Deutschrap-Journalismus. Schon über das Wort lässt sich streiten. Die einen meinen, "richtiger" Journalismus im deutschen Rap existiere doch gar nicht. Außerdem könne ja jeder selbst bessere Artikel schreiben als "diese Praktikanten". Die anderen finden, jeder, der im deutschen Rap journalistische Tätigkeiten ausführt, sei auch ein Journalist. Die nächsten führen auf: Ja, im deutschen Rap sind Redakteure unterwegs – aber keinesfalls Journalisten. Zusammenfassen lässt sich: Fast jeder hat zumindest eine Meinung dazu. Aber wie steht es um die Meinung der Journalisten selbst? Denn die hat kaum jemand mal gefragt. Dazu soll unsere Serie dienen – eine kleine Interviewreihe mit aktuell relevanten und aktiven Journalisten der deutschen Rapszene. Dabei möchten wir darüber reden, warum die Deutschrap-Medien von so vielen Seiten – auch von der der Künstler – immer wieder unter Beschuss stehen und wie die Journalisten diese Seitenhiebe persönlich empfinden. Wir besprechen, wie einzelne Journalisten ihren Platz in der Rapszene wahrnehmen und ob deutscher Rapjournalismus in Gossip-Zeiten noch kritisch ist. Wir möchten erfahren, ob sie die Szene noch unter dem Kultur-Begriff verstehen oder das Ganze für sie ausschließlich ein Beruf (geworden) ist. Es kommen Fragen auf, ob es vereinbar ist, in diesem Aufgabenbereich Geld zu verdienen und wie der aktuelle Deutschrap-Journalismus und seine Entwicklung gesehen wird. Und: Wie steht es überhaupt um die Entwicklung der Rapszene an sich? Das und vieles mehr werden wir in über zehn Interviews besprechen, in welchen es verständlicherweise immer nur um einen Teilbereich dieser großen Themenwelt gehen kann. Für das neueste Interview unserer Reihe baten wir Vassili Golod und Jan Kawelke zum Gespräch. Zwei Journalisten, die man auch guten Gewissens so bezeichnen kann – lernten sie sich vor einigen Jahren doch bei ihrem öffentlich-rechtlichen Volontariat kennen und sind mit ihrer Ausbildung innerhalb des HipHop-Journalismus somit eine echte Ausnahme. So verbindend der gemeinsame Werdegang auch ist, so unterschiedlich sind die persönlichen Interessen der beiden. Vassili wurde schon früh politisch geprägt und hegte lange den Traum, einmal Auslandskorrespondent für die ARD zu werden. Jan hingegen fand als echter Rap-Fan bald nach dem Abitur den Weg zum damals wichtigsten deutschen HipHop-Medium, der JUICE. Als sich die Wege dann kreuzten, wurde bald klar, dass ihre beiden Interessen – Rap und Politik – sich wunderbar journalistisch miteinander verbinden lassen. Und sie somit einen Mehrwert für den deutschen Rapjournalismus schaffen können. Denn auch wenn Rap und Politik irgendwie "schon immer zusammengehörten" und sehr viele Geschehnisse innerhalb der deutschen Rapszene eine Verbindung zu Politik haben, wurde nur selten und als absolute Ausnahme mal die Brücke zwischen den beiden Themen in der Szene-eigenen Medienlandschaft geschlagen. Der aus all diesen Gedanken heraus gegründete Podcast "Machiavelli" bietet nun seit einiger Zeit Akteuren aus dem Rap-Kosmos Raum für gesellschaftliche Themen und bringt diese unter anderem mit Politiker:innen zusammen. Neben Jan und Vassili spielt dabei auch Salwa Benz beim Podcast-Ableger "Machivalli Push" eine tragende Rolle. Salwa wurde von uns bereits 2018 zu ihrem Wirken in der deutschen Rapszene befragt, was hier nachgelesen werden kann. In unserem Gespräch mit den beiden Machiavelli-Gründern sprachen wir über ihr Podcast-Projekt, dessen Idee, Gründung und Ziele. Außerdem wurden ihre ersten Schritte in Rap und Politik thematisiert, das Problem des kritischen Rapjournalismus in Deutschland sowie der Einfluss von Social Media auf Journalismus und das große Thema der Cancel Culture.
MZEE.com: Anders als viele, mit denen wir in dieser Reihe ins Gespräch kommen, hat jeder von euch eine journalistische Ausbildung. Wie habt ihr beide zum Journalismus gefunden?
