Aristoteles hat ziemlich viele und schlaue Sachen gesagt – zumindest in Anbetracht der Zeit, in der er sie sagte. Auch zum Thema "Wut" teilte er sich mit: "Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer." Nun, das kann man wohl nicht leugnen. Es gibt vermutlich kaum eine Emotion, die sich im Laufe des Lebens so wandelt wie die Wut. Und doch bleibt sie ein Gefühl, das sich immer auch kindlich anfühlt, da wir ihr oft unterlegen sind. Sie hat viele Nuancen und bietet ein großes Spektrum an Begleiterscheinungen wie Zorn und Trauer, Angst und Aggression, Gewalt und Rebellion. Ursache und Wirkung fließen dabei oft ineinander und in ihrer großen Kraft liegen viele negative, aber auch jede Menge positive Folgen. Vielleicht, weil sie sich meist gegen einen selbst richtet und dadurch besonders viel auslösen kann. Doch gerade deshalb ist es auch so wichtig, einen guten Umgang mit Wut an sich zu finden.
Roger Rekless hat dies schon oft in seinem Leben versucht und neben Meditation und Rappen vor allem mit der Kampfsportart Jiu-Jitsu sein liebstes Ventil gefunden. Dabei zieht sich die Wut wie ein roter Faden durch sein Leben – und somit auch durch unser Gespräch. Während uns der Münchner Rapper bewies, dass es wahrscheinlich keinen unaufgeregteren wütenden Menschen gibt als ihn, sprachen wir über Folgen, die seine unterdrückte Wut mit sich zog, seinen Drang nach Gerechtigkeit, Hass als Massenphänomen sowie Anti-Bewegungen im deutschen Rap.
MZEE.com: Grundsätzlich wirkst du nicht wie ein besonders wütender Mensch und strahlst eine ziemliche Gelassenheit aus. Dennoch gibt es bestimmt Verhaltensweisen deiner Mitmenschen, die dich auf die Palme bringen …
Roger Rekless: Ignoranz finde ich am schlimmsten. Sie macht mich so unfassbar schnell sauer, dass ich fast nicht an mich halten kann. Ich spüre körperlich, wie schwer es mir da fällt, mich zurückzuhalten. Zum Beispiel, wenn Menschen von traumatischen Erlebnissen, Übergriffen oder Diskriminierung erzählen und ihr Gegenüber dafür taub ist. Und das nicht nur nicht hört, sondern dagegen geht, in Whataboutism abgleitet oder die Menschen sogar diskreditiert. Nach dem Motto "Das hast du doch nicht wirklich so erlebt". Das ist für mich das Krasseste. Und das Zweite ist, wenn ich für etwas verantwortlich gemacht werde, für das ich nichts kann. Da werde ich gleichzeitig sauer und traurig – das liegt bei mir nah beieinander.
MZEE.com: Beides hat mit Gerechtigkeit zu tun. Hast du das Gefühl, dass du Menschen in Schutz nehmen musst, die unfair behandelt werden?
Roger Rekless: Zu 100 Prozent. Ich möchte sowas richtigstellen und wenn ich nur zeige, dass ich es mitbekommen habe und den Menschen Recht gebe. Letztens haben sich zwei Mädchen in der U-Bahn im Teenageralter auf Rumänisch unterhalten, als eine alte Dame zu ihnen meinte, dass in Deutschland Deutsch gesprochen werde. Die beiden haben gut reagiert und gesagt, dass sie untereinander so reden, wie sie möchten. Daraufhin hat die Frau losgelegt mit "Integration" und wie "Deutschland sowas zulassen könne". Ich habe mich dann bei den Mädchen versichert, dass es in Ordnung ist, wenn ich mich einmische, und die Frau gefragt, ob sie vielleicht neidisch ist, weil sie die Sprache nicht versteht. Sie ist dann von Thema zu Thema gesprungen. Erst ging es darum, dass man sich in Deutschland halt anpassen müsse und dann, dass ich den Mädchen nur zur Seite stehe, weil sie schön sind. Diese Leute können sich nicht eingestehen, dass sie Rassisten sind. Das ist einfach eklig, weil Ignoranz auch immer versucht, Ungerechtigkeit zu schützen. Das hasse ich.
