Das erste Konzert, das man ohne Eltern besuchen durfte. Nachts alleine auf der Autobahn und den gleichen Song immer und immer wieder hören, weil man nicht fassen kann, wie gut er ist. Der Track, den man mit den Freund:innen von früher laut grölend auf jeder Party mitgesungen hat. Vermutlich kennt jeder Mensch diesen Moment: Es läuft ein bestimmtes Lied oder Album, das einen direkt emotional in eine Situation zurückversetzen kann, nostalgisch werden lässt oder einfach nur aufgrund seiner Machart immer wieder zum Staunen bringt. Und genau darum geht es in unserem Format "DIGGEN mit …". Wir diggen mit verschiedenen Protagonist:innen der Szene in ihren gedanklichen Plattenkisten und sprechen über Musik, die diese Emotionen in ihnen auslöst. Dafür stellen unsere Gäste jeweils eine eigene Playlist mit Songs zusammen, die sie bewegen, begeistern und inspirieren.
Für die letzte Ausgabe dieses Jahres stellte unsere Redaktion selbst eine Playlist mit ihren persönlichen Favoriten aus 2021 zusammen. Denn wir alle haben deutsche Rapsongs gehört, die unser Jahr auf ihre spezielle Weise geprägt und uns besonders begeistert haben. Herausgekommen ist eine Auswahl, um die Pandemie zu vergessen, die interessantesten Newcomer:innen zu entdecken, sich sogar in negativen Gefühlen wiederzufinden und über Raptechniken und Referenzen abzunerden. Musik, die man bei strahlendem Sonnenschein, nachts am Bahngleis oder im Zweifelsfall einfach zu Hause hört, um die Mitbewohner:innen mal für eine Stunde ausblenden zu können. Ein kunterbunter musikalischer Jahresrückblick in Form einer Playlist, die einen jegliche Emotionen durchleben lässt.
1. Nura – Fair (prod. by Drunken Masters)
Laila: Nichts, was ich über den Song sagen könnte, würde auch nur annähernd beschreiben, wie er inhaltlich wirklich ist. Sämtliche gesellschaftlichen, sozialen und politischen Themen werden kurz, aber ungeschönt dargestellt – kraftvoll und ehrlich durch Nuras Power. Sehr zu empfehlen ist auch die Version der Machiavelli Sessions mit der Robert-Schumann-Philharmonie.
2. Duzoe – WENN DU GEHST (prod. by KCVS)
Michael: Dieser Song transportiert ein Gefühl, das ich eigentlich nie wieder fühlen möchte. Trotzdem konnte und kann ich nicht genug davon bekommen. Vielleicht zeigt mir der Song auch, dass ich es (hoffentlich) nicht mehr fühlen muss. Das ganze Album ist ein gewaltiger Seelen-Striptease, in dem ich mich immer wieder gerne verliere, aber gerade dieser Track steht für mich besonders dafür.
3. Juse Ju feat. Milli Dance – Der Gargoyle (prod. by Juse Ju)
Alec: Ich bin großer Fan von Science Fiction- und Fantasy-Figuren. Auch mich begleitet ein Gargoyle durchs Leben. Immer wieder denke ich an Situationen zurück, in denen ich mein Handeln und meine Emotionen nicht kontrollieren oder verstehen konnte. Juse beschreibt Momente seiner Vergangenheit und ist sich selbst nicht sicher, ob der Gargoyle ihn immer wieder in die Scheiße reitet oder ihn vielleicht sogar manchmal schützt. Dazu gesellen sich ein erdrückendes Instrumental und eine emotionsgeladene Hook von Milli Dance. "Verletze niemand andern, bei mir selber geht das klar." – Nichts könnte treffender sein, liebe Grüße an meinen Gargoyle!