Vassili Golod: Schon während meiner Schulzeit habe ich ähnlich viel geredet wie jetzt und ständig Fragen gestellt. Ein Lehrer meinte damals: "Vassili, du bist neugierig – nervst aber auch. Du bist perfekt für die Radio-AG!" Da habe ich dann gelernt, wie man anderen das Mikro unter die Nase hält und schneidet. Etwas später war ich beim Lokalradio, radio aktiv, für ein Schulpraktikum, habe daraufhin frei gearbeitet und das FSJ Kultur dort gemacht. Ich wusste schon da, dass ich unbedingt Journalist werden und irgendwann im Ausland arbeiten möchte. Mein großer Traum war es, als Korrespondent für die ARD tätig zu sein. Zwischendurch habe ich für die Rheinische Post gearbeitet, ein Praktikum in London absolviert und kam dann über ein Bewerbungsverfahren zum WDR-Volontariat. Dort habe ich Jan kennengelernt und der Podcast nahm seinen Anfang.
Jan Kawelke: Ich habe mich immer sehr für Sprache interessiert und selber geschrieben. Als es Richtung Abitur ging, habe ich mich gefragt, wie man damit Geld verdienen kann. Da mir Journalismus finanziell attraktiver erschien, als Autor zu werden, habe ich ein Studium begonnen. Dazu kommt meine große Leidenschaft für Rap – eine zeitgenössische Sprache am Puls der Zeit. Er hat mich so gecatcht und berührt, dass ich mehr über diese Kultur wissen, aber auch Teil von ihr sein wollte. Da gibt es dann die bekannten zwei Wege: Entweder man rappt selbst oder man berichtet darüber. Im Studium bin ich dann zur JUICE gekommen und habe gemerkt, dass ich das gerne machen möchte. Ich habe einen großen Artikel über Rap und Depressionen geschrieben und dachte, dass man eine Verknüpfung zwischen Rap, Politik und der Gesellschaft herstellen kann … Was das WDR-Volontariat angeht, war es eher Zufall, dass ich mich darauf beworben hatte. Der Ausbildungsleiter war damals an der Uni und hat von diesem herausfordernden Bewerbungsverfahren gesprochen, in dem man sich über vier Runden durchkämpfen muss. Ich wusste nicht, ob ich die Ausbildung will – aber ich wollte die Herausforderung. (grinst) Im Volontariat hab' ich dann Vassili kennengelernt und wir wurden zwei Jahre lang durch die Redaktionen gejagt – jeden Monat durch eine neue. Mal beschäftigt man sich mit Sport, mal mit Politik. Man ist in Brüssel, Berlin oder Hamburg und will sich überall beweisen, etwas veröffentlichen und überzeugen. Wir haben das auch mal als zweite Pubertät beschrieben, weil man nicht weiß, wo man hinwill, was das alles ist und was das Ganze emotional mit einem macht.
Vassili Golod: Von dem Vergleich habe ich mich distanziert. (grinst)
Jan Kawelke: Genau! (lacht) Für Vassili war es eher das große Abenteuer-Wunderland, von dem er schon als 12-Jähriger geträumt hat. Endlich konnte er seine ganzen Journalist:innen-Idole treffen und von ihnen lernen. Ich war davor noch nie beim Radio oder Fernsehen, ich hab' immer nur geschrieben. Deshalb war es eine aufregende Zeit. Und ich glaube nach wie vor, dass es eine der besten Ausbildungen für Journalist:innen in Deutschland ist. Wir konnten viel lernen, haben uns kennengelernt und die Idee für Machiavelli entstand.
MZEE.com: Habt ihr durch das WDR-Volontariat die gleiche Ausbildung?
Vassili Golod: Gleich und dennoch unterschiedlich. Wir haben beide das Auswahlverfahren absolviert und waren dann zwei von insgesamt zehn Leuten, die zusammen Seminarblöcke hatten, in denen theoretische und praktische Sachen ausprobiert wurden. Danach gab es Praxisstationen. Jan war zum Beispiel bei der Lokalzeit in Dortmund und ich bei der in Köln. Oder Jan bei der ZEIT in Hamburg beim Feuilleton und ich bei POLITICO Europe in Brüssel.
Jan Kawelke: (lacht) Du hast dir direkt die geilsten Stationen rausgepickt …
MZEE.com: Ihr verbindet mit eurem Podcast Machiavelli die Themen Rap und Politik. Jan, was waren deine ersten Schritte im Rap-Bereich und Vassili, welche deine in der Politik?
Vassili Golod: Bei uns zu Hause liefen ständig Nachrichten, meine Eltern haben viel über Politik gesprochen. Wir haben zwangsläufig viel über die Entwicklungen in Russland und der Ukraine geredet. Ich kann mich noch gut an die Elefantenrunde mit Gerhard Schröder und Angela Merkel erinnern. Das sind die ersten politischen Erinnerungen, die ich habe.
