren sich nicht für ande­re Lebens­rea­li­tä­ten, struk­tu­rel­le Gewalt oder wer da mit ihnen im Back­stage sitzt. Irgend­wann kom­men sie schon noch dar­auf, aber ich befürch­te erst spät.

MZEE​.com: Auch als Hörer:in könn­te man ja Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Es gibt eini­ge alt­ein­ge­ses­se­ne und erfolg­rei­che Rapper:innen, die schon ihre gan­ze Kar­rie­re lang mit homo­pho­ben Aus­sa­gen auf­fal­len. Wie soll­te ich in dei­nen Augen damit umge­hen, wenn ich Musik kon­su­mie­re, die nicht frei von Dis­kri­mi­nie­rung ist?

Kerosin95: Das ist eine schwie­ri­ge Fra­ge. Ich den­ke, es geht nicht um die Fra­ge, ob man bei jedem Song, den man hört, auf­pas­sen muss. Auch ich fin­de ein paar Pro­duk­tio­nen von Yung Hurn geil. Ich höre auch ger­ne Haft­be­fehl, weil er kras­sen Klas­sen­kampf als Musik macht, auch wenn er teil­wei­se sexis­ti­sche Tex­te rappt. Ich fin­de, man kann dann dif­fe­ren­zie­ren. Ich kann den Sexis­mus anstatt den gesam­ten Text kri­ti­sie­ren. Man soll­te als Hörer:in einen grö­ße­ren Betrach­tungs­win­kel ein­neh­men und sich fra­gen: "Wie betei­li­gen wir uns sonst an que­er­fe­mi­nis­ti­schen Kämp­fen?" Wir müs­sen nicht alle unse­re Play­lists aus­räu­men, son­dern über­le­gen, wo wir Ver­ant­wor­tung über­neh­men, wel­che Bücher wir lesen, wo wir arbei­ten und für was wir Geld sam­meln kön­nen. Und man könn­te über­le­gen, ob man auch noch sämt­li­chen Merch von bestimm­ten Künstler:innen kau­fen muss, wenn man schon deren Musik hört.

MZEE​.com: Über­nimmt die Musik­in­dus­trie in dei­nen Augen auch Ver­ant­wor­tung oder behin­dert sie eine Entwicklung?

Kerosin95: Die Musik­in­dus­trie ist ein Zusam­men­schluss von Leu­ten, denen es dar­um geht, Geld zu erwirt­schaf­ten. Das muss in der Theo­rie nichts Schlim­mes sein, aber wenn es um Geld geht, geht es meis­tens auch um Bull­shit. Die Musik­in­dus­trie ist da genau wie jede ande­re Wirt­schaft. Die sagen: "Wir wol­len Koh­le machen. Die Inhal­te sind uns scheiß­egal." Die wis­sen genau, wel­che Künstler:innen funk­tio­nie­ren. Mit wei­ßen hete­ro Künstler:innen und sanf­ten Inhal­ten macht man viel Geld. Je radi­ka­ler, je quee­rer, je femi­nis­ti­scher es wird, des­to sel­te­ner über­le­ben die­se Acts in der Musik­in­dus­trie. Aus die­sem Grund wer­de ich als Kerosin95 auch nie­mals viel Koh­le machen. Ich will das zwar auch gar nicht und wür­de das Geld sowie­so wie­der umver­tei­len, aber so funk­tio­niert die Musik­in­dus­trie. Es ist ein gefähr­li­cher Ort für trans* Per­so­nen und que­e­re Leu­te. Die trans*feindlichen oder sexis­ti­schen Leu­te über­le­ben dar­in län­ger. Das sehen wir, wenn wir mal die deut­schen oder öster­rei­chi­schen Charts ansehen.

MZEE​.com: Denkst du, dass die­ses Pro­blem im deutsch­spra­chi­gen Raum beson­ders aus­ge­prägt ist?

