Das erste Konzert, das man ohne Eltern besuchen durfte. Nachts alleine auf der Autobahn und den gleichen Song immer und immer wieder hören, weil man nicht fassen kann, wie gut er ist. Der Track, den man mit den Freund:innen von früher laut grölend auf jeder Party mitgesungen hat. Vermutlich kennt jeder Mensch diesen Moment: Es läuft ein bestimmtes Lied oder Album, das einen direkt emotional in eine Situation zurückversetzen kann, nostalgisch werden lässt oder einfach nur aufgrund seiner Machart immer wieder zum Staunen bringt. Und genau darum geht es in unserem Format "DIGGEN mit …". Wir diggen mit verschiedenen Protagonist:innen der Szene in ihren gedanklichen Plattenkisten und sprechen über Musik, die diese Emotionen in ihnen auslöst. Dafür stellen unsere Gäste jeweils eine eigene Playlist mit Songs zusammen, die sie bewegen, begeistern und inspirieren.
Der Journalist Jan Kawelke kuratiert für uns – getreu dem Motto "Rap & Politik" seines Podcasts "Machiavelli" – eine Playlist, die nicht nur deutsche und englische Songs zusammenbringt, sondern auch die Ukraine, die Türkei und Kurdistan musikalisch vereint. In unserem dazugehörigen Interview sprach er über viele politische Themen, die für ihn in den Tracks perfekt aufgegriffen werden. Dabei findet er besonders schön, dass Rapper:innen inzwischen gesellschaftlich relevante Musik machen, die nicht nach Uni-Vorlesung klingt, sondern sich perfekt dazu eignet, im Auto oder sogar im Club zu viben. So teilte er mit uns seine Gedanken zu Trettmanns "Stolpersteine" auf dem splash! Festival, Fragen, die Ebow auf ihrem neuen Album aufwirft, und den ehrlichen, aber dadurch auch unbequemen Worten von Kendrick Lamar.
1. Jorja Smith & OG Keemo feat. WDR Funkhausorchester – Blue Lights x 216 - Machiavelli Sessions (prod. by Georg Niehusmann)
Jan Kawelke: (zögert) Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wenn ich den Titel lese oder an dem eingerahmten Zettel der ersten Partitur in meiner Wohnung vorbeilaufe, bin ich sofort bewegt. Das ist ein Lebenstraum, den wir uns und ich mir ganz persönlich erfüllt haben – die Möglichkeit zu haben, rumzuspinnen, hoch zu zielen und zu treffen. Das live auf der Bühne zu sehen und dann auch diese Resonanz zu bekommen, werde ich niemals vergessen. Ich muss oft daran denken, wie wir über ein Jahr lang immer wieder gezittert haben und wenn ich mir vor Augen führe, was wir eigentlich mit diesem Projekt durchlebt haben, macht mich das jedes Mal wieder sehr demütig. Die Ursprungsidee von Machiavelli war auch, die Kultur zu fördern. Denn es wird zwar immer wieder die Debatte geführt, ob man von einer Deutschrap-Szene sprechen kann, aber es gibt trotzdem zumindest einen Teil von Leuten, die sich mit dem Anspruch, den wir an diese Kultur haben, identifizieren können. Es ist auch okay, wenn Leute einen anderen Anspruch haben, aber uns ist es wichtig, diese Form der Kultur – also politischen Rap – zu fördern und ihm eine größtmögliche Bühne zu geben. Auch für alle, die nachkommen und auf die das eine Strahlkraft haben kann. Und das ist damit gelungen. Wir haben das international wichtige Thema rassistische Polizeigewalt mit den beiden Songs aufgegriffen, die auf irgendeine Art schicksalhaft zusammengehören. Vielleicht ist es auch das Problem, das sich in den Worten widerspiegelt, wenn Jorja Smith "Run" und OG Keemo "Lauf" sagen. Das ist ja nichts, das zufällig entsteht, sondern weil Menschen wegrennen müssen.