4. Gianni Suave – KETTEN (prod. by Jakepot)
Johanna: Jede:r kennt die Situation, wenn ein Track einen auf die Art und Weise catcht, dass man die eigene Mimik kaum in Schach halten kann. "KETTEN" von Gianni Suave schafft das bei mir jedes Mal aufs Neue. Von fetten Kicks über interessante Sounds bis zu hervorragender Lyrik liefert der Track alles, was mich als Hörerin in den Bann zieht. Genauso, wie die 808s dancen, kann auch ich beim Hören kaum still sitzen.
5. RAPK – Gare du Nord (prod. by MotB)
Jonas: Nachts verplant durch die Straßen ziehen, sich an den Bahnhof setzen, die vorbeifahrenden Züge beobachten, eine rauchen und diesen Song hören. Viel mehr geht nicht.
6. Shirin David – Man's World (prod. by Juh-Dee, Young Mesh, Frio)
Mina: Vor bald drei Jahren habe ich mich mit einem Text bei MZEE.com beworben, in dem ich über fehlende, weibliche Vorbilder im deutschen Rap geklagt und von meinem Zugang als Jugendliche zu Rap gesprochen habe. Seitdem ist so unfassbar viel Gutes passiert – und das neue Album von Shirin David ist für mich der Gipfel davon. Die 14-Jährige in mir hat sich vielleicht noch ein bisschen mehr über all die wundervollen Referenzen gefreut als die Frau, die ich jetzt bin. Fergie, Carla Bruni, Eva Longoria, natürlich Kitty Kat und so viele mehr – Shirin und Laas haben sich da wirklich selbst übertroffen! Nach all den einfallslosen Scarface- und Robert De Niro-Referenzen von so vielen Rappern war dieses Album echt bitter nötig. "Jeder schreibt den gleichen Unfug, alles Katastrophe." "Man's World" ist ein Paradebeispiel dafür, dass das auch anders geht. Bitches brauchen eben Bitches.
7. Ilhan44 – Schwarz (prod. by Asadjohn)
Simon: Man kann politische Songs machen, die superlangweilig sind und nur den Zeigefinger ganz weit erhoben haben. Oder man macht halt so einen Song wie Ilhan44 und bringt die ganze Wut und Verzweiflung über manche Verhältnisse einfach mal auf den Punkt.
8. Fatoni & Edgar Wasser – Realität (prod. by Torky Tork)
Kerstin: "Realität" ist eigentlich schon Silvester 2020 erschienen, das Album aber in diesem Jahr. Der Song hat leider null an Aktualität eingebüßt. Bei jeder irrwitzigen Nachrichtenmeldung über den Wahlkampf, unser Pandemie-Management oder die Klimakrise lief in meinem Kopf sofort: "Es wird immer schwieriger für Satiriker." In diesem Sinne: Auf ein gesundes neues Jahr mit weniger Realsatire und mehr wissenschaftlicher Realität.
9. Rokko Weissensee – Windpocken (prod. by MecsTreem)
Lukas: Ich weiß, dass man in der aktuellen Zeit wohl eher Songs hören sollte, die die eigene Laune verbessern. Stattdessen ist mein Musikgeschmack besonders in diesem Jahr vielmehr in Richtung "Was unterstreicht diese schlechte Stimmung?" gewachsen. Düstere Instrumentals, mies böse Punchlines. Rokko Weissensee ist eine der Neuentdeckungen für mich aus dieser Richtung. Und gerade die Variante seines Running Gags auf "Windpocken" unterstreicht die gesamte Wandlung meines Musikgeschmacks perfekt: "Früher war ich fröhlich, heute hab' ich COVID-19."
10. Ahzumjot – Lass uns scheinen (prod. by Ahzumjot, Ben Esser)
Armina: Ahzumjot schafft es mit "Lass uns scheinen", jeglichen Hass, den man spürt, vergessen zu lassen. Sein Appell, füreinander statt gegeneinander zu sein, berührt mich beim Hören jedes Mal aufs Neue. Diesen Song sollten sich insbesondere diejenigen zu Herzen nehmen, die das Gefühl für Nächstenliebe etwas aus den Augen verloren haben.