Kerosin95: Wenn wir mal in die USA bli­cken, gibt es dort bei­spiels­wei­se mit Lil Nas X, Sam Smith oder Kim Petras que­e­re und trans* Per­so­nen, die regel­mä­ßig in den Charts sind. Jetzt gera­de ist der Song "Unho­ly" von Sam Smith und Kim Petras auf Platz drei in den Bill­board Charts. Das ist rich­tig groß. In Deutsch­land und Öster­reich ist man wie immer gefühlt 100 Jah­re hin­ter­her. Es ist pein­lich, sich anzu­schau­en, wer in der öster­rei­chi­schen Musik­in­dus­trie Geld macht. Es sind immer die glei­chen Gesich­ter wei­ßer cis Män­ner und das ändert sich nur lang­sam. Das spie­gelt sich auch in der Poli­tik wider. In den USA gibt es eini­ge trans* Politiker:innen. In Öster­reich fal­len mir kei­ne ein.

MZEE​.com: Mit Kim de l'Horizons "Blut­buch" hat que­e­re Lite­ra­tur die­ses Jahr den deut­schen Buch­preis gewon­nen, auch ande­re Bücher wie "Detran­si­ti­on, Baby" oder "Dschin­ns" fei­ern gro­ße Erfol­ge. Gibt es viel­leicht Hoff­nung, dass wir uns doch auf einem rich­ti­gen Weg befin­den und sich die Struk­tu­ren ändern?

Kerosin95: Ja, aber es ist ein lan­ger Weg. Ich bin jetzt 27 Jah­re alt und wer­de zu 100 Pro­zent nicht mehr erle­ben, dass ich in Öster­reich einen drit­ten Geschlechts­ein­trag bekom­me. Es pas­sie­ren coo­le Din­ge, aber es geht mir viel zu langsam.

MZEE​.com: Was fehlt dir in Inter­views wie die­sem und gibt es The­men, bei denen du es scha­de fin­dest, dass sie nie bespro­chen werden?

Kerosin95: Es wäre wirk­lich wich­tig, dass die­se Inter­views von quee­ren oder trans* Per­so­nen geführt wer­den, wenn die Mög­lich­keit dazu besteht. Natür­lich ken­ne ich nicht die Struk­tu­ren ein­zel­ner Redak­tio­nen, aber wenn die Leu­te wirk­lich wol­len, fin­den sich sicher Möglichkeiten.

MZEE​.com: Ich kann das nur aus unse­rer War­te beur­tei­len, aber ich kann mir vor­stel­len, dass que­e­re Journalist:innen viel­leicht kei­ne Lust dar­auf haben, sich bei rei­nen HipHop-​Magazinen zu bewer­ben, da man sich auto­ma­tisch auch mit que­er­feind­li­chen Tex­ten, Aus­sa­gen und Men­schen aus­ein­an­der­set­zen muss.

Kerosin95: Viel­leicht muss man exter­ne Per­so­nen hin­zu­zie­hen, wenn in einer Redak­ti­on kei­ne quee­ren Leu­te sind. So wür­den auch que­e­re Journalist:innen, von denen es genug gibt, mehr Sicht­bar­keit erhal­ten. Das wür­de einen gro­ßen Unter­schied machen. Man­che Leu­te regen sich dar­über auf so wie bei Schwar­zen Rapper:innen, die kei­ne Inter­views mit wei­ßen Per­so­nen machen. Ich fin­de, das ist das Sinn­volls­te über­haupt und soll­te unbe­dingt so gemacht wer­den. Davon abge­se­hen fin­de ich Fra­gen wie zu Beginn die­ses Inter­views oft sehr groß und fän­de es span­nen­der, wenn man mehr ins Detail gehen wür­de. Wenn man über que­er­fe­mi­nis­ti­sche Kämp­fe und Struk­tu­ren spricht, kann das sonst schnell eine Ebe­ne errei­chen, die für eini­ge Leser:innen kryp­tisch und unzu­gäng­lich klingt.

(Yas­mi­na Ross­meisl & Enri­co Gerharth)
(Fotos von Han­na Fasching)