MZEE.com: Fragst du dich dann manchmal auch: "Wieso muss ich schon wieder diese Gespräche mit solchen Menschen führen?"
Roger Rekless: In genau solchen Momenten merkt man halt, wie hoch der Anteil an ignoranten Menschen eigentlich ist. Und diese Leute hacken wie mit einem kleinen Meißel Splitter meines Optimismus weg. Ich habe vor einer Weile mit meinem guten Freund David Pe darüber gesprochen, dass es unglaublich schwer ist, die Menschen als Masse zu lieben, wenn man viel mit ihnen arbeitet und zu tun hat. Es bedarf großer Motivation, ihnen mit Liebe zu begegnen. Nicht dem einzelnen Menschen – selbst die ignoranten Trottel haben mehr Dimensionen, wenn sie aus dieser Situation herauskommen. Aber der:die Einzelne repräsentiert für mich auch immer die Masse und das ist anstrengend. Vor allem, wenn man Musik macht und damit Menschen erreichen will. Es gibt dieses Spannungsfeld, in dem man denkt, dass es doch sinnlos ist. Diese ignoranten Menschen machen es allen so schwer …
MZEE.com: Im Podcast "Halbe Katoffl" hast du erzählt, dass du dir inzwischen sehr bewusst darüber bist, welche Kämpfe – im Sinne von Wortgefechten – du austragen möchtest und kannst. Früher hast du dich überraschenderweise auch mal geprügelt, was du als sehr viel gesünder für die eigene Psyche empfunden hast. Kannst du erklären, warum das in deinen Augen so war?
Roger Rekless: Früher habe ich Wut einfach direkt rausgelassen – sei es verbal oder eben auch körperlich. Das ist im ersten Moment vielleicht gesund, doch im Anschluss kommt ein anderer Stress. Dann ist es nicht mehr Wut, sondern Angst. Das liegt bei mir sehr nah beieinander, weil beides Kontrollverlust bedeutet. Um diesen Stress zu vermeiden, habe ich angefangen, viel an Wut nicht mehr zuzulassen und stattdessen runterzuschlucken. Ich als Küchenpsychologe glaube, dass es viel dazu beitrug, dass ich eine depressive Störung entwickelt habe. Aus unterdrückter Wut wird irgendwann diffuse Angst … Und die kannst du nicht mehr festhalten. In der Situation, in der Wut rauskommt, ist sie ja eindeutig mit etwas verknüpft. Wenn du das Gefühl aber runterschluckst, sitzt es einfach da und zerfasert sich in eine subtile Angst. Man kann sie nicht mehr fassen oder abarbeiten und bekommt depressive Schübe. Es ist ein schwieriger Prozess, da wieder herauszukommen. Als ich darüber in "Halbe Katoffl" gesprochen habe, war ich an einem sehr guten Punkt. Da habe ich viel meditiert und eine Hypnosetherapie gemacht. Aber an dem Punkt bin ich nicht mehr. Es ist krass, darüber zu sprechen – das weckt in mir die Erinnerung, wo ich schon war und was es für eine Arbeit war, dahinzukommen. Inzwischen habe ich ein gutes Verständnis davon, wo ich in der Verarbeitung von Wut sein kann und kenne den Weg, der mich da wieder hinführt.
MZEE.com: Hast du abseits von Meditation und Hypnose noch weitere Ventile gefunden, die dir beim Verarbeiten von Wut geholfen haben?