2. Apsilon – Druck (prod. by Palazzo & Kabeh)
Jan Kawelke: Das ergänzt sich ein bisschen mit dem, was ich gerade gesagt habe: Wir wollen, dass unsere Arbeit eine Strahlkraft auf die Menschen hat, die nachkommen. Bei Apsilon braucht es diese gar nicht, weil er schon von alleine so politisch gebildet ist und eine so klare Haltung hat, dass er sicherlich nicht unsere Sessions braucht, um Politik in seiner Musik zu verpacken. Aber das gibt mir Hoffnung, was die Deutschrap-Szene angeht. Man packt sich immer wieder an den Kopf und fragt sich, wieso bestimmte Sachen immer noch gerappt werden und man gewisse Dinge immer noch diskutieren muss. Und dann kommt jemand so Junges mit einem solchen Selbstverständnis, der so gute Songs wie "Druck" macht. Er ist sowieso mit dieser druckvollen, tiefen Stimme gesegnet, aber hier probiert er noch mal andere Dinge damit aus. Ich bin wahnsinnig gespannt, wo das noch hingehen wird und freue mich auf alles, was noch kommt.
3. Kendrick Lamar feat. Sampha – Father Time (prod. by Sounwave, Dahi, Bekon, Beach Noise, Duval Timothy & Victor Ekpo)
Jan Kawelke: Mir hat schon lange keine Podcast-Folge mehr so ein Kopfzerbrechen bereitet wie der Deep Dive über Kendricks Album "Mr. Morale & The Big Steppers". Erstmal weil ich einfach Fan bin und weil er zudem viel zu viel anzubieten hat, als dass man dem mit einer Stunde gerecht werden könnte. What a time to be alive, während dieser Künstler am Peak ist und ein neues Album releast. Ein Künstler, der es sich in dieser auch irren und perversen Musikindustrie wegen seines Status rausnehmen kann, auf alle möglichen Moves zu verzichten und sich auf das Kunstwerk zu konzentrieren. Gar nicht auf Zahlen zu achten, sondern nur darauf, was er erzählen möchte. So offen und verletzlich zu sein und viele unangenehme, hässliche Dinge auszusprechen. Dinge, die wir mit unseren Einstellungen nicht von ihm wissen wollten. Und von denen er auch weiß, dass wir sie nicht wissen wollen, er sie aber trotzdem erzählt, weil es um die Wahrheit und seine Perspektive geht. Das hat er uns ja quasi schon mit "The Heart Pt. 5" vorneweg geschickt: "As I get a little older, I realize life is perspective. And my perspective may differ from yours." Diesen Satz und auch "In the land where hurt people hurt more people" als Essenz zu nehmen und in dieses Werk zu übertragen, lässt mich nach wie vor staunen. Ich habe es gestern auf einer langen Autofahrt noch mal gehört und hatte trotz dessen keine angestrengten Momente. Das ist einfach Musik, die Spaß macht und trotzdem inhaltsreich, lehrreich und anregend für die eigenen Gedanken ist. Man kann beim Hören viel über sich und die Welt lernen. Genau das hat mich dazu gebracht, mich in Rap zu verlieben – dass eine einzelne Zeile eine ganze Welt aufmachen kann. Zugänge sind das Wichtigste, um Dinge zu verstehen und begreiflich zu machen.
4. Little Simz – Little Q, Pt. 2 (prod. by Inflo)
Jan Kawelke: Kendrick Lamar hat mal über Little Simz gesagt: "She might be the illest doing it right now." Das kann ich auf jeden Fall unterschreiben. Irre cooles Album. Ich hätte auch diverse andere Songs für die Playlist wählen können, finde "Little Q, Pt. 2" aber noch mal auf eine andere Art außergewöhnlich, weil er einen krassen Bruch zwischen Inhalt, Melodie und Klang erzeugt. Auf der einen Seite klingt er total fröhlich und vermittelt Unschuld, auf der anderen Seite rappt sie aber über ihren Cousin, der angestochen wurde und nur knapp überlebt hat. Gewalt und Knife Crime sind ein wahnsinniges Problem in UK, das aus politischen Fehlern entstanden ist. Leute werden an die Ränder der Städte gedrängt und vertrauen der Polizei aufgrund von Racial Profiling nicht mehr, auch weil sie keine Hilfe von ihr erwarten können. Ich meine, da bewaffnen sich Menschen ab einem Alter von zehn Jahren – was ein verdammtes Armutszeugnis für diese Gesellschaft ist – mit Messern, verteidigen sich damit und gehen aufeinander los. Letztes Jahr sind allein in London 30 Menschen aufgrund von Knife Crime gestorben und die meisten der Verstorbenen waren nicht mal volljährig. Dass Little Simz das auf diesem Song auf eindrückliche Weise noch mal rüberbringt, ist sehr berührend und bedrückend. Sie ist einfach eine krasse Künstlerin.
