Auf meinem Laptop-Bildschirm sehe ich yan0sh und venquist. Sie sitzen gemeinsam in einem Raum, der sehr gemütlich scheint. Vertraut und herzlich miteinander, denn sie sind Freunde und Mitbewohner. Abseits davon sind sie auch zwei der vielen Mitglieder von DAS NEU – einer Community, die gemeinsam Songs releast, bei denen zwischen Liebe und Digitalisierung oft ein Hauch Dystopie mitschwingt. Doch das soll erst der Anfang sein. Im Verlauf unserer Unterhaltung haben sie mich verstehen lassen, dass es bei DAS NEU nicht nur um Zukunftsvisionen, sondern auch um Offenheit geht. Darum, dass Menschen einen inspirieren können. Und darum, dass man neue Möglichkeiten schafft und bis an die Grenzen des bereits Möglichen geht. Aber kann man das Musikgeschäft noch groß revolutionieren? Geht das mit Musik, die für sich alleine steht, womöglich gar nicht mehr? Nicht nur darüber haben sie mit mir philosophiert: Wir haben zudem den Versuch gewagt, die Gegenwart zu skizzieren, um von dort aus einen Blick in die Zukunft zu werfen.
MZEE.com: DAS NEU besteht aus vielen Menschen, deren Konstellation variiert. Außerdem versteht ihr euch als Community, in die über kurz oder lang Personen von außen und Fans in den musikalischen Prozess integriert werden sollen. Wie kann man sich das vorstellen?
yan0sh: Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Wir haben das Glück und Pech zugleich, dass das Kernteam in unterschiedlichen Städten in Nordrhein-Westfalen wohnt und dementsprechend sowieso viel übers Internet arbeitet. Deswegen bietet es sich an, dass man Leute dazu holt und einen kreativen Austausch möglich macht.
venquist: Wir haben DAS NEU zu viert gegründet, aber es hat sich relativ zügig so entwickelt, dass Freund:innen Bock hatten, daran mitzuarbeiten. Deshalb haben wir uns von vornherein nicht limitiert. Mittlerweile wollen wir es auf die Spitze treiben und progressiv denken. So ein Discord-Kanal – wie wir ihn betreiben – kann sich ja mit der Zeit immer weiter füllen. Wenn genügend Leute dabei sind, könnte man zum Beispiel Songwriting-Prozesse transparent gestalten, sodass man von einer Open-Source-Sache sprechen kann.
yan0sh: Ich habe ein bisschen den Traum, dass sich darüber Leute kennenlernen und connecten und etwas ganz unabhängig von uns entsteht. Aber das ist wirklich Zukunftsmusik. Das ist der romantische Gedanke, den man mit so einem Projekt vor sich herträgt. Grundsätzlich geht es aber erst mal darum, welche Möglichkeiten einem die Technik und die sozialen Tools gerade bieten, das Ganze ein bisschen auszureizen und zu schauen, wohin uns das führt.
MZEE.com: Habt ihr das Gefühl, dass eine solche Herangehensweise in Zukunft unser Verständnis für Musik prägen könnte und häufiger wird?
yan0sh: Es ist ja nicht so, dass wir das Rad neu erfinden oder Vorreiter:innen für irgendetwas sind. Das existiert bereits und ist auch keine kleine Bubble, wenn man sich zum Beispiel ansieht, wie Twitch und auch Musik und Twitch zusammen funktionieren. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass das in Zukunft ein wichtiges Tool für Künstler:innen wird. Das Peak-Beispiel dafür ist das Album "How I'm Feeling Now" von Charli XCX aus dem letzten Jahr. Ihre Fans konnten sechs Wochen Input über alle möglichen Kanäle schicken und ihr dann beim Schaffensprozess zugucken. Daran kann man sehr gut erkennen, wie kreative Prozesse durch Inspirationen von außen durch eine Gruppe passieren können. Grundsätzlich fängt man Inspirationen immer durch seine Umwelt ein. Also warum nicht die Leute miteinbeziehen, die die eigene Umwelt bilden?
