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DIGGEN mit ...

DIGGEN mit Juse Ju

Bei "DIGGEN mit …" kra­men wir mit Szeneprotagonist:innen in ihren gedank­li­chen Plat­ten­kis­ten. Die­ses Mal stell­te uns Juse Ju eine Play­list zusam­men, die trau­ri­ge und tra­gi­sche Songs ent­hält – unter ande­rem mit Döll, RAG und Sys­tem Of A Down.

Das ers­te Kon­zert, das man ohne Eltern besu­chen durf­te. Nachts allei­ne auf der Auto­bahn und den glei­chen Song immer und immer wie­der hören, weil man nicht fas­sen kann, wie gut er ist. Der Track, den man mit den Freun­den von frü­her laut grö­lend auf jeder Par­ty mit­ge­sun­gen hat. Ver­mut­lich kennt jeder Mensch die­sen Moment: Es läuft ein bestimm­tes Lied oder Album, das einen direkt emo­tio­nal in eine Situa­ti­on zurück­ver­set­zen kann, nost­al­gisch wer­den lässt oder ein­fach nur auf­grund sei­ner Mach­art immer wie­der zum Stau­nen bringt. Und genau dar­um geht es in unse­rem neu­en For­mat "DIGGEN mit …". Wir dig­gen mit ver­schie­de­nen Protagonist:innen der Sze­ne in ihren gedank­li­chen Plat­ten­kis­ten und spre­chen über Musik, die die­se Emo­tio­nen in ihnen aus­löst. Dafür stel­len unse­re Gäs­te jeweils eine eige­ne Play­list mit Songs zusam­men, die sie bewe­gen, begeis­tern und inspirieren. 

Juse Ju hat uns eine Play­list mit­ge­bracht, die trau­ri­ge Songs ent­hält. Er mag es beson­ders, wenn Musik mor­bi­de und tra­gi­sche Geschich­ten erzählt – von Ver­lust und vom Leben gezeich­ne­ten Men­schen. Musik, die die gro­ßen Fra­gen des Lebens stellt. So spra­chen wir über geschei­ter­te Exis­ten­zen und den Tod, aber auch über musi­ka­li­sche Mög­lich­kei­ten sowie deut­sche Rap­per, die für Juse Ju einen Licht­blick am lang­wei­li­gen Hori­zont der Musik­land­schaft darstellen.

 

 

1. Pearl Jam – Jere­my (prod. by Pearl Jam, Rick Parashar) 

Juse Ju: Ich muss schon über 20 Jah­re alt gewe­sen sein, als ich ver­stan­den habe, wor­um es in die­sem Song geht: um einen Jun­gen, den es wirk­lich gab und der sich vor sei­ner Klas­se in den Kopf geschos­sen hat. Ich lie­be, wie Eddie Ved­der die­ses "Jere­my spo­ke in class today" singt. Wie er im Rhyth­mus der Gitar­ren singt und da so rein­springt. Und die Geschich­te ist mor­bi­de und düs­ter – das ist genau mein Ding. Grunge im All­ge­mei­nen ist voll mei­ne Musik. Als Nir­va­na damals auf­kam, war ich zwar noch sehr jung und habe das alles nicht ver­stan­den, aber ich habe es natür­lich trotz­dem mit­be­kom­men. Sowohl die Atti­tü­de als auch die­ses Hoff­nungs­lo­se. Die lan­gen Haa­re, Karo­hem­den und abge­schnit­te­nen Jeans – das erin­nert mich auf eine posi­ti­ve Art an mei­ne Kind­heit. Auch wenn die Musik so depres­siv ist, erin­nert es mich an eine schö­ne Zeit. Der Impact von Bands wie Pearl Jam und Nir­va­na war so groß, dass es immer jeman­den geben wird, der das zurecht wie­der raus­kramt. Genau­so wie es immer jeman­den geben wird, der die Beat­les und die Rol­ling Stones rauskramt.