5. BERWYN – I'D RATHER DIE THAN BE DEPORTED (prod. by BERWYN)
Jan Kawelke: Als ich den Song zum ersten Mal gehört habe, hat er mich krass berührt. Außerdem habe ich ein Faible für absurd lange Songtitel – wie zum Beispiel "I Laugh When I'm With Friends But Sad When I'm Alone" von 070 Shake –, die dadurch schon die ganze Message des Songs runterbrechen und einem direkt in die Fresse ballern. Ich mag seine Stimme, ich mag seine Melodien. Mit dem Titel ist sonst aber eigentlich auch alles gesagt. Das bringt die ganze Migrationspolitik in UK gut auf den Punkt. Was müssen Menschen denn fühlen, um diesen Satz zu denken und auszusprechen?
6. Trettmann – Stolpersteine (prod. by KitschKrieg)
Jan Kawelke: "Stolpersteine" ist für mich ein Klassiker, wenn es um Rap und Politik geht. Er ist zwar noch nicht so alt, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Vassili und ich auf dem splash! samstags vor der Mainstage bei Trettmanns Headliner-Auftritt standen. Es ging dementsprechend gut ab, alle haben getanzt und mitgesungen und plötzlich hat er diesen bisher unveröffentlichten Song in die angeheizte Crowd gespielt. Uns dämmerte es immer mehr und wir haben uns angeguckt und gefragt, ob er das jetzt grad wirklich macht und ob wir das richtig verstehen. Wie das halt ist, wenn man einen Song das erste Mal auf einer Festival-Bühne hört. Spricht er grad wirklich über den Holocaust und Deportation? Das fand ich schon extrem beeindruckend. Und auch wie er die Zeitebenen miteinander verschränkt, ist sehr beeindruckend. Da war, finde ich, auch ein Aufbruch zu spüren, indem mehr Künstler:innen von sich heraus Position bezogen haben. Wie ein KUMMER oder Max Herre, die einfach ihre Plattform nutzen, um wichtige Geschichten zu erzählen und aufzuklären.
7. alyona alyona feat. Jerry Heil – Рідні мої (prod. by Vanek Klimenko & Storm)
Jan Kawelke: Ich habe "Рідні мої" stellvertretend für sie und alle anderen ukrainischen Artists reingepackt, die zwischen Versorgung von Verletzten und Kämpfen an der Front noch die Zeit und Energie finden, Musik zu machen. Die schon vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine wichtige politische Figuren in ihrem Land waren. alyona hat sich auch mit dem vorherigen Präsidenten getroffen. Wir haben an verschiedenen Stellen darüber geredet, welche Rolle sie einnimmt und wieso sie so besonders ist, aber generell untermauert das die These, welchen Impact Musik haben kann. Wir haben es auch beim ESC gesehen: Die Ukraine hat mit dem Kalush Orchestra sicherlich nicht nur aus Solidarität gewonnen, sondern auch, weil das einfach ein cooler Song ist. Es finden ukrainische Folklore und Rap zusammen. Das zeigt ja auch, wie widerständig, voller Kampfgeist und unnachgiebig die Menschen dort sind. Auch Vassili ist gerade dort, berichtet für die ARD und macht wirklich krasse Arbeit, die ich sehr bewundere. Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage wäre.
8. ANOKI – Schüsse (prod. by Tim Tautorat, Dennis Borger)
Jan Kawelke: Auf ANOKI und "Schüsse" trifft einiges zu, das ich schon zu Apsilon erzählt habe. Er fällt für mich auch in die Kategorie junger Rapper:innen, die mit einem neuen Selbstverständnis an politische Themen in ihren Texten rangehen. Es wird selbstbewusst vorgetragen und ist einfach gute Musik, die man gerne hört. Wahnsinnig krasser Song und ein super, reduziertes Video, das sehr auf den Punkt ist. Finde ich einfach cool.