venquist: Es gibt diese Netflix-Serie: "Song Exploder". An sich finde ich es super spannend, einen Einblick in Schaffensprozesse von Künstler:innen zu kriegen. Aber ich habe immer das Gefühl, dass so getan wird, als wären das alles Genies, die von der Muse geküsst wurden. Man sitzt zusammen in diesem Raum, dann packt einen der spirituelle Geist und nur so kann man Musik schreiben. Ich fände es schöner, wenn man allen Leuten ein bisschen an die Hand geben könnte, selbst kreativ zu werden. Wenn man so einen Austausch auf einer Plattform wie Discord schafft, würde ich das schon als zukunftsträchtig ansehen. Man muss nur gucken, wie die Musik dann letztendlich veröffentlicht wird.
MZEE.com: Da stellt sich natürlich die Frage, ab welchem Punkt Credits ein Thema werden: Wem gibt man welche und wem nicht? Ab wie viel Input ist es gerechtfertigt, dass ein Fan, der an einem Projekt beteiligt war, Credits bekommt?
yan0sh: Man möchte natürlich nie an einen Punkt geraten, an dem man die kreative Energie seiner Fans aussaugt und das für sich vereinnahmt. Das wäre das Schlimmste, das passieren könnte. Man sollte auf Augenhöhe agieren und den Leuten, die sich daran beteiligen, auch die Möglichkeit geben, Teil der Veröffentlichung zu sein. Alle reden immer von Demokratisierungsprozessen: "Man muss sich ja nur bei einem Vertrieb anmelden und dann kann man seine Musik bei Spotify hochladen." Das hört sich so schön einfach an. Du brauchst aber schon eine gewisse Lobby. Und wenn man das gemeinsam für mehr Leute realisieren kann, wäre das eine ganz tolle Sache.
MZEE.com: Findet ihr, dass in der deutschen Rapszene die Möglichkeiten der Digitalisierung innovativ ausgeschöpft werden?
yan0sh: Das ist schwer zu beantworten, weil die deutsche Rapszene so kleinteilig ist und in vielen verschiedenen Bubbles stattfindet. Ich glaube, es gibt einige, die das wirklich gut machen. Das Musterbeispiel dafür ist Ahzumjot, der unter anderem viele Twitch-Livestreams macht, bei denen er zusammen mit jungen Produzent:innen Beats baut. Er nutzt das schon wahnsinnig am Zahn der Zeit. Grundsätzlich kann das aber auf jeden Fall noch mehr werden in der Szene. Mir kommt häufig die Partizipation zu kurz. Man hat das Gefühl, dass man alles von allen sieht, aber die Leute sich kaum beteiligen können. Das könnte man vielleicht in die andere Richtung bringen, um einen Pool von Einflüssen zu kreieren.
MZEE.com: Wenn man das mal auf die Musik an sich bezieht: Wer macht gerade innovativen Sound?
yan0sh: Ich persönlich finde es schwierig, von "innovativer Musik" zu sprechen, weil ich glaube, dass es die Parameter schon fast nicht mehr hergeben, wirklich innovative Musik zu machen. Ein guter Song muss für mich auch nicht innovativ sein. Aber wenn man mich fragt, was ich zurzeit aufregend und spannend finde: Das The Armed-Album war krass. Das ist auf das Genre bezogen sogar innovativ, weil da Fusionsarbeit betrieben wird. The Armed ist ein Hardcore Punk-Kollektiv aus Kalifornien, das um einen Produzenten herum geschart ist. Es ist nicht ganz klar, wer dazugehört und wer nicht. Für ihr aktuelles Album haben sie Hardcore Punk und sehr viel Hyperpop mit digitalem Chaos vermengt. Diese ganze Hyperpop-Bubble ist vielleicht ein Stück Musikkultur, das im Moment schon neue Stränge aufmacht. Nicht mal zwangsläufig dadurch, dass die Musik originell ist, sondern dadurch, dass sie so viel zusammenfügt, das ursprünglich nicht zusammengehört hat. Das ist die maximale Collage, wenn man so will.