Roger Rekless: Ja, Jiu-Jitsu war meine Rettung. Das war das erste Mal, dass ich mit kindlichen Wutgefühlen wieder konfrontiert wurde. Jiu-Jitsu ist ein Boden-Kampfsport, bei dem man im Stehen anfängt und den:die Gegner:in auf den Boden bringen will. Dort hört der Kampf aber nicht auf, sondern du musst ihn:sie dazu bringen, aufzugeben. Du dominierst also mit deinem Körper und allem, was dir zur Verfügung steht. Zum Beispiel mit komplexen Techniken, die das Kräfteverhältnis aufheben. Eine schwächere Person kann dadurch jemanden übervorteilen, der stärker ist – und das ganz ohne Magie … Ich habe dort gegen jemanden gekämpft, der schwerer war als ich. Er war auf mir, hat mich im Haltegriff gehabt und ich habe einen klaustrophobischen Panikanfall bekommen. Dieser Druck auf meinen Brustkorb hat in mir sofort das Gefühl von "Schulhof, Kind, rassistische Beleidigung, Schlägerei, ich kann mich nicht wehren und Wut" getriggert. Das ging schnell von Kämpfen in hoffnungslose Panik über. Zum Glück muss man nur abklopfen und die Situation ist sofort vorbei. Danach spricht man auch nicht zehn Minuten darüber, sondern fängt von vorne an. Es ist so gesund, in einem Safe Space immer wieder in diese Gefühle reinzukommen, aber sagen zu können, wenn es zu viel ist. Das hat dazu geführt, dass ich diese impulsive, kindliche Wut besser handlen kann. Und irgendwann kann man diese Wut für sich einsetzen. Nicht gegen eine Person, sondern gezielt gegen eine Aktion. Das durch Corona über ein Jahr lang nicht machen zu können, war schrecklich, weil der nivellierende Ausgleich wegfiel.
MZEE.com: Kannst du nachvollziehen, dass Menschen sich bewusst körperlichen Auseinandersetzungen stellen – wie bei verabredeten Kämpfen in Hooligan-Kreisen?
Roger Rekless: Absolut. Was ich krass nachvollziehen kann, ist der Wunsch, sich selber in eine Situation zu bringen, die einen dazu zwingt, ganz nah bei sich zu sein und in der nur ganz elementare Sachen zählen. Ich kann verstehen, wenn Leute Bungee jumpen, Fallschirm springen oder sich im Wald treffen, um sich aufs Maul zu hauen oder die Köpfe einzutreten. Ich würde das nicht machen, weil ich viel sensibler bin. Was nicht bedeutet, dass diese Menschen gefühllose Klötze sind, aber ich brauche viel weniger, um eine Stresssituation zu erfahren, in der ich auf das Notwendigste reduziert bin. Ich kann das aber verstehen, weil es ja noch mehr ist, als nur Wut rauszulassen. Hooligans wissen ja schon Donnerstag oder Freitag, dass sie das am Samstag machen. Die denken ja darüber nach und das, glaube ich, mit gemischten Gefühlen. Vorfreude, Aufregung, Angst – das ist ein superstarker Gefühlscocktail, den man sich selbst braut. Ein wichtiger Teil der Droge ist der Aufbau davor, um dieses Gefühl des Rauslassens so stark zu empfinden. Die sind auf dem Weg nach Hause noch so hyped, dass sie erst in der Nacht merken, dass ihnen etwas wehtut. Ich glaube, dass manche Menschen sowas brauchen, um sich zu spüren. Das ist für die so, wie für mich jeden Tag zu meditieren. Es ist nur ein anderer Weg, dahinzukommen.
MZEE.com: Denkst du, dass Wut dabei eine Rolle spielt?
Roger Rekless: Das glaube ich nicht. Vielleicht spielt Wut an anderer Stelle im Leben eine Rolle, bei der diese Erfahrung hilft, mit der Wut besser klarzukommen. Wobei es wahrscheinlich auch ein Ventil sein kann, jeden Scheiß, den man erfährt, auf eine Situation oder Person zu projizieren und rauszulassen. Das ist wie beim Graffitimalen: Für manche zählt das Piece, für andere das Gefühl der Crew-Zugehörigkeit und die Aufregung, die sich entlädt.
MZEE.com: Du bist schon lange Teil der Rapszene. Hat Rap dir in all den Jahren auch im Umgang mit negativen Emotionen geholfen?
Roger Rekless: Rap war tatsächlich sehr wichtig. Wenn du etwas aufschreibst, ist dieses Gefühl nicht mehr nur in dir drin. Wenn man das dann auch noch singt, schreit oder rappt, gibt man dem Ganzen eine Energie. Ich habe oft mithilfe von Musik Situationen rekonstruiert, in denen ich Wut gespürt und sie dann so verarbeitet habe. Das war mir immer wichtig und ist es noch. Jede Festplatte, die ich besitze, ist randvoll mit für mich wichtigen Songs, die nie jemand hören wird. Und obwohl ich das schon so lange mache, hat es in den letzten Jahren noch mal geklickt und funktioniert noch besser für mich.
