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Interview

Henning May – ein Gespräch über 2020

"Ich habe das Gefühl, dass alle den­ken, es sei­en 'nur ein paar Nazis'." – Hen­ning May im Inter­view über die Gefahr durch "Quer­den­ker", das huma­ni­tä­re Ver­sa­gen der Poli­tik in Bezug auf die Situa­ti­on im Geflüch­te­ten­la­ger Moria und Hass in der Gesellschaft.

Wie zu erwar­ten war, hat uns deut­scher Rap 2020 so eini­ge Corona-​Lines und -Songs beschert. So kon­se­quent wie die Indie-​Band Annen­May­Kan­te­reit war aller­dings kein Ver­tre­ter unse­res gelieb­ten Gen­res: Die Jungs aus Köln haben mit "12" das ers­te Release ver­öf­fent­licht, das sich voll­stän­dig der Situa­ti­on wid­met, in der wir uns alle befin­den – ein Corona-​Album. Genau wie das Jahr 2020 kommt "12" in einem ande­ren Gewand als sei­ne Vor­gän­ger. Der Sound ist düs­ter, skiz­zen­haft und zurück­hal­tend, die Tex­te nach­denk­lich, intim und sowohl in die Ver­gan­gen­heit als auch in die Gegen­wart und Zukunft blickend.

Sän­ger Hen­ning May kam in den letz­ten Jah­ren schon häu­fig in Kon­takt mit der deut­schen Rap­sze­ne – als Fea­ture­gast von Juju für den Hit "Ver­mis­sen", als rau­bei­ni­ge Refrain-​Stimme für K.I.Zs "Hur­ra die Welt geht unter" oder auch als Dölls Kon­tra­hent im Twitch-​Stream von Yas­sin. Grund genug für uns, uns mit ihm zum Inter­view zu tref­fen. Wir spra­chen mit Hen­ning über sei­nen per­sön­li­chen Umgang mit der Corona-​Krise, die feh­len­de Unter­stüt­zung für die Kul­tur­sze­ne und den mög­li­chen Nut­zen einer Künstler-​Gewerkschaft. Außer­dem rede­ten wir über das huma­ni­tä­re Ver­sa­gen der Poli­tik in Bezug auf die Situa­ti­on im Geflüch­te­ten­la­ger Moria sowie die Gefahr durch "Quer­den­ker" und Hass in der Gesellschaft.

MZEE​.com: Du hast im "Dan­ke, gut"-Podcast bei Miri­am Davoud­van­di gesagt, dass du nor­ma­ler­wei­se ver­suchst, viel Zeit allein zu ver­brin­gen, um men­tal gesund zu blei­ben. War der ers­te Lock­down dadurch eine klei­ne­re Belas­tung für dich als für andere?

Hen­ning May: Natür­lich schlägt mir das aufs Gemüt und es hat mich ver­rückt gemacht, so viel allei­ne zu sein. Ich war vor­her zehn Jah­re im Hams­ter­rad und hat­te zum ers­ten Mal ein paar Wochen, in denen ich nicht gear­bei­tet habe. Daher gab es schon eini­ge Momen­te, die ich sehr genos­sen habe. Es war abso­lut ambi­va­lent. Mich hat es rich­tig trau­rig gemacht, bestimm­te Men­schen nicht besu­chen zu kön­nen. Das war sehr hart für mich. Wenn man von Coro­na absieht, wür­de ich mich als einen Men­schen ein­schät­zen, der Zeit allei­ne in über­durch­schnitt­li­cher Wei­se genießt. Das liegt dar­an, dass mein Arbeits­all­tag mit Men­schen gefüllt ist. Ich bin nie allei­ne. Auf Tour gehe ich nicht allei­ne duschen oder auf Toi­let­te. In der Par­zel­le neben mir ist ja jemand. Wenn ich schla­fen gehe, schläft jemand unter mir.

MZEE​.com: Das neue Album klingt so, als hät­test du in die­ser Zeit viel über die ver­gan­ge­nen Jah­re nach­ge­dacht und reflektiert. 