venquist: Mir fällt noch das Playboi Carti-Album ein … Das fand ich aufregend und spannend. Allein, wie er bei seiner Liveshow eine Cyberspace-Welt kreiert hat. Er selbst war mit Leuten da, die alle Goth-Industrial-mäßig aussahen und ihn in Blöcken begleitet haben. Und dann kommt seine Trap-Musik dazu. Die Musik ist nicht neu und innovativ, aber der Kosmos, in dem sie stattfindet, ist spannend zu beobachten. Ich glaube, that's the way to go.
yan0sh: Ästhetik ist ein wichtiges Sprachrohr geworden. Es wird immer wichtiger, dadurch eine Verortung zu schaffen und Musik multimedialer zu denken anstatt nur in Songs.
MZEE.com: Es ergeben sich auch immer wieder neue Vermarktungsmöglichkeiten für Musik. Fynn Kliemann hat vor ein paar Wochen 100 Jingles als einzelne Kunstwerke in Form von NFTs versteigert. Könnte so etwas stellenweise Streaming ablösen und was würde das für die Kunst bedeuten?
venquist: Das könnte sicherlich eine Möglichkeit sein. Das ist eine riesige Chance, man muss es nur umweltbewusst gestalten. NFTs sind unfassbar ressourcenverbrauchend. Deswegen fand ich es ein bisschen widersprüchlich, dass Fynn Kliemann der Erste war, der diesen Hype mitgegangen ist. Sonst produziert er ja immer nur das, was auch verbraucht wird, wie mit seinen Alben zum Beispiel. Aber an sich könnte das eine Option sein.
yan0sh: Es stellt sich aber auch da die Frage, wie man Menschen dazu bewegt, für einzelne Tonträger Geld auszugeben. Ich weiß nicht, ob das Spotify verdrängt, nur weil es eine fairere Methode ist, Leute zu bezahlen. Es könnte nur funktionieren, wenn sich ganz viele Labels und Künstler:innen darauf einigen, nicht mehr im Streaming stattzufinden und diesen Rückschritt der Verfügbarkeit zu gehen. Dadurch fände eine arge Einschränkung im Verhalten der Konsument:innen statt. Daher weiß ich nicht, ob sich das durchsetzen würde, selbst wenn es markttauglich umgesetzt wird. Aber es kann immer smarte Leute geben, die die Möglichkeiten, die hinter dieser Technologie stecken, so gut vermarktbar machen, dass es sowohl auf Seite der Produzent:innen als auch auf der der Nutzer:innen einen Annäherungsversuch gibt.
MZEE.com: Die Frage ist auch, wie limitiert Musik sein sollte. Eigentlich finde ich es eine schöne Errungenschaft unserer Zeit, dass Musik für den Großteil der Menschen zugänglich ist. Man kann sich verschiedenste Songs anhören und kreativen Input holen, selbst wenn man nicht so viel Geld hat. Es sollte aber selbstverständlich auch für Kunstschaffende rentabel sein.
venquist: Die individuelle Kreativität fördert das auf jeden Fall. Es müsste eine Lösung geben, mit der Musik für alle verfügbar bleibt, aber die Leute, die sie veröffentlichen, passend bezahlt werden. Und das kann eigentlich nur funktionieren, wenn Label und Medium – in dem Fall Spotify – eine vernünftige Lösung finden. Aber danach sieht es aktuell nicht aus, denn Spotify macht weiterhin Minus und die Labels sind wahrscheinlich nicht bereit, ihre Vorreiterrolle so schnell abzugeben. Die wollen schließlich Gewinn machen.