Jan Kawelke: Ich habe einen vier Jahre älteren Bruder. Jeder Rap-Fan, der ähnlich aufwuchs, wird es kennen: Irgendwann tauchen die CDs im Kinderzimmer auf. Bei mir waren es DMX und Eminem. Ich hatte damals noch eine große Liebe für Linkin Park und Limp Bizkit, aber durch die beiden ist Rap dann in mein Leben gekommen. Ich hab' mich eingeschlossen oder war mit dem Discman unterwegs und habe meine Faszination für diese Kultur entwickelt.
Vassili Golod: Dann hast du "Numb/Encore" bestimmt gefeiert.
Jan Kawelke: Es hat mich auf jeden Fall sehr gefreut – auch wenn ich das alles inhaltlich mit meinen neun Jahren nicht verstehen konnte. Ich bin mit dieser Kultur und den MTV-Shows aufgewachsen, fand Basketball interessant, hab' die ganze Zeit ein Allen Iverson-Trikot und Baggy-Jeans getragen. Ich bin auf dem HipHop-Film hängengeblieben, auch wenn ich nicht weiß, warum er mich so fasziniert hat. Dann hab' ich angefangen, deutschen Rap zu hören und hatte das "MT3"-Album der Massiven Töne, das ich zwar sprachlich verstanden habe, aber inhaltlich nicht. Es gab dann diesen Moment, in dem meine Mama im Kinderzimmer stand und "Cruisen" gehört hat, in dem sexuelle Anspielungen gemacht werden. Sie hat mich dann damit konfrontiert und gefragt, ob ich verstehe, was da gerappt wird. Habe ich nicht.
MZEE.com: Umgekehrt gefragt: Vassili, was waren deine ersten Schritte im Rap-Bereich?
Vassili Golod: Ich habe Eminem gehört, aber nie die Originalalben besessen. Sie waren einfach zu teuer. Im Türkeiurlaub mit meiner Mutter habe ich mir für 50 Cent ein Eminem-Album gekauft, das richtig billig aufgemacht war … Ich hab' auch Aggro Berlin gehört: Es gibt Videos, in denen ich coole Bewegungen imitiere und Sido mitrappe – ich bin froh, dass ich die nicht mehr wiederfinde. Würde Jan sie in die Hände bekommen, würde es schlecht aussehen. (grinst) Als Jugendlicher habe ich Rap gehört, aber das ist dann abgebrochen. Ich hatte irgendwie keinen Bezug zu Musik. Als ich dann beim Radio moderiert habe, war Musik nur Mittel zum Zweck, um die Pausen zwischen den Moderationen zu füllen. Ich hab' einfach gespielt, was die Musikredaktion ausgewählt hat. Für mich lag der Fokus auf der Moderation.
MZEE.com: Hörst du denn heute wieder mehr Musik?
Vassili Golod: Ich höre Musik heute anders – dann vor allem Rap. Nachdem wir eine ganze Reihe an Künstler:innen interviewt haben, finde ich das auch spannender. Wenn ich einen neuen K.I.Z-Song mit einer Gysi-Zeile höre, erinnere ich mich daran, wie wir K.I.Z mit Gregor Gysi im Gespräch hatten. Dann zeige ich das Jan – vielleicht ist das ja von uns inspiriert.
Jan Kawelke: Bestimmt … (grinst) Es ist aber schon so, dass Vassili mir seit Beginn unserer Zusammenarbeit regelmäßig Songs schickt und mich fragt, ob ich das schon gehört oder auf eine Zeile schon geachtet habe. Immer häufiger passiert es, dass ich mir dann eingestehen muss, dass ich das noch nicht auf dem Schirm hatte und er da was ausgegraben hat.
Vassili Golod: In meinem Freundeskreis bin ich inzwischen sowas wie der Musikexperte geworden: "Kennt ihr schon den neuen Track? Die Zeile ist interessant, hat den Hintergrund und ist eine Referenz auf …" (grinst) Hätten sie mir vor fünf Jahren erzählt, dass ich die neuesten Songs präsentiere und auch noch einordnen kann, hätte ich ihnen nicht geglaubt.
MZEE.com: Und Jan, welche waren deine ersten Berührungspunkte mit der Politik?