11. Audio88 & Yassin – Kein Regen (prod. by Suff Daddy, Yassin)
Tim: Den Song durfte ich das erste Mal im März 2020 auf meinem letzten Konzert vor der Pandemie hören. Soweit ich mich erinnere, leitete Yassin den Track mit den Worten ein: "Der Beat ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber gebt ihm eine Chance." – Suff Daddy und Yassin haben mit der Produktion genau meinen Geschmack getroffen. Ab da wartete ich darauf, den Song wieder hören zu können. Im Februar dieses Jahres war es dann endlich soweit. Audio88 & Yassin vervollständigen den Track mit perfektem Punchline-Rap und machen ihn zu meinem Rap-Song des Jahres.
12. Haftbefehl feat. Schmyt & Bausa – Leuchtreklame (prod. by Bazzazian)
Lupa: Spotify sagt: "Liebe Lupa, dies ist Dein meistgehörtes Lied des Jahres 2021." Ich sage: "Ach, krass, echt?" Und nach wenigen Sekunden: "Ja, ok, stimmt – war klar." Dieser Bazzazian-Beat! Dann Hafti, einfach einer der besten deutschen Rapper, der sich von Jahr zu Jahr weiter steigert. Und im Anschluss Schmyt, einer meiner absoluten Lieblings-Sänger-Rapper. Was für eine Atmosphäre. Wenn da noch zu guter Letzt jemand arrogant mit einer kratzenden Stimme drüberflowen könnte … kleiner Scherz. Einfach rundum mächtig, dunkel, treibend – perfekt.
13. Grafi feat. DISSY – Muriel (prod. by KCVS)
Jens: Das gewaltige Witchhouse-Instrumental öffnet bei jedem Hören eine Wolkendecke in meinem Kopf. Was KCVS hier gebastelt hat, ist einzigartig. DISSYs und Grafis Stimmen streichen zart über den kräftigen Beat und kreieren dabei eine verdichtete Atmosphäre.
14. $OHO BANI – Nicht genug (prod. by Melle, Ericson)
Sandra: Der Druck auf junge Leute ist auch außerhalb von Pandemie-Zeiten superhoch: Schreib gute Noten, lern etwas Ordentliches, sei immer anständig, ordne dich in das bestehende System ein und so weiter. Platz für eigene Ideen und Wünsche oder sich auszuprobieren, bleibt da wenig. Die Pandemie hat das alles noch verstärkt. $OHO BANI zeigt solchen Anforderungen auf "Nicht genug" den Mittelfinger und hat mit dieser Einstellung mehr verstanden als die meisten studierten Führungskräfte. Obwohl ich selbst mindestens zehn Jahre zu alt für diese Generation bin, fühle ich den Frust des Tracks komplett und empfinde ihn als Hymne für alle jungen Menschen, die mehr wollen als das, was ihnen vorgekaut wird.
15. Goldy.mp3 – Karma (prod. by Goldy.mp3)
Malin: Goldy.mp3 ist meine liebste Neuentdeckung in diesem Jahr. Ihre Stimme und Attitüde sind einzigartig wie von vielen Künstler:innen aus dem Erotic Toy Records-Umfeld. Der Song "Karma" bereitet einem sofort gute Laune. Der Vibe fühlt sich nach einem entspannten Sommertag an und die Message ist empowernd. Das Beste an dem Song ist, dass ich es nicht schaffe, ihn totzuhören, obwohl er auf Heavy-Rotation läuft. Wer Goldy.mp3 noch nicht kennt, sollte sie unbedingt auschecken.
16. KUMMER feat. Fred Rabe – DER LETZTE SONG (ALLES WIRD GUT) (prod. by Flo August, BLVTH)
Philipp: "Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut." – Bestandsaufnahme des Jahres 2021, bei der trotz allem der Silberstreif am Horizont erkennbar ist. Das macht ein bisschen mehr Hoffnung für alles, was in Zukunft noch so kommen mag.