MZEE.com: Ich möchte gerne noch über euer Logo sprechen. Das ist ein Auge – angelehnt an George Orwells "1984", in dem es um eine Dystopie der völligen Überwachung der Menschen durch den Staat geht. Das Auge steht für den "Big Brother", der alles sehen kann. Wenn man das auf die Realität und auch eure Musik überträgt, ist dann nicht vielmehr die digitale Gesellschaft der potenzielle "Big Brother"?
yan0sh: In einem unserer Texte haben wir das Panoptikum – dieses runde Gefängnis, bei dem einer alles überwachen kann – ganz bewusst zum Vergleich verwendet. Das Interessante daran ist, dass mittlerweile jede:r gleichzeitig eine:r der Wärter:innen und eine:r der Insass:innen ist. Dadurch entsteht eine ganz seltsame Dynamik. Das führt, glaube ich, dazu, dass sich die Art von Pose, wie man sie aus Pop kennt, und Aufrichtigkeit, wie man sie vielleicht aus Nicht-Pop kennt, zu einem Konstrukt vermengt haben. Das, was man von sich selbst im Internet darstellt, wird dadurch Teil der Persönlichkeit. Je nach Person entstehen aus Personen Kunstfiguren und aus den Kunstfiguren wieder Rückbezüge auf die Personen. Das formt Gesellschaft auf eine sehr interessante Art und Weise, von der ich noch nicht weiß, wie ich das langfristig finden soll.
venquist: Ich habe letztens das Buch "Digitaler Kapitalismus" von Philipp Stab gelesen, in dem genau das angesprochen wird. Es gibt viele Menschen, die in den sozialen Medien George Orwell zitieren … Leider meistens komplett falsch. "Man darf nichts mehr sagen", "Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt", "Wir sind bald bei 1984", "Ihr habt doch alle George Orwell gelesen" – die haben aber alle Infos und Daten frei zugänglich in ihren Profilen. Ich habe nicht das Gefühl, dass viel Bewusstsein dafür da ist, wie mächtig die Konzerne sind, die unsere Daten sammeln und wie sehr man sich selbst ausliefert.
yan0sh: Wir spielen das Spiel ja auch mit. Wir sind alle sehr begeistert von Pop als subversives Mittel, aber das ist in der Art und Weise eigentlich nicht mehr möglich – vor allem innerhalb der Popkultur. Natürlich stehen wir erst am Anfang und kratzen häufig sehr plakativ an der Oberfläche. Da muss man überlegen, wie man diesen Geist, durch den wir die in unserer Gruppe geteilte Liebe für Popkultur gefunden haben, noch ins Jetzt übersetzen und aktuelle Ereignisse künstlerisch und trotzdem popkompatibel umsetzen kann.
MZEE.com: Wie wichtig ist es euch denn, eine politische Message mit euren Hörer:innen zu teilen?
venquist: Also, wir sind schon alle sehr politisch … Da gibt es immer die Diskussion, ob man das in die Musik mitnimmt. Unsere Songs sollen nicht dezidiert politisch sein, wir als Personen aber umso mehr. Das muss für uns nicht in erster Linie in den Songs stattfinden, weil wir auch Sorge haben, dass Leute dadurch abgeschreckt oder gelangweilt sind. Das kann man doof finden, aber so funktioniert es vielleicht in der Unterhaltungsindustrie. Wir wollen mit dem DAS NEU-Account auf Dinge aufmerksam machen, weil uns das schon ein sehr großes Anliegen ist. Man kann von Pop halten, was man will. Letztendlich ist es aber immer noch ein sehr massentaugliches Phänomen. Die Unterhaltungsindustrie ist ein riesiges Ventil, um Menschen zu erreichen. Das darf man nicht außer Acht lassen und birgt natürlich auch Verantwortung. Wichtig ist, dass man als Person benennen kann, was einen stört. Um ein Beispiel zu nennen: Die Gruppe Provinz hat kürzlich den Song "Hymne gegen euch" rausgebracht. Ich fand das so schade, denn es wurde groß aufgezogen: "Provinz wird jetzt politisch." Und dann ist das ein nichtssagender Track. Gegen wen richtet sich der denn? Darauf erwarte ich eine Antwort. Wenn die Songzeilen das nicht hergeben, hoffe ich, dass er es wenigstens im Interview schafft, zu sagen, was ihn stört. Und dann kommt nur so eine Wischiwaschi-Antwort: "Das sind all die, die auf uns rumtreten." Das könnte ein:e AfD-Politiker:in genauso sagen. (lachen) Ich liebe zum Beispiel, wie Disarstar das macht. Dafür musst du aber, glaube ich, auch die Person als Rapper:in sein und das könnten wir als Gruppe gar nicht verwirklichen.