9. Ezhel – Bul Beni (prod. by Jugglerz)
Jan Kawelke: Ich habe auch hier aufgrund der Sprachbarriere nicht die größte Textkenntnis und der Song steht eher stellvertretend für die Figur Ezhel, die ich einfach faszinierend finde. Er vereint für mich deutsch-türkische Rapgeschichte in seiner Kunst. Ganz kurz zusammengefasst sind türkische "Gastarbeiter:innen" nach Deutschland gekommen, daraus ist eine Musikszene entstanden und türkischer Rap hatte seinen Ursprung in Kreuzberg. Diese Künstler:innen sind in der Türkei groß geworden und haben dadurch andere beeinflusst, wie auch Ezhel, der jetzt wieder in Kreuzberg lebt und dort Musik macht. Und wenn wir über deutsche Künstler:innen sprechen, die politisch sind: Er ist in einem Land politisch aktiv gewesen, in dem das extrem schwierig ist, was auch dazu geführt hat, dass er ins Exil gegangen ist. Da sind deutsche Artists schon oft bequemer. Es gehört viel dazu, in so einer Situation bei seiner Meinung zu bleiben und laut zu sein, obwohl ganz andere Dinge auf dem Spiel stehen.
10. Lous and The Yakuza – Solo (prod. by Ponko, Mems, El Guincho)
Jan Kawelke: Das ist eine Künstlerin, auf die ich über COSMO aufmerksam geworden bin und die zuletzt auch eine sehr nice COLORS-Session gemacht hat. Es kommt grad so viel freshes, meinungsstarkes Zeug raus und das zieht sich irgendwie durch alle Länder. Stilsicher, durchdacht, was die ganze Erscheinung angeht, aber auch gute Inhalte. Das macht Spaß.
11. Lizzo feat. Cardi B – Rumors (prod. by Ricky Reed)
Jan Kawelke: Ich hätte hier auch "WAP'' nehmen können, aber ich wollte so gerne Lizzo mit in der Liste haben. "Rumors" steht für die im US-Rap begonnene, aber bis hier abstrahlende Female Empowerment-Bewegung, die sehr sexpositiv ist und ein krasses Selbstbewusstsein verkörpert. Wie nice ist es, dass Leute wie Lizzo und Lil Nas X solche Stars sind, auf so großen Bühnen stehen und irgendwie alles andere überstrahlen mit dem, was sie sind? Man hat das Gefühl, dass sie sich nicht anpassen müssen und progressiv im Mainstream ihr Ding durchpushen können. Und das auf so einem irren Level – allein, was die Produktionen angeht. Das finde ich einfach nice.
12. Ebow – Dersim62 (prod. by Martin Madej)
Jan Kawelke: Wir haben auch mit Ebow eine Machiavelli Session gemacht, weil uns "K4L" so wichtig war, dass er stattfinden musste, und sie einfach eine coole Künstlerin ist. Jedes Mal, wenn ich sie live sehe, bin ich umgehauen davon, wie Rap sie ist und wie sie delivert. Ich finde das neue Album und vor allem "Dersim62" richtig nice. Das trifft wahrscheinlich auf viele Songs zu, über die wir gesprochen haben, aber das ist keine Musik, die für mich gemacht wurde. Sie greift ja auch die Konflikte innerhalb ihrer Bubble auf und das finde ich einfach interessant anzuhören. Es ist wichtig, dass das stattfindet, weil es offenbar nicht nur sie umtreibt. Worum geht es, wenn wir politische Debatten führen, und wie oft geht es um Egos? Wie wichtig ist Wohlwollen, und da spreche ich nicht von Weißen, die ihre Unwissenheit zur Schau stellen, sondern innerhalb einer Community? Wie wollen wir mit unterschiedlichen Kenntnisständen umgehen? Das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch in Bezug auf Twitter-Dynamiken. Was dann auch das Thema berührt, ob es Wege für Menschen zurück in Bubbles und Gesellschaften gibt. Und wie behalten wir diese Themen bei uns und lassen sie nicht von irgendwelchen Rechten vereinnahmen, die uns spalten wollen? Wir sollten zusammenhalten und in einem produktiven Austausch bleiben.
All diese Tracks findet ihr hier in unserer "DIGGEN mit Jan Kawelke"-Playlist auf Spotify.
(Yasmina Rossmeisl)
(Foto von Nils vom Lande)