MZEE.com: Wieso bringst du diese Songs nicht raus? Sind sie dir zu persönlich?
Roger Rekless: Ich glaube eher, dass die Leute sie nicht verstehen würden, weil sie so nah an mir dran ist. Das holt niemanden ab. Es macht auch was mit einem beim Schreiben, wenn man weiß, dass es niemand hören wird. Man schreibt dann anders und traut sich, ganz andere Sachen rauszulassen. Ich glaube, wenn ich sowas veröffentlichen würde, würde ich mir damit einen Safe Space klauen, weil ich nicht mehr so unbefangen rangehen könnte.
MZEE.com: Gibt es denn auch etwas, das dich in Bezug auf die deutsche Rapszene momentan so richtig wütend macht?
Roger Rekless: Ja, die Verteidigung von Sexismus im HipHop. Wenn Menschen, die sexuelle Übergriffe anprangern, gesagt wird, dass sie HipHop nicht verstanden hätten – das macht mich sauer. Und auch, dass sich so wenige mit Black Lives Matter solidarisiert haben. Die verdienen ihr Cash mit dieser Kultur und nehmen nur. In dem Moment, in dem sie hätten zeigen können, dass sie auch geben können, waren superviele still. Wenn man nicht weiß, wie man es machen soll, findet man es doch heraus? Das hat mich sehr sauer gemacht.
MZEE.com: Haben dich Anti-Bewegungen, die zum Beispiel gegen deutschrapmetoo vorgehen, dazu gebracht, darüber nachzudenken, dass du kein Teil der Szene mehr sein möchtest?
Roger Rekless: Ja, sehr häufig. Aber man muss dann trotzdem bleiben und Dinge ansprechen, damit die Leute in dieser Szene merken, dass sie für die Szene verantwortlich sind. Oft sagen Leute in Interviews im Radio oder Kulturbereich, dass Rap frauenfeindlich ist. Das gibt es natürlich, aber es gibt viele, die das auch innerhalb der Szene anprangern und anders machen. Die sieht man in so einem Statement aber nicht. Ich möchte das nicht verteidigen – aber es gibt eben auch Leute innerhalb der Kultur, die was machen und nicht aus der Ecke kommen, die Sexismus reproduziert. Das macht es oft so ermüdend, weil man das Gefühl hat, innerhalb der Szene etwas verändern zu wollen, aber diejenigen nicht zu erreichen, bei denen man was verändern müsste. Es ist aber auch ein männliches Privileg, sich da rauszuziehen und darauf auszuruhen, dass "man selber ja nicht so ist".
MZEE.com: Oder wenn Männer sich damit rausreden, dass sie sich zurückziehen, weil sie anderen eine Bühne geben möchten.
Roger Rekless: Ja, das merke ich auch bei mir. Ich hätte mich mehr äußern können, aber sage mir dann, dass ich gerade keine Energie dafür habe. Dann lasse ich Sachen einfach so passieren und entschuldige es damit, dass ich in meinem Umfeld etwas sage. Da muss ich ehrlich sein: Got shit to upgrade. Das ist ja das Ding mit der Verantwortung, die man innerhalb dieser Kultur hat – nämlich, sich nicht darauf auszuruhen, dass wir "die anderen" sind. Man müsste eigentlich für einen offenen Diskurs sorgen und dafür, dass man gehört wird.
MZEE.com: Der Autor Tobias Ginsburg hat 2021 mit seinem Buch "Die letzten Männer des Westens", für das er sich in die Gefilde von Antifeministen und rechten Männerbünden begeben hat, viel Aufsehen in der deutschen Rapszene erregt. Denn: Wie sich gezeigt hat, bestehen Verbindungen zwischen Antifeministen und der rechten Rapszene. Glaubst du – da Wut mit Sicherheit auch eine Facette von Rap ist –, dass es nur logisch ist, hier Menschen mit diesen Ansichten wiederzufinden?