Jan Kawelke: Ich kann mich selber nicht mehr daran erinnern – es ist also eine Pseudo-Erinnerung, weil sie mir erzählt wurde. Soweit ich weiß, wurde ich schon mit Arbeiterkampf-Liedern von meinem Vater in die Wiege gesungen. Ich komme aus einem doch sehr politischen Haushalt, aber abseits von den Gesängen hat das in meiner Kindheit keine große Rolle gespielt. Das erste politische Ereignis, an das ich mich erinnern kann und von dem ich als Kind eine politische Handlung ableiten konnte, war der 11. September und der daraus entstandene Krieg. Ein Freund und ich haben danach Zettel geschrieben, auf denen sowas stand wie "Stoppt den Krieg!" und haben sie in die Briefkästen der Nachbarn geworfen. (lacht) Da passierte etwas in der Welt, das mir als ungerecht erschien. Ich wollte etwas tun und in meiner legitimierten Handlungsmöglichkeit war es dann Zettelschreiben. Meine zunehmende Politisierung im jugendlichen Alter hat mich dann von Rap weggeführt, weil es genau die Zeit war, in der Rap in Deutschland sehr unpolitisch war. Ich habe mich stark politisiert, war viel auf Demonstrationen und habe mich mit dem Kampf gegen Rechts beschäftigt. Das hat in der Musik nicht mehr stattgefunden. Ich war dann eher dem Punk-Genre zugewandt und bin zu Rap zurückgekommen, als ich gemerkt habe, dass sich wieder mit anderen Inhalten als nur der Straße auseinandergesetzt wird. Im Rückblick hat das natürlich auch eine politische Komponente, aber die konnte ich damals noch nicht sehen.
MZEE.com: Die Themengebiete Rap und Politik liegen nicht so weit auseinander – die Ursprünge von Rap sind politisch und soziokulturell. Wie entstand die Idee zum Machiavelli-Podcast und warum habt ihr diese Themen miteinander verbunden?
Vassili Golod: Die Podcast-Idee entstammt zur Hälfte unserem Volontariat. Zu der Zeit fand die Echo-Verleihung mit der Nominierung von Kollegah und Farid Bang statt und es gab die daraus resultierende Antisemitismus-Debatte in den Medien. Ich habe Jan mit Artikeln konfrontiert, weil ich das Thema total spannend fand. Er hat mir dann erklärt, was davon richtig und falsch ist. Es hat mich völlig erstaunt, dass gestandene Politik-Journalist:innen einfach falsche Dinge schreiben, Zeilen falsch zitieren oder sie dem falschen Künstler zuordnen. Ich hab' ihn dann gebeten, mir eine gute Analyse aus einem HipHop-Magazin zu schicken. Da hat er mir erklärt, dass es innerhalb dieser Szene zwar Journalist:innen gibt, aber Rap-Journalismus nicht wirklich kritisch ist und es somit kaum Analysen gibt. Wir haben dann viel darüber diskutiert und festgestellt, dass es kein richtiges Format an der Schnittstelle von Rap und Politik gibt. Obwohl Rap auch im "normalen" Journalismus stattfindet, wird diese Berichterstattung der Kultur nicht gerecht – es ist kein Journalismus auf Augenhöhe. Im Rapbereich aber fehlt das Kritische, das der "normale" Journalismus mitbringt. Während dieser Diskussionen haben uns Leute gefragt, warum wir keinen Podcast machen – da es spannend sei, was wir erzählen und wie wir streiten. Es war schon immer ein richtiger Streit, aber fair und mit dem Ziel, die eigene Perspektive zu erläutern und argumentativ zu begründen. Im Nachrichten-Journalismus fehlte mir die Tiefe, in das Thema einzusteigen und Jan fehlte das Kritische im Kulturjournalismus. Durch diesen Streit sind wir dann auf die Idee gekommen, diese Bereiche durch die Kompetenzen, die wir uns einbilden, in unseren Bereichen zu haben, zu einem eigenen Format zu verbinden.
Jan Kawelke: Es ging nicht darum, die große kritische Stimme zu sein, sondern hervorzuheben, was an dieser Kultur so bereichernd ist. Und was man daraus lernen kann. Auch, was Politiker:innen und Menschen daraus lernen können, die sich nicht mit Rap auseinandersetzen. Ich glaube, dass man es eher schwer haben wird, wenn man die Rap-Kultur von politischer Seite aus ignoriert und sich nicht damit auseinandersetzt, weil sie so einflussreich und wichtig ist. Sie zeigt Themen in unserer Gesellschaft auf, die Menschen nicht bewusst sind und ist insofern horizonterweiternd. Was den Podcast angeht: Wir können uns aneinander intellektuell bereichern und andere können daran teilhaben. Wir rutschen in kein Gefälle rein, weil wir auf beiden Seiten immer ein Korrektiv haben. Da ist immer jemand, der eine Seite versteht und eingreifen kann, was zu mehr Verständnis führt.