17. Shogoon – Poster (prod. by Shogoon)
Holle: Shogoon ist für mich der interessanteste up and coming Artist in der Szene. Seine einzigartige Herangehensweise an Beats, Texte und Hooks sticht in Deutschland einfach ganz klar heraus – für mich hat noch niemand G-Funk, 2000er, Raptechnik und Ästhetik so zusammengeführt wie der Mindener. "Poster" ist mein meistgehörter Song 2021, steht aber nur stellvertretend für die drei EPs, die Shogoon seit 2019 veröffentlicht hat. Wenn ihr ein Album wollt: Hört die "Drama in 3 Akten"-Playlist und wartet auf 2022, ich bin mir sicher, da kommt etwas Goldenes!
18. Juicy Gay – Cornflakes (prod. by Mrbx)
Mimi: Das Jahr war für mich, so wie für vermutlich jeden, oft ziemlich anstrengend. Dieser Song hat mich durch das ganze Jahr begleitet und mir bei jedem Hören einfach wahnsinnig gute Laune gemacht. Good Vibes passend zum Frühstück – "die wichtigste Mahlzeit am Tag"!
19. Haze – Tagmond (prod. by Dannemann)
Nico: Der Titelsong zu einem sehr finsteren Album, das mich seit dem Release das gesamte Jahr über begleitet hat. Hier verschmilzt ein fast schon beklemmendes Pianosample mit staubtrockenen Drums zu einem düsteren, aber treibenden Klangteppich. Auf diesem rappt Haze technisch versiert Zeile um Zeile und schafft dabei einen perfekten Spagat zwischen rohem Straßenrap und Melancholie.
20. Yung Kafa & Kücük Efendi – Sturm (prod. by IMHIGHIMSORRY, Phil Classic)
Sarah: So kitschig es auch klingt: Wenn ich diesen Song höre und die Augen schließe, tauche ich in eine ganz andere Welt ein, in der sich alles ganz leicht anfühlt – fast so, als würde ich schweben.
21. Disarstar – Australien (prod. by HAVS)
Jakob: In meinen Augen hat Disarstar mit "Deutscher Oktober" sein bisher stärkstes Album veröffentlicht und in dem durchwachsenen Jahr 2021 für ein Highlight gesorgt. Der Hamburger Rapper ist eine wichtige Stimme gegen verstaubte Strukturen und Sexismus im Deutschrap und liefert auf seinem fünften Album treffende gesellschafts- und kapitalismuskritische Texte, ohne dabei auf moderne, eingängige Beats zu verzichten – für mich die Formel zum Instant-Klassiker. Sicher ist: Das Album wird im Gedächtnis bleiben.
22. Argonautiks – Pipe (prod. by Donnie Bombay)
Lennart: Bisher hatte ich zu den Argonautiks auf Albumlänge noch keinen Zugang. Mit "Paroli Pop" hat sich das aber geändert. Uschta und Timmy sind so unfassbar starke Rapper und auch die Produktionen von Donnie Bombay treffen genau meinen Geschmack – modern, aber mit viel Kopfnicker-Attitüde. "Pipe" ist für mich nur der Stellvertreter der Platte – Mitgröhl-Hook, tolle Lines, bester Flow. Uschta im Besonderen entwickelt sich zu einem meiner absoluten Lieblingsrapper.
23. BHZ – Hoodnights (prod. by Dead Dawg, MotB, THEMBA)
Moritz: Mit Club- oder Konzertbesuchen war es auch in diesem Jahr eher schwierig. Also zieht man mit den Brüdern und Schwestern los, holt sich genügend Getränke, einen Döner bei Rüyam und feiert, auch wenn es vielleicht gar nichts zu feiern gibt. Einfach mal wieder den Moment genießen und nicht an morgen denken!
All diese Tracks findet ihr hier in unserer "DIGGEN mit der MZEE Redaktion"-Playlist auf Spotify.
(Yasmina Rossmeisl)