Roger Rekless: (überlegt) Jein. Ich glaube, dass Rap eine sehr gute Möglichkeit ist, Wut eine gerichtete und konstruktive Form zu geben. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass Rechte Rap weniger als emotionales Ventil nutzen, sondern als Propagandamittel, das gut funktioniert. Das mag aber auch falsch sein und vielleicht holt dieser aggressive Rapshit auch solche Leute mit ab. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich zu subjektiv bin und das andere nicht sehen kann – oder Rap verteidigen will. Aber ich glaube eher, dass sie das als Propagandamittel nutzen.
MZEE.com: Nach dem Motto, dass Rap jetzt das große Ding ist – also müssen sie sich das auch aneignen?
Roger Rekless: Ja, es ist halt textbasierte Musik. Damit können sie Themen an den Mann bringen – weniger Emotionen, sondern Geschichten. Ein Narrativ, das bei den Leuten als Soundtrack für ihre Wut funktioniert, die sie auf sich selbst, Leute wie mich oder die Welt haben. Vielleicht ist es ein bisschen von allem. Dass dieses hart Maskuline, das viele ausstrahlen, schon dazu führt, dass sich solche Leute davon angesprochen fühlen und sagen, dass jemand "nicht Rap ist", wenn er diesem Bild nicht entspricht.
MZEE.com: Wir haben noch das Buch "Ohne Rücksicht auf Verluste" von Mats Schönauer und Moritz Tschermak mitgebracht. Der ehemalige und der aktuelle Chefredakteur des BILDblogs recherchieren seit einem Jahrzehnt über die Arbeit der BILD und haben ein Buch dazu veröffentlicht, wie sie mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet und Rechte befeuert. Der folgende Auszug erläutert das recht plakativ:
Wie essentiell ist deiner Meinung nach das Schüren und Ausnutzen von Ängsten für Wut als Massenphänomen?
Roger Rekless: Absolut elementar. Wut und Angst sind ja sehr nah beieinander. Wenn du es schaffst, dass Menschen in ständiger Angst vor etwas leben, hast du immer auch einen Teil, der mit dem Kontrollverlust ringt. Der ist dankbar für jede Kontrolle und jeden Wegweiser von außen. Nimm zum Beispiel den antimuslimischen Rassismus, den die BILD dauerhaft abdruckt. Sie warnt vor Islamismus und setzt ihn mit dem Islam gleich. Das Narrativ ist: "Wir sind hier, da sind die und wir haben Angst, also müssen wir die anderen einschränken. Das ist legitim." So haben sie auf einmal ein Ventil für diese Wut und Angst gefunden. Aber das sind Menschen, gegen die sich das richtet. Es ist total irre, dass die BILD das schafft. Das ist ein elementares Mittel, um Menschen zu manipulieren. Wenn wir alle ruhig wären, könnten wir bessere Gedanken fassen. Wenn man aber im Eifer des Gefechts mit so vielen Sachen zu kämpfen hat, merkt man vielleicht gar nicht, was das für Folgen hat.
MZEE.com: Ist der Kontrollverlust, den du angesprochen hast, mit Machtverlust gleichzusetzen? Also werden die Ängste, die von rechten Bewegungen wie der Pegida oder der AfD thematisiert werden, durch Machtlosigkeit ausgelöst?
Roger Rekless: Ich glaube schon. Gerade Pegida und andere rechte Organisationen arbeiten ja oft mit diesem Underdog-Prinzip. "Wir hier unten und die da oben." Die begreifen sich als unterdrückte Personen und rechtfertigen damit auch die Wut gegen andere, weil sie aus ihrer Sicht die Armen sind, die nach oben treten. Sie kümmern sich vermeintlich um ihr eigenes Überleben. Durch solche Narrative ist die Wut dann positiv konnotiert. Dann ist auf einmal alles erlaubt. Ich glaube allerdings, dass es weniger die Angst vor Machtverlust als das ständige Erzählen von den Mächtigen "da oben" ist. Dagegen muss man sich ja erheben und wehren. Es ist immer dasselbe Gerede und es funktioniert auch immer wieder. Das sind ja privilegierte Menschen, die einen Machtverlust spüren, der nicht da ist. Dann kommen auch Sachen wie "Na ja, wir können ja nicht alle aufnehmen" oder "Hätten ja auch zu Hause bleiben können". Wenn ich permanent in Furcht lebe, verurteile ich eine menschenverachtende Aktion auf einmal nicht mehr, die mir als Weg aus der Gefahr verkauft wird. Das ist ein hart manipulativer Eingriff in gesellschaftliche Strukturen.