MZEE.com: Ich denke, eine Sache bezüglich des deutschen HipHop-Journalismus müssen wir nicht schönreden: Es ist – auch aus der Historie heraus – den Magazinen und Journalisten noch nie leichtgefallen, richtig kritisch gegenüber Künstlern aufzutreten. Mit dem Generationenwechsel scheint sich das Ganze langsam, aber sicher zu ändern. Und genau deshalb ist euer Podcast auch so wichtig: Ihr habt eine gesunde Distanz zur Szene, sodass ihr euch mit manchen Themen anders befassen, über sie berichten oder kritisieren könnt.
Vassili Golod: Unser Anspruch ist es, kritisch, aber gleichzeitig respektvoll zu sein. Wir gehen damit so an die Arbeit ran, dass wir den Kontext verstehen und die Kultur ernst nehmen wollen. Für den HipHop-Journalismus ist es schwer, Geld zu verdienen, weil es viele Abhängigkeiten gibt, die eine kritische Berichterstattung erschweren. Unser Vorteil ist, dass wir das Problem als Teil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht haben. Das ist einerseits ein riesiges Privileg, andererseits eine riesige Verantwortung. Aber auch wichtig – denn wir alle zahlen Rundfunkbeiträge und müssen deshalb auch Formate entwickeln, die verschiedene Zielgruppen ansprechen. Ich will nicht sagen, dass wir etwas revolutioniert haben, aber wir sind eine wertvolle Ergänzung zu dem, was es schon gibt.
MZEE.com: Welche Zielgruppe habt ihr zum Start des Podcasts erwartet?
Vassili Golod: Unser Ziel war es, beide Welten zusammenzubringen: die Politik- mit der Rap-Blase. Wir fanden, dass im HipHop viel Gesellschaftspolitisches steckt. Die Politik versucht zwar immer, die Jugend besser zu verstehen, aber spricht zu wenig mit Playern, die für die Jugend relevant sind. Wir wollten versuchen, mit den Leuten auf beiden Seiten zu sprechen – im besten Fall hören uns ein paar Leute im Bundestag und einige Künstler:innen. Die Zielgruppe, die ich immer vor Augen hatte, waren jüngere Menschen wie Erstwähler:innen. Oder ein bisschen Ältere, die sich für Politik interessieren und gerne HipHop hören.
Jan Kawelke: Ich hatte Leute wie mich vor Augen, vielleicht auch jünger, die sich eine Einordnung zu Themen wünschen. Zugänge sind beim Lernen immer das Wichtigste und Musik kann ein Zugang sein, um viel über die Welt zu erfahren. Bei COSMO, dem Radiosender, bei dem wir mit Machiavelli sind, haben wir auch das Motto, die Welt über die Musik vor Ort zu verstehen. Was bedeutet es, wenn in Kolumbien bestimmte Protestsongs laufen? Woraus sind sie entstanden? Wie spiegeln sie die Gesellschaft dort wider? Über diesen Zugang kann man ganz viel lernen. Es ist eine große Herausforderung für uns, sich nicht die ganze Zeit in der eigenen Rap- oder Politik-Bubble zu bewegen und nur mit der Antilopen Gang, Fatoni, KeKe und Ebow zu sprechen – auch wenn das natürlich tolle und immer bereichernde Gespräche sind. Wir möchten darüber hinausgehen, die Leute ernst nehmen und auch die einbinden, die außerhalb dieses Kosmos sind und denken, dass sie keine politische Meinung haben. Wichtig ist dabei auch, an bestimmten Stellen nicht zuzumachen, wenn Dinge mit dem eigenen Weltbild nicht übereinstimmen. Teilweise ist Rap ein hartes Genre und es werden immer noch problematische Sachen gerappt. Aber ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen, ist ganz entscheidend – auch bezogen auf die Zielgruppe. Ich glaube, dass der Großteil der Rapszene noch nicht unseren Podcast hört. (grinst) Vielleicht ist es auch unsere Verantwortung, darüber nachzudenken, wie wir die Leute erreichen, weil wir inklusiv sein und alle abholen möchten.
Vassili Golod: Die Politikverdrossenheit, die Jan angesprochen hat, ist ein wichtiger Punkt. Sie ist ja nicht nur in der Rapszene verbreitet, sondern in Teilen der gesamten Gesellschaft. Einerseits werbe ich dafür, Verständnis für Politik aufzubringen und zu erklären, warum Prozesse sind, wie sie sind. Andererseits werben wir auch auf politischer Seite dafür, die Prozesse klarer zu machen und besser zu erklären. Damit es gar nicht erst zu dieser Verdrossenheit kommt. Natürlich ist das eine riesige Aufgabe, die wir allein mit unserem Format nicht meistern können – aber wir versuchen, einen klitzekleinen Beitrag zu leisten.