 

2. Nir­va­na – Lake Of Fire (prod. by Nir­va­na, Scott Litt) 

Juse Ju: "Lake Of Fire" ist ursprüng­lich eigent­lich gar nicht von Nir­va­na. Das Ori­gi­nal, das eine befreun­de­te Band geschrie­ben hat, habe ich aber tat­säch­lich nie gehört. (Anm. d. Red.: Das Ori­gi­nal stammt von den Meat Pup­pets.) Ich mag Songs, wenn die Tex­te sim­pel sind. Der Text hier ist aber fast schon kind­lich: "Whe­re do bad folks go when they die? They don't go to hea­ven whe­re the angels fly." Aber der dop­pel­te Boden von dem Song ist natür­lich der Wahn­sinn. Kurt Cobain teilt ja die­ses Welt­bild nicht. Der Song expo­sed die­ses Welt­bild, indem er es wie­der­holt und am Ende die­ser zyni­sche Satz kommt: "See 'em again 'til the Fourth of July." Also, am größ­ten Fei­er­tag kom­men die "bad folks" wie­der. Das rückt das in eine ande­re Per­spek­ti­ve und ist total gut geschrie­ben. Und ich mag auch die­ses Schlep­pen­de an dem Song. Die Per­for­mance ist so geil hingerotzt.

 

3. Sys­tem Of A Down – Toxi­ci­ty (prod. by Rick Rubin, Daron Malakian) 

Juse Ju: Dafür, dass Rap sehr auf Rhyth­mik und nicht so sehr auf Har­mo­nien basiert, machen Musiker:innen im Ver­gleich zu Metal super­we­nig damit. Wenn du zum Bei­spiel "Toxi­ci­ty" nimmst, sind im A-, B- und C-​Teil rich­ti­ge Brü­che drin. Sys­tem Of A Down vari­iert total mit der Geschwin­dig­keit. Musi­ka­lisch gese­hen ist das sehr span­nend. Im Metal wird auch oft von einem 4/​4-​Takt in einen 5/​8-​Takt gesprun­gen und lau­ter so Spä­ße. Das gibt es im Rap gar nicht, obwohl sich Rap dafür eigent­lich anbie­tet. Aber vie­le Leu­te über­for­dert das halt auch und es ver­stößt gegen die Regeln des Pop. Ich krie­ge ein rich­tig woh­li­ges Gefühl, wenn die­se Wech­sel kom­men. Ich bin wie ein Kind, das gera­de anfängt, das alles zu ler­nen, weil ich so lan­ge mit Hip­Hop und Singer-​Songwriter-​Sachen beschäf­tigt war, dass ich Metal nie so rich­tig wahr­ge­nom­men habe. Für Metal-​Fans ist das nichts Neu­es, aber für mich ist das total erfri­schend, weil Rap aktu­ell so lang­wei­lig ist.

 

4. RAG – Requi­em (prod. by Mr. Wiz)

Juse Ju: Das ist der Solo-​Song von Gal­la auf dem ers­ten RAG-​Album "Unter Tage". Ein sehr trau­ri­ger Song und durch die Geschich­te von Gal­la bekommt er eine noch grö­ße­re Tra­gik. Er redet über den Tod sei­ner Eltern – und auch er ist ja sehr früh ver­stor­ben. Allei­ne schon bei dem Sam­ple könn­te ich heu­len. Und dann sagt er sehr gro­ße Sät­ze. Er geht weit über Kitsch hin­aus, tief­grei­fen­de, exis­ten­zi­el­le Sät­ze: "Zu tief schläft das, was Wär­me und Lie­be war." Er sieht die eige­nen Feh­ler in der Bezie­hung zu sei­nen Eltern. Weil sie tot sind, kann er sie nicht mehr gut­ma­chen. Die­se tief­schür­fen­de Tra­gik schim­mert im Song durch und das macht ihn so stark. Er spricht über das größ­te The­ma unse­rer Exis­tenz: unse­ren Tod. Und ich fin­de, er hat das total gut gemacht, weil er es mit so einer komi­schen pas­to­ra­len Ruhe vor­trägt. Das ist der Song, der mir von RAG am meis­ten im Kopf geblie­ben ist. Nicht "Kopf­stein­pflas­ter". Ich glau­be, vie­le haben sie aber gar nicht auf dem Schirm. Für mich waren RAG Stars, aber für die meis­ten waren sie gar nicht exis­tent. Das Album ist für mich ein Deutschrap-​Klassiker. Das ist halt nur nichts, das man mal neben­bei hört.