yan0sh: Das scheitert schon daran, dass unser Sänger und Texter noch in keinem Interview oder vor der Kamera aufgetreten ist. Alleine dadurch fehlt vielleicht die Identifikationsperson, das Sprachrohr. Aber es ist ja auch eine sehr bewusste Entscheidung, das immer wieder zu zerstreuen.
venquist: Grundsätzlich kann man sagen: Es ist unfassbar wichtig, politisch zu sein. Wahrscheinlich wichtiger denn je, zumindest zu meiner Lebzeit. Ob das wirklich in der Musik stattfinden soll …
yan0sh: … ist eine individuelle Entscheidung. Nura zum Beispiel schafft es gut, sehr unmittelbar wiederzugeben, wo die Probleme sitzen. Genau, wie es Disarstar macht. Zusätzlich haben sie eine wahnsinnige Reichweite. Solche Songs tragen zur Politisierung von jungen Leuten bei. Selbst, wenn sie nicht mit dem übereinstimmen, was da gesungen oder gerappt wird, kann das trotzdem ein Einstieg in ein Thema sein.
MZEE.com: Kollektive Gedankengänge und Identitäten ganzer Gruppen sind gerade großer Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Das Individuum spielt dabei eine kleinere Rolle. Wo könnten dabei die Schwächen liegen und was könnte sich daraus – positiv wie negativ – entwickeln?
venquist: Bei Kollektivbewegungen wird gerne als negativer Aspekt genannt, dass das Individuum wegfällt. Aber man sieht in der Historie, dass nur Massenbewegungen es geschafft haben, wirklich etwas zu erreichen. Zum Beispiel, wenn es um das Frauenwahlrecht oder die Rechte von Arbeiter:innen ging. Ich bin der Auffassung, dass das individuelle Bestreben hin zu einem besseren Leben nur im Kollektiv verwirklicht werden kann. So etwas wie Identitätspolitik sehe ich zum Beispiel nicht als schädlich an, auch wenn immer so getan wird, als wäre das ein Teil der Cancel Culture. Wenn man auf individuelle Schicksale und geschichtliche individuelle Identitäten schaut, lässt sich das sehr gut mit einem emanzipatorischen Gedanken zusammenbringen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es schwierig ist, so etwas zu vermitteln, gerade wenn es um digitale Prozesse geht.
MZEE.com: Auf der anderen Seite gibt es die große undefinierbare Masse der Querdenker:innen. Auch da geht es nicht mehr wirklich um Individuen, sondern eine Gruppe von Menschen, die als rechts wahrgenommen wird.
venquist: Ich habe mir letztens eine SPIEGEL TV-Reportage zu der Demo in Kassel angeschaut und war wirklich baff, was sich da für Allianzen bilden. Da waren die Rechtsextremen und plötzlich war da die Gruppe "Transgender for Freedom" – und die laufen wirklich Seite an Seite. Es ist für mich unvorstellbar, dass das geht. Durch die pandemische Lage und dieses Querdenker:innentum kommen die auf einmal zusammen. Vielleicht muss man dann erst recht schauen, wie die identitätspolitische Herkunft ist, um deutlich zu machen, dass es Unsinn ist, dass die zusammen rumlaufen.