MZEE.com: Euch scheint kein Thema zu groß oder komplex zu sein: Jüdisches Leben, Proteste in Russland, Boulevard-Journalismus – Themen, die bei Machiavelli stattgefunden haben. Habt ihr euch dennoch auf Bereiche geeinigt, die ihr nicht thematisieren möchtet?
Vassili Golod: Nein.
Jan Kawelke: Das Einzige, worüber wir manchmal streiten, ist, dass Vassili über etwas Bestimmtes sprechen möchte und es für mich wichtig ist, dass die Themen auch eine Rap-bezogene Grundlage haben. Manchmal gibt es aber Themen, die schwer mit Rap zu fassen sind und mit denen sich noch nicht genug beschäftigt wird. Die Klima-Folge hat zum Beispiel gezeigt, dass Rap in dem Bereich sehr inaktiv ist, obwohl er ein großes Thema darstellt – vielleicht sogar das Wichtigste unserer Generation. Für mich war es da schwierig, Punkte zum Anknüpfen zu finden. Ansonsten haben wir uns immer die Freiheit genommen und von COSMO und unserer Chefin bekommen, die Themen umzusetzen, die wir machen wollten. Ich würde nicht sagen, dass es ein Thema gibt, das wir ausschließen. Unser Wunsch ist es grundsätzlich, nicht über Themen zu sprechen, ohne dabei Menschen einzubinden, die selber betroffen oder Experten sind. Das ist unser journalistischer Antrieb.
Vassili Golod: An jede Folge gehen wir mit dem journalistischen Handwerk ran, das wir gelernt haben und uns wichtig ist. Aber: Es gibt nicht die perfekte Folge, die man hören soll, um ideal zu einem Thema informiert zu sein. Jede Folge stellt unsere Herangehensweise, unseren Blick und den unserer Gesprächspartner:innen dar. Für unsere Hörer:innen soll das ein Anreiz sein, sich tiefer mit einem Thema zu beschäftigen, wenn es sie denn interessiert.
Jan Kawelke: Eigentlich ist es ein neugieriger Versuch von uns, sich einem Thema zu nähern, das wir verstehen wollen. Wir mussten auch immer wieder lernen, dass man an bestimmten Stellen scheitert und nicht jeden Winkel abbilden kann.
Vassili Golod: Ich würde das gar nicht scheitern nennen. Das ist eher der gesunde, normale journalistische Prozess. Scheitern wäre, wenn wir eine Folge nicht veröffentlichen könnten. Und das gab es bisher, selbst in den schwierigsten Situationen, noch nicht. Es kam vor, dass wir gemerkt haben, wie groß oder komplex ein Thema ist. Dann kommt die Folge mal einen Tag später. Das ist aber auch das Coole an non-linearen Formaten. Auch wenn die Folge nicht pünktlich da ist, wird es uns verziehen, wenn wir dann eine hochwertige Folge abliefern.
MZEE.com: Thema Cancel Culture – der Ausschluss von Personen und Organisationen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen und Handlungen vorgeworfen werden: Wie steht ihr dazu? Spielt sie eine Rolle und ist sie eine Option für journalistische Berichterstattung?
Vassili Golod: Das ist ein riesiges Feld. Und das Problem bei Cancel Culture ist, dass sie von verschiedenen Menschen unterschiedlich definiert wird. Das macht es problematisch, über sie zu sprechen. Nehmen wir als Beispiel Jan Josef Liefers und die "Allesdichtmachen"-Aktion: Die Leute haben gefordert, dass er keine Rolle mehr spielen soll. Aber die Konsequenz war, dass er nach dieser Aktion in jeder Talkshow saß und der WDR seinen Vertrag für den Tatort verlängert hat. Auch wenn in diesem Zusammenhang von Cancel Culture gesprochen wurde, war die reale Auswirkung, dass er weiterhin vor großem Publikum stattfindet und ein Forum bekommt, um seine Meinung zu vertreten. Ich würde eher sagen, das Problem ist, wie wir diskutieren und wie Debatten ablaufen. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn Künstler:innen Thesen aufstellen, provozieren, auch mal falsch liegen. Und dann im Diskurs eine Gegenmeinung entsteht, die ihnen deutlich vermittelt, warum sie falsch liegen. Es ist wichtig, dass dieser Diskurs respektvoll, auf Augenhöhe und mit Argumenten stattfindet. Wir streiten auch viel über Themen, haben unterschiedliche Meinungen in Redaktionskonferenzen, aber versuchen, das Ganze mit Argumenten aufzulösen. Würden wir sagen, dass bei uns gewisse Leute nicht stattfinden, dann würden mir sofort mehrere Folgen einfallen, die wir so nicht hätten senden können.