 

5. Trett­mann – Geh ran (prod. by KitschKrieg)

Juse Ju: Ich hät­te nicht gedacht, dass mich ein Deutschrap-​Album noch mal so abholt. Ein paar Fea­tures gefal­len mir nicht so, aber der gan­ze Rest ist groß­ar­tig. Ich fin­de ganz stark, wie er die ruhi­ge Atmo­sphä­re in die­sem tra­gi­schen The­ma ein­ge­fan­gen hat. Es liegt auch an sei­nen Vide­os, dass ich mir immer einen Plat­ten­bau, in dem ein ein­sa­mes Tele­fon mit Wähl­schei­be klin­gelt, und sei­nen Freund, der nicht mehr ran­geht, vor­stel­le. Die­ses Bild fin­de ich so stark. Wenn man jün­ger ist, kennt man das viel­leicht nicht, aber ich bin jetzt 38 und da hat man natür­lich auch schon die ers­ten geschei­ter­ten Exis­ten­zen im Bekann­ten­kreis zu ver­zeich­nen. Irgend­wann weiß man: Das wird nichts mehr. Und ich bezie­he das gar nicht auf Kar­rie­re. Die­se Men­schen wer­den nicht mehr glück­lich. Sie wer­den die Zie­le oder das, was sie vom Leben wol­len, wahr­schein­lich nicht mehr erreichen.

 

6. grim104 – Abel '19 (prod. by Silkersoft)

Juse Ju: "Abel '19" ist ja mehr Spo­ken Word als ein rich­ti­ger Song. Das Rei­men pas­siert mehr neben­bei und er trägt es wie ein Nar­ra­tiv vor. Das fin­de ich fresh. Ich bin immer froh, wenn etwas pas­siert. Wir leben in einem Zeit­al­ter, in dem die meis­ten deut­schen Rap­songs in ers­ter Linie so pro­du­ziert sind, dass sie funk­tio­nie­ren und nicht irri­tie­ren oder stö­ren. Die­ser Song stört der­ma­ßen, auch weil er in sei­ner gan­zen Bild­spra­che so wahn­sin­nig plas­tisch ist. Man kann sich rich­tig vor­stel­len, wie der Jun­ge die Freun­din sei­nes Bru­ders ange­macht hat und dann blut­über­strömt vor der Dorf­dis­co im Regen liegt. Das ist ein unglaub­lich bedrü­cken­des Lied, das auch musi­ka­lisch bedrü­ckend umge­setzt wur­de. Es ist ein­fach ein­ma­lig, wie es die­se Stim­mung erzeugt.

 

7. OG Kee­mo – Vor­wort (prod. by Funk­va­ter Frank) 

Juse Ju: Und damit blei­ben wir beim Tod: "Ja, was nimmst du einem Sohn, der kei­ne Mom mehr hat? Unter­schrieb den Ver­trag 'nen Tag nach­dem ich sie begra­ben hab'. Der Start mei­ner Kar­rie­re hat auf ewig einen Nach­ge­schmack." Er wird immer auf Scher­ben lau­fen und ich fin­de, das merkt man sei­ner Musik an. OG Kee­mo ist ein gutes Bei­spiel für wirk­lich guten deut­schen Rap. Mit Funk­va­ter Frank hat er einen sehr inno­va­ti­ven Pro­du­zen­ten an der Hand, der kan­tig und gleich­zei­tig ein­gän­gig pro­du­ziert. Und sei­ne rhyth­mi­schen Fähig­kei­ten, wie er Sät­ze und Rei­me dar­in schach­telt, die Bil­der, die er erzeugt und an wel­chen Stel­len er Pau­sen macht – da stimmt ein­fach alles. Eigent­lich bringt er alles mit, was es braucht: Er ist Gangs­ter­rap­per, er ist jung, er rappt wahn­sin­nig gut und sein Sound ist modern und hart. Für die Kids, die musik­in­ter­es­siert sind, ist OG Kee­mo wahr­schein­lich die Offen­ba­rung. Da pas­siert dann viel­leicht auch eine Abgren­zung, so wie Hip­Hop das für mich damals war. Ich kann mir gut vor­stel­len, dass es heu­te Kids gibt, die sagen: "Du hörst 187-​Strassenbande. Ich höre Kee­mo." Er ist halt zu wenig Pop, aber das will er ver­mut­lich auch gar nicht sein. Er ist mehr als irgend­ein komi­sches Abziehbild.