yan0sh: Firmen wie Demeter zum Beispiel haben auch irgendwas von Bhakdi und diesen ganzen Schwurbler:innen auf ihrer Homepage publiziert – das ist so krass. Einigen Menschen, die eigentlich das Richtige denken wollen, wird es auch schwer gemacht, das alles auseinanderzudröseln. Ich kann verstehen, dass die dann vielleicht irgendwann anfangen, mitgerissen zu werden und Blödsinn zu glauben. Das ist brandgefährlich. Auch die Geschichte mit dem Docks und Große Freiheit 36 sind für mich nur ein weiteres Beispiel dafür, dass sich durch diese Sonderlage, in der wir uns befinden, unfassbar krasse Konfrontationen auftun, mit denen man sonst nie gerechnet hätte.
MZEE.com: Um einen Satz aus "1984" zu zitieren: "Kein Gefühl war mehr rein, denn alles war mit Angst und Hass vermischt." – Ist das etwas, auf das wir zusteuern?
yan0sh: Angst kann man als Begriff sehr weit greifen. Das, was über Jahrzehnte im letzten Jahrhundert als Dystopie stilisiert wurde, hat sich in veränderter Form nach und nach verwirklicht. Es hat sich herausgestellt, dass Systeme korrumpiert werden können. Deswegen kann ich mir schon vorstellen, dass ein gewisses Angstgefühl oder ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber einer nicht greifbaren Zukunft bei vielen Menschen vorhanden ist. Auch dadurch, dass wir mittlerweile an einem Punkt sind, an dem ein großer Teil unseres sozialen Lebens – gerade im vergangenen Jahr – digital abläuft. Das ist am Ende eine neue Form von Realität. Dementsprechend sehe ich da schon Angst. Hass ist aber ein Begriff, der, glaube ich, nur punktuell passt. Die beiden funktionieren für mich nicht nebeneinander, weil das eine das andere vielleicht auch bedingt.
venquist: Bei Hass wäre ich auch ein bisschen vorsichtig. Unsicherheiten und Ungewissheiten sind schon vor Corona immer größer geworden, was auch viel mit der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich zu tun hat. Und dann kommt halt eine Pandemie, die diese Prozesse noch potenziert. Da kann ich es auf eine gewisse Art und Weise nachvollziehen, wenn den Menschen die Vernunft abhandenkommt, man sich alleine gelassen fühlt und durchdreht. Trotzdem darf das nie ein Grund dafür sein, mit Menschen auf die Straße zu gehen, die rechtsextrem sind und wirklich wollen, dass hier die Demokratie abgeschafft wird – und dabei irgendetwas von einer derzeitigen Diktatur schwafeln.
MZEE.com: Lasst uns zu guter Letzt noch ein bisschen positiver werden: In Orwells Roman ist Liebe die treibende Kraft des Widerstands. Auch in eurer Musik spielt sie eine zentrale Rolle. Ist so richtig zu lieben in der heutigen Gesellschaft ein Akt der Ablehnung eines bestehenden Zustands?
yan0sh: Wir hatten in den letzten Wochen intensive Gespräche über Erich Fromms "Die Kunst des Liebens". Er hat versucht, zu ergründen, wie Zwischenmenschlichkeit authentisch möglich ist. Auch, wie man sich selbst auf eine authentische und möglichst ungefilterte Art und Weise lieben kann.
venquist: Der Grundgedanke ist, dass der Mensch generell abgetrennt ist, weil die Gesellschaft das hergibt. Deswegen will man dazugehören, gesehen werden und sich vervollständigen. Und Liebe ist ein Akt, der dazu führt, dass man nicht mehr abgetrennt ist. Je weniger Liebe stattfindet und je kälter die Gesellschaft wird, desto mehr sind die Menschen voneinander abgetrennt und desto weniger besteht die Chance, dass sie solidarisch handeln. Das lässt sich aktuell sehr gut beobachten. Während am Anfang der Pandemie alle bereit waren, Hilfe zu leisten, Abstand zu halten und Mundschutz zu tragen, habe ich jetzt das Gefühl, dass wir ein bisschen verkommen sind. Da stehen die Leute im Supermarkt plötzlich wieder eng hinter mir und schnaufen mir in den Nacken.