MZEE.com: Macht dir das Angst?
Roger Rekless: Es gibt einerseits viele Menschen, die von einer positiven Vision getrieben sind, wie die Welt sein könnte. Und dann gibt es andererseits Menschen, die rückwärtsgewandt sind und eine Vision haben, die nicht für alle gut ist. Es macht mir schon Angst, wie brutal diese rückwärtsgewandten Leute reden. Warum ein Junge ein Junge und ein Mädchen ein Mädchen ist und dass jeder, der etwas anderes erzählt, kein Recht auf Bestand und Schutz hat. Ich finde es krass, dass man das so sagen kann und denkt, man sei Teil einer Bewegung, die etwas für die Gesellschaft tun will. Denn sie sprechen ja von "Wir sind das Volk". – Ne, ne, wir auch … Ich habe Angst davor, dass sich zum Beispiel ein großer Global Player auf die rückwärtsgewandte Bewegung fokussiert. Dass dann eine weltweite Minderheit die Zukunft bestimmt. Ich habe das Gefühl, dass wir in einem Prozess sind, in dem man merkt, dass eine ganz elementare Veränderung bevorsteht. Die Zeit der europäischen Vorherrschaft ist langsam durch. Und es ist schlimm, wie viele autokratische und diktatorische Strömungen dieses Rückwärtsgewandte im Ringen um die Narrative befeuern. Dann bekommen solche Bewegungen von ganzen Staatsführer:innen Rückenwind. Ich glaube auch, dass es bei Wahlen in vielen Familien mit Migrationsgeschichte die ekelhaft natürliche Unterhaltung gibt, ob man noch hier bleiben möchte. Aber da sich diese Strömungen global darstellen, ist die große Frage, wo man sonst hinwill. Das macht mir schon Angst.
MZEE.com: Ich denke, dass einige politische Themen in den letzten Jahren unterschätzt wurden – sei es die Wahl in den USA oder Deutschland. Man hat nie ein Gefühl von Sicherheit, sondern eher, dass man gerade noch so davongekommen ist. Und ich glaube auch, dass sich viel verändern wird – aber eben nicht unbedingt zum Positiven.
Roger Rekless: Ja, wenn man keine Veränderung will, gibt es auch keinen Schritt nach vorne. Für mich war das ein Statement, wie Menschen auf Taten wie in München, Halle und Hanau reagierten. Die AfD wurde vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft, aber Leute relativieren immer noch, dass es eine Gefahr von rechten Netzwerken gibt. Das ist völlig absurd. Ich glaube, das rührt daher, dass ein Großteil immer noch glaubt, dass es ihn nicht betrifft. Die vergessen, dass wir zusammen in dieser Gesellschaft leben. Sie sprechen von Meinungsfreiheit und dass man sowas in einer Demokratie aushalten müsse – das ist aber nicht aushaltbar für eine Demokratie. Das ist belastend, bedrückend. Und es kann nicht sein, dass Menschen in der Gesellschaft vor einer realen Bedrohung Angst haben müssen. Das macht mich so wütend. Diese Leute, die jetzt Menschen relativieren, die Mord an politisch Andersdenkenden legitimieren, werden am Ende wieder sagen, dass sie es nicht waren. Ich halte es immer noch für möglich, dass sich Deutschland als ein kollektiv menschenfeindliches Land zeigt.
MZEE.com: Das macht es ja gerade auch – nur nicht hier, sondern eben an den EU-Außengrenzen. Da sterben jeden Tag Menschen aufgrund unserer Politik und Verantwortung.
Roger Rekless: Hier drinnen reden die Leute dann aber wieder von Werten und dem christlichen Abendland. Ich finde es total krass, dass sowas funktioniert. Dass man einerseits Leute kriminalisiert, die das menschlich Richtige tun, und andererseits Leute, die menschenfeindliches Gedankengut haben, relativiert.