Hen­ning May: Ja, vor­her war wenig Zeit dafür. Wenn man vie­le kras­se Sachen über einen gewis­sen Zeit­raum erlebt, muss man sich ent­schei­den, ob man die­se Din­ge ver­ar­bei­tet oder wei­ter­macht. Bei­des geht nicht. Ich habe mich immer fürs Wei­ter­ma­chen ent­schie­den. Der Song "Ver­gan­gen­heit" war die ers­te Gele­gen­heit, mich in Lied­form zu fra­gen, wie sich der Traum, den wir hat­ten, jetzt anfühlt. Das hat­te ich mir frü­her ganz naiv vor­ge­stellt: Ich woll­te Musik machen, davon leben kön­nen und die Welt sehen. Dafür woll­te ich alles tun und habe gemacht, gemacht und gemacht. Wenn sich der Traum dann erfüllt, fühlt es sich ganz anders an, als man es sich vor­ge­stellt hat. Es ist viel anstren­gen­der und weni­ger kom­for­ta­bel. Du hast mehr Druck, als du dir vor­stellst. Und es gibt viel mehr Dro­hun­gen und Men­schen, die einen has­sen, als man glaubt.

MZEE​.com: Kam bei dir der Gedan­ke auf, dass du dar­auf gar kei­ne Lust mehr hast?

Hen­ning May: Nee, den Gedan­ken hat­te ich nie. Ich muss dazu sagen: Wer ein­mal auf einem wirk­lich gro­ßen Fes­ti­val war – egal, ob auf oder vor der Büh­ne – will wie­der dort­hin. Ein gutes Bei­spiel ist viel­leicht das Hur­ri­ca­ne. Ich hab' mir das gan­ze K.I.Z-Konzert dort ange­schaut, bis ich für "Hur­ra die Welt geht unter" auf die Büh­ne gegan­gen bin. Sowas möch­te ich schon gern wie­der erle­ben. Ich hab' rich­tig Bock auf die gro­ßen Büh­nen. Man braucht bei­des, auch mal einen Club-​Act oder ein Picknick-​Konzert. Aber die emo­tio­na­len Explo­sio­nen auf Fes­ti­vals, wenn die Künst­le­rin, die wir alle fei­ern, das ers­te Lied spielt, möch­te ich wie­der genau­so erle­ben. Ich den­ke, dass man­che Pandemie-​Maßnahmen der Bun­des­re­gie­rung nicht lang­fris­tig genug gedacht sind. Das ist eher eine Salami-​Taktik. Es wäre schon cool, wenn wir nicht erst in zehn Jah­ren wie­der Groß­ver­an­stal­tun­gen durch­füh­ren könn­ten, son­dern viel­leicht in drei oder vier Jahren.

MZEE​.com: Die Gesund­heit steht dabei natür­lich an ers­ter Stel­le. Wie könn­ten sol­che Ver­an­stal­tun­gen denn dei­ner Mei­nung nach rea­li­siert werden?