 

8. Döll – 5 Sekun­den (prod. by Ena­ka, Gibmafuffi)

Juse Ju: Ich füh­le "5 Sekun­den" irgend­wie. Er sagt ja: "Ich habe zehn Jah­re geblu­tet, gib mir 5 Sekun­den Flex." Rap­pen ist schon auch ein Kampf gegen Wind­müh­len. Man hat nicht das Gefühl, dass man von irgend­wem Respekt für das bekommt, was man tut. Man tut es gegen andau­ern­de Wider­stän­de. So habe ich den Song zumin­dest inter­pre­tiert und des­halb füh­le ich ihn auch. Ich mache das alles, ähn­lich wie er, schon ziem­lich lan­ge. Und von der Musik­in­dus­trie braucht man kei­ne Aner­ken­nung erwar­ten. Die wird es nicht geben. Döll hat es geschafft, sich aus einem Kaff in Hes­sen durch eine Rap-​Landschaft zu rap­pen, die so jeman­den wie ihn nicht will, weil er kein Gangs­ter ist und kei­nen Pop macht. Aber er hat es geschafft, sich da durch­zu­bei­ßen und inde­pen­dent sei­ne Alben raus­zu­brin­gen. Gönn ihm doch mal die­se 5 Sekun­den Respekt für das, was er erreicht hat. Die meis­ten, die anfan­gen, kom­men nie­mals da hin, wo Döll ist. Mit "Nie oder jetzt" ist er auf Platz 15 gechar­tet. Er macht Musik, die Leu­ten wich­tig ist, und ist ein Aus­nah­me­ta­lent. Des­we­gen habe ich den Song mit in die Play­list genom­men: um ihm die­se 5 Sekun­den Flex zu gönnen.

 

9. Rai­nald Gre­be – Cap­tain Krü­mel (prod. by Rai­nald Grebe)

Juse Ju: Bei Rai­nald Gre­be begeis­tert mich nicht unbe­dingt das Musi­ka­li­sche, son­dern wie er Tex­te schreibt. Er schafft es, Musik zu machen, die als Come­dy funk­tio­niert. Und Come­dy ist in Deutsch­land eigent­lich immer Kla­mauk und ein biss­chen pein­lich. Ihn fin­de ich aber sehr lus­tig und füh­le, was er macht. "Cap­tain Krü­mel" fin­de ich so beein­dru­ckend, weil er über den Herz­schmerz und das Ver­lo­ren­sein als Teen­ager in einer Klein­stadt spricht. Na ja … Ich war auch mal ein Teen­ager in einer irrele­van­ten Klein­stadt. Der Song bricht sich auch nicht. Rai­nald Gre­be ver­sucht nicht, künst­lich eine Distanz zu sich zu schaf­fen, son­dern blickt ein­fach nur mit ein biss­chen Nost­al­gie auf sei­ne Jugend irgend­wo in Nordrhein-​Westfalen zurück.

 

10. Lau­ra Mar­ling – Hope in the Air (prod. by Ethan Johns) 

Juse Ju: Lau­ra Mar­ling war 2020 die Per­son, die ich am aller­meis­ten gestreamt habe. Sie ist für mich die bes­te eng­li­sche Singer-​Songwriterin, weil sie sich so aus­drückt, dass es sich immer auf das gro­ße Gan­ze im Leben bezieht. Das mag ich. Und sie ist immer furcht­bar ernst dabei. Das mag ich auch.

 

11. Kendrick Lamar – Sing About Me, I'm Dying Of Thirst (prod. by Like, Skhye Hutch)

Juse Ju: Wenn man als Rap­per hören möch­te, was mög­lich ist, hört man sich Kendrick an. "Sing About Me, I'm Dying Of Thirst" ist ein­fach geil, weil er etwas Posi­ti­ves beinhal­tet. Es geht wie­der um den Tod: Dass man über Kendrick sin­gen soll, wenn er mal nicht mehr ist. Die­se Vor­stel­lung, dass das nach sei­nem Tod pas­sie­ren wird, ist beru­hi­gend für ihn und erzeugt so einen total gei­len Vibe. Der Song ist auch so schlep­pend, immer ein Zwei­und­drei­ßigs­tel zu spät. Da sind wir wie­der bei mei­nem Fetisch für Rhyth­mik. Ein­fach ein schö­nes Stück Musik.

 

All die­se Tracks fin­det ihr hier in unse­rer "DIGGEN mit Juse Ju"-Playlist auf Spotify.

(Yas­mi­na Rossmeisl)
(Fotos von OH MY)