MZEE.com: Im öffentlichen Diskurs wird oft das Narrativ des genauso schlimmen linken Extremismus genutzt, obwohl er teils eine Reaktion auf rechte Bewegungen ist und bei Weitem nicht solche Ausmaße nach sich zieht. Trotzdem können auch diese Gewalt und Einstellungen kontraproduktiv und gefährlich sein. Findest du, dass das von linken Kreisen manchmal verharmlost wird?
Roger Rekless: Ja. Und ich würde sagen, dass ich das auch mache. Das hängt bei mir auch mit Wut zusammen. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Leute rassistische Probleme abgestritten und nur Linke oder extrem Linke sie anerkannt haben. Ich habe unglaublich viel in diesen Narrativen entschuldigt. Ich würde nicht sagen, dass linke Radikalität in irgendeiner Weise vergleichbar ist mit rechter – das ist einfach nicht so. Und trotzdem muss man definitiv mit beispielsweise sexistischen oder antisemitischen Positionen innerhalb der Linken hart ins Gericht gehen. Ich glaube schon, dass manche Linke nicht wegen der Inhalte dabei sind, sondern um etwas auszuleben. Und es für sie kaum eine Rolle spielt, in welchem Extrem das geschieht. Vielleicht rührt daher dieses gefährliche Gleichsetzen von Links und Rechts. Ich glaube, es ist unfassbar wichtig, innerhalb von linken Strukturen darüber zu diskutieren.
MZEE.com: Ich habe einen Artikel dazu gelesen, wie sich der Linksextremismus in den letzten Jahren gewandelt hat. Dass Gewalttaten zunehmen und sich nicht mehr nur gegen Dinge, sondern auch wieder vermehrt gegen Menschen gerichtet wird. Ich habe oft das Gefühl, dass es ein Problem vieler linker Kreise ist, die Ursachen dafür nicht zu thematisieren.
Roger Rekless: Es ist total krass, wenn du sagst, dass sich linke Gewalt auch gegen Menschen richtet. In meinem Kopf ist da sofort das Bild der Linken, die Nazis verprügeln, damit sie Angst haben. Ich will mich als sensiblen Menschen begreifen. Aber ich merke – und es ist brutal, das zu sagen –, dass dadurch, dass Nazis andere Menschen dehumanisieren, sie für mich ihr Recht auf Schutz verwirkt haben. Es ist total schlimm, das zu sagen, aber es ist ehrlich. Ich finde es krass, zu merken, dass ich Gewalt, die ihnen passiert, entschuldige. Weil ich mir denke: Ihr habt euch ausgesucht, eine menschenfeindliche Geisteshaltung einzunehmen. Und sichtbar gefährlich zu sein für Menschen, die nichts dafür können, wie sie sind, und dadurch mit dem Tod bedroht werden. Ich finde es höchst problematisch, dass einen diese Radikalität und Menschenfeindlichkeit dazu bringt, auch eine radikale und menschenfeindliche Haltung anzunehmen. Da muss innerhalb der Linken auf jeden Fall etwas passieren. Gleichzeitig passiert die Radikalisierung auch, weil die Linke von der gesellschaftlichen Mitte derart verteufelt wird. Wenn du etwas so verteufelst, wird es auch für Leute attraktiv, die vielleicht nur zum Teil den Positionen zustimmen, aber an etwas radikal Motiviertem beteiligt sein möchten.
MZEE.com: Wut an sich ist eher ein negatives Gefühl – aber auch der Stoff, aus dem Veränderungen und Revolutionen gesponnen sind – wie die BLM-Bewegung und Fridays for Future. Hoffst du trotzdem, irgendwann gar nicht mehr wütend zu sein?
Roger Rekless: Ich glaube, man ist gar nicht am Leben, wenn man nicht mehr wütend ist. Aber ich hoffe, dass meine Wut nicht mehr destruktiv ist, sondern gesunde Outlets findet. Dass meine Wut nicht am Steuer, sondern auf dem Beifahrersitz Platz nimmt. Eine Freundin hat mir mal gesagt, dass der wütende David genauso viel Liebe verdient wie der andere. Das ist für mich ein schwer zu lebender Satz, aber es wäre mein Wunsch, das zu schaffen.
(Florence Bader & Yasmina Rossmeisl)
(Fotos von Philipp Wulk)