Jan Kawelke: Ich stimme zu, dass Cancel Culture Definitionssache ist. In der Rap-Szene haben wir Artists, die problematische Sachen sagen und Kritik erhalten. Darauf kommt dann der Vorwurf, dass man nichts mehr sagen darf und sofort gecancelt wird – aber das stimmt ja einfach nicht. Personen der Skandale des letzten Jahres finden immer noch statt. Kollegah hat zwar einiges an Follower:innen eingebüßt, aber ist immer noch am Start – es wird über ihn berichtet, seine Lines werden zitiert. Natürlich bekommen wir auch Nachrichten, in denen gefragt wird, wie wir beim Thema Armut einen Refrain aus einem Fler-Song als Beleg spielen können, weil Fler doch dieses und jenes gemacht hat. Wir finden, dass Leute, die sich zu einem Thema problematisch geäußert haben, trotzdem noch bei anderen zu Wort kommen sollten. Und dass es wichtiger ist, deren Treiben in ihrer Lebensrealität abzubilden und mit den Leuten ins Gespräch zu gehen. Natürlich gibt es irgendwo Grenzen, aber bei allem anderen sind wir in einem Prozess. Ich glaube, dass Künstler:innen auch eine gewisse Form von Reflexionsbereitschaft besitzen, wenn man mit ihnen darüber redet.
MZEE.com: Wenn wir einen Blick auf die deutschen HipHop-Medien werfen, fällt auf, dass sie sich oft über ihre Journalisten vermarkten. Nehmt ihr das im deutschen Rap als extremer wahr oder ist das in euren Augen in journalistischen Bereichen so üblich?
Jan Kawelke: Ich glaube, dass das ein generelles Thema ist, weil man sich eher an Gesichter und Stimmen erinnert. Das Medium Podcast bestätigt, dass wir etwas Persönliches haben wollen, denn am Ende der Woche sitze ich mit meinen zwei liebsten Podcast-Hosts in der Kneipe und sie erzählen mir, was sie so erlebt haben. Ich sehe das als gar nicht so problematisch – aber natürlich muss man darüber diskutieren und die Trennlinien scharf halten, wenn es in einen Bereich zwischen Journalismus, Aktivismus und Influencing reinrutscht. Im amerikanischen Rap-Journalismus gibt es die Figuren und Gesichter, auf die man sich verlässt und in Deutschland existieren teilweise Äquivalente dazu. Ich merke auch bei mir selbst, dass es Menschen gibt, denen ich aufgrund ihrer Haltung vertraue. Und wir haben auch bewusst entschieden, dass Salwa zum Machiavelli-Team gehört, damit Menschen sich auch mit ihr identifizieren können. Wir schätzen sie für ihre Stimme und Gedanken, mit denen sie den Podcast bereichert.
Vassili Golod: Ich finde, es bedingt einander. Die Süddeutsche Zeitung ist ein starkes Medium, weil sie von sehr guten Journalist:innen gemacht wird und profitiert davon, dass sie auch auf anderen Kanälen präsent sind. Leute, die in der Tagesschau stattfinden, werden durch diese Marke bekannt und haben dadurch eine besondere Verantwortung – tragen aber auch selbst dazu bei, dass diese Marke auf anderen Kanälen relevant bleibt. Der Zusammenhang ist wichtig und man sollte dankbar sein, ein Forum zu haben, aber sich auch der Verantwortung bewusst sein, dass man mit der eigenen Arbeit die Marke weiter stärkt.
Jan Kawelke: Es ist aber keine Bedingung. Wer im Journalismus arbeiten will, muss nicht automatisch zu einer Marke werden. Das ist ein falscher Schluss, den viele daraus ziehen. Man muss sich darüber klar werden, kann diese Entscheidung treffen und darauf hinwirken. Wir funktionieren zum Beispiel auch nur in dem kleinen Rahmen, in dem wir unterwegs sind, weil wir ein Team haben, das journalistisch mit uns arbeitet. Zu dem Team gehören viele Leute, die genauso wichtig sind wie wir, die dann als Gesicht oder Stimme funktionieren.
MZEE.com: Glaubt ihr, dass das Ganze einer kritischen Berichterstattung teils im Weg steht?
Vassili Golod: Wenn man sich für wichtiger nimmt als der Inhalt, über den man berichtet, dann hat man ein Problem. Und das ist bei einigen der Fall.
MZEE.com: Wenn ihr eure Arbeit in den vergangenen Jahren betrachtet und die an Bedeutung zunehmenden Plattformen: Hat Social Media einen großen Einfluss auf Journalismus allgemein und auf eure journalistischen Tätigkeiten im Speziellen?