yan0sh: Mein Gedanke dazu ist, dass wir untereinander immer mehr eine gewisse Distanz aufbauen. Es kann sein, dass ich einfach an die falschen Leute gerate, aber so richtig aufrichtige Zwischenmenschlichkeit kann sehr anstrengend und fordernd sein. Liebe ist immer fordernd, auf allen Ebenen und in alle Richtungen.
venquist: Wir sind auf allen Ebenen im Leben mittlerweile so rational geworden … Dieser Optimierungswahn, der den Menschen umtreibt. Man neigt nicht mehr dazu, Sachen just for fun zu machen. Alles will perfekt abgewogen sein. Und das haben wir mit der Liebe auch gemacht. Spätestens ab dem Moment, an dem man Menschen wie eine Ware durch Dating-Apps konsumiert hat. Damit möchte ich Dating-Apps nicht per se schlechtreden. Bei vielen meiner Freund:innen hat es zu unfassbarem Glück geführt. Aber die Tatsache, dass da Liebe wie eine Ware gehandhabt wird, zeigt ja nur, dass wir uns eigentlich von dem Gefühl des aufrichtigen Füreinander-da-Seins entfernt haben, statt uns unseren ehrlichen Gefühlen hinzugeben.
yan0sh: Gleichzeitig finde ich digitale Liebe aber auch wahnsinnig toll, weil man nicht lokal limitiert auf die Leute ist, die man bei sich in der Stadt trifft.
venquist: Das stimmt. Als ich mich damals in dem Dörfchen, in dem ich groß geworden bin, einsam gefühlt habe, habe ich mich auch durch Foren geklickt. Es muss ja noch nicht mal die eine Person sein, die man liebt, sondern einfach Gleichgesinnte. Obwohl man dachte, man ist in seinem Mikrokosmos der:die Einzige, der:die Bloc Party hört oder so. (lacht)
yan0sh: Ich glaube, es ist sehr schwer, auf den Punkt zu bringen und eine sehr weitreichende und sich durch alles ziehende Entwicklung, die da stattfindet. Ich finde es einfach schön, das die nächsten Dekaden mitzuerleben.
venquist: Ich habe Hoffnung, dass die Menschheit das hinkriegt.
yan0sh: Wir werden gerade sehr, sehr, sehr pathetisch. (lacht)
MZEE.com: Ich habe das Gefühl, dass viele um mich herum gerade das Bedürfnis nach etwas Echtem haben – echten Emotionen, echtem Kennenlernen und echter Liebe. Auch wenn das vielleicht kitschig klingen mag. Nehmt ihr das ähnlich wahr?
venquist: Da bin ich voll bei dir. Man vermisst es einfach, unter Leute zu gehen und dort vielleicht jemanden zu treffen, den man noch nicht kannte. Man ist ja momentan gezwungen, in seinem innersten Circle zu bleiben. Diese Club-Abende, an denen man nicht weiß, was einen erwartet und plötzlich trifft man eine Person, die einen begeistert … Das fehlt mir persönlich schon sehr. Es muss ja gar nicht die große Liebe sein, sondern einfach neue Menschen. Menschen, bei denen man denkt: "Wow, die geben mir grad richtig was." Das fehlt mir mit am meisten.
yan0sh: Es ist vielleicht ein bisschen despektierlich, wenn man das so sagt, aber dadurch, dass man jetzt ein Jahr intensivsten Kontakt mit denselben Leuten hatte, ist man auch satt von gewissen Zuständen und Menschen. Deswegen kann ich mir schon vorstellen, dass eine neue Aufrichtigkeit und eine intime Nähe eine Rolle spielen. Und dass das auch an ein neues Entdecken gekoppelt ist. Das hängt mit Sicherheit auch mit dem aktuellen Zustand zusammen.
(Yasmina Rossmeisl)
(Fotos von Pierre Laporté)