Vassili Golod: Ich sehe Social Media als weiteren Kanal, um wichtige Inhalte zu transportieren, andere Zielgruppen zu erreichen und in den Diskurs zu gehen. Der große Mehrwert ist, dass Social Media als direkter Austausch funktioniert. Anders als früher sendet man nicht und kriegt vielleicht mal einen Hörer:innen-Brief. Wir geben eine Podcastfolge in die Welt und auf eine Aussage, die ich getätigt habe, erhält nicht nur der Machiavelli-Account eine Nachricht, sondern Salwa, Jan und ich bekommen jeweils eine. Ich sehe das als Bereicherung, weil ich mich mit dem, was ich mache, noch mal anders auseinandersetze. Man sollte aber auch eine kritische Distanz dazu haben. Das fällt manchmal leichter und manchmal schwerer. Selbst wenn ich in einer Nachricht beschimpft werde, antworte ich immer nett und höflich, gehe auf Inhaltliches ein und stelle dann fest, dass der Ton und die Ansprache, die dann zurückkommen, oft andere sind.
Jan Kawelke: Gerade, was die direkte Interaktion angeht, finde ich es auch wahnsinnig bereichernd. Ab einem gewissen Punkt funktioniert es aber nicht mehr, mit allen zu interagieren, weil sich daraus Kommunikationsschleifen ergeben und man sich verpflichtet fühlt, immer zu antworten. Social Media hat insofern Auswirkungen auf meine Arbeit, die ich gerade heute versucht habe, einzufangen: Ich habe Instagram und Twitter von meinem Handy gelöscht, um mich voll auf die nächste Folge zu konzentrieren. (lacht) Insofern raubt es viel Zeit, dort unterwegs zu sein, aber man kriegt wichtige Impulse. Es ist so, wie wir es in unserer ersten Folge gesagt haben: Wir sind nicht die allwissenden Experten zu diesen Themen. Wir sind dankbar, wenn Leute uns mit ihren Gedanken und Anregungen bereichern, um die neugierige Suche zu komplettieren, auf die wir uns begeben haben.
MZEE.com: Kommen wir zu guter Letzt zu euren Träumen und Wünschen: Habt ihr journalistische Vorbilder innerhalb und außerhalb der deutschen Rapszene?
Vassili Golod: Wir verfolgen und schätzen das, was andere Kolleg:innen machen. Mal finden wir was gut und mal nicht, wir lernen dazu und ziehen unsere Schlüsse daraus. Aber ich würde nicht sagen, dass ich ein Vorbild habe. Ich will einfach ich selbst sein und besser werden in dem, was ich mache. Und ich wette, dass das für Jan genauso gilt.
Jan Kawelke: Das gilt für mich genauso. Ich tue mich damit schwer, Namen zu nennen, und kann nur auf die zurückgreifen, die immer genannt werden … Aber ich bin großer Fan von Roger Willemsen und allem, was er gemacht hat. Und versuche, mich daran zu orientieren.
Vassili Golod: Ich wusste gar nicht, dass Roger Willemsen Rap-Journalist war! (beide grinsen)
Jan Kawelke: Ich finde, bei Interviews spielt der Vibe immer eine ganz wichtige Rolle und auch, mit welcher Haltung man daran geht. Gerade in den letzten Jahren ist es schön, zu sehen, welche Stimmen unterwegs sind. Die Seite an Seite mit uns aktiv sind, die diese Szene um Perspektiven bereichern, die mutig und kritisch sind. Es macht richtig Spaß und bereichert mich. Wenn Miri (Anm. d. Red.: Miriam Davoudvandi) ein Interview mit Haftbefehl macht, ist das ein großer Moment für mich. Ich freue mich für sie und die deutsche Rapszene, dass sie dieses Interview macht, weil sie über Themen wie Depressionen spricht.
MZEE.com: Und habt ihr Ziele oder Träume in Bezug auf eure journalistischen Karrieren?
Vassili Golod: Barack Obama und Kendrick Lamar in einer Podcast-Folge zusammenbringen.
Jan Kawelke: Das ist die Standardantwort. (grinst) Auf jeden Fall. In Hinblick auf die Machiavelli-Sessions haben wir noch ein paar Dinge vor. Und für den Podcast haben wir auch noch viele Wunschkandidat:innen auf unserer Liste. Wir sind noch lange nicht am Ende.
Vassili Golod: Wir wollen einfach mit sehr gutem Journalismus an der Schnittstelle von Rap und Politik weitermachen. Das ist etwas, das nie abgeschlossen sein kann: ein Prozess.
(Florence Bader & Laila Drewes)
(Fotos von Nils vom Lande und WDR COSMO)