Hen­ning May: Wir beschäf­ti­gen uns wie blö­de mit Hygie­ne­kon­zep­ten. Es soll­te bestuhlt sein, damit die Abstän­de gewahrt wer­den kön­nen. Man könn­te zum Bei­spiel im nächs­ten Som­mer – wenn der so wird wie der ver­gan­ge­ne – 4 500 Men­schen in die Wuhl­hei­de packen, in die sonst 18 000 pas­sen. Die könn­ten, weil es an der frei­en Luft ist, das gan­ze Kon­zert ohne Mas­ken sehen. Es wür­de gere­gel­te Einlass- und Aus­lass­zei­ten geben, man könn­te nicht ein­fach kom­men und gehen. Immer wenn man sich vom Platz ent­fernt, müss­te man natür­lich eine Mas­ke tra­gen. Geträn­ke müss­ten zum Platz gebracht wer­den. So eine Ver­an­stal­tung wäre unter den pas­sen­den Umstän­den mög­lich. Man muss aber dazu sagen, dass Superspreader-​Events das essen­zi­el­le Ele­ment in der Ein­däm­mung des Infek­ti­ons­ge­sche­hens sind. Des­halb steht selbst mit einem guten Hygie­ne­kon­zept jede Band vor der Fra­ge, ob sie ein Kon­zert geben will, auf dem sich poten­zi­ell 45 Men­schen infi­zie­ren könn­ten. Denn wenn jemand das Hygie­ne­kon­zept bricht, bringt das alles nichts. Ich will nicht vor 4 500 Men­schen ein Kon­zert spie­len und am nächs­ten Tag erfah­ren, dass sich 1 000 davon infi­ziert haben, weil vier Leu­te sich nicht an die Regeln gehal­ten haben. Da geht es um Erfah­rungs­wer­te, die sehr schwer zu erlan­gen sind: Wie vie­le Regel­bre­cher kön­nen das gesam­te Kon­zept stür­zen? Die­ses Tim Bendzko-​Indoor-​Konzert bringt für die Bran­che, in der ich mich bewe­ge, nicht vie­le Erkennt­nis­se. Das ist eher die Kate­go­rie: Die Ehr­lich Brot­hers wür­den gern wie­der in der LANXESS Are­na spie­len. Mir geht es dar­um, dass die wil­des­ten und schöns­ten Büh­nen die­ses Lan­des, die nichts mit dem Staat zu tun haben und an denen kein Rie­sen­in­ves­tor hängt, wie­der bespielt wer­den können.

MZEE​.com: Du hast dem STERN gegen­über schon im März gesagt, dass Coro­na für vie­le Künst­ler exis­tenz­be­dro­hend wer­den könn­te. Vie­le dei­ner Kol­le­gen haben zuletzt unter dem Hash­tag #Alarm­st­ufeRot Kon­zep­te von der Poli­tik gefor­dert. Wel­che Unter­stüt­zung wünschst du dir für die Künstlerszene?

Hen­ning May: Ich hät­te mir vor allen Din­gen pass­ge­naue Maß­nah­men gewünscht. Wenn mein Licht­tech­ni­ker 8.000 Euro für eine Gewer­be­mie­te bekommt, hilft das nicht. Der hat kei­ne Gewer­be­kos­ten oder ein Gebäu­de gemie­tet. Das ist ein Licht­tech­ni­ker, dem gehört ein Pult und der geht auf Tour. Man hät­te ihm die 8.000 Euro zur frei­en Ver­wen­dung geben und sagen kön­nen, dass er damit ein Jahr klar­kom­men und sich nicht beschwe­ren soll. So sind wir ja auch: Wir sind es nicht gewöhnt, irgend­was zu krie­gen, des­halb sind wir sehr dank­bar und hal­ten den Ball flach. Es ist aber so gelau­fen, dass staat­li­che Kul­tur in einem gewis­sen Rah­men geschützt wur­de – eben­falls nicht genug – und pri­va­te Sub­kul­tur ein­fach lie­gen gelas­sen wur­de. Man hät­te mit reprä­sen­ta­ti­ven Inter­es­sens­ver­tre­tern unse­rer Bran­che reden und Kon­zep­te erar­bei­ten müs­sen. Statt­des­sen hat man mit denen gere­det, die am meis­ten Geld haben und über­legt, was für die am bes­ten wäre. Die rie­si­gen Unter­neh­men muss­ten geret­tet wer­den. In unse­rer Bran­che sind nun mal die meis­ten Frei­be­ruf­ler und selbst­stän­dig. Auch wir als Annen­May­Kan­te­reit beschäf­ti­gen nicht vie­le Men­schen sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig. Wir zah­len guten Lohn an Selbst­stän­di­ge. Natür­lich bin ich ein pri­vi­le­gier­ter Mensch und es ist immer etwas komisch, wenn ich mich so auf­re­ge. Ich mache es aber trotz­dem, weil es so vie­le Men­schen betrifft, die ich lie­be. Ich hat­te ein­fach Glück, dass ich 1992 gebo­ren wur­de und nicht 1996. Vor vier Jah­ren hät­te uns Coro­na als Band ganz anders getroffen.

MZEE​.com: Denkst du, wie eini­ge dei­ner Kol­le­gen, dass es eine Gewerk­schaft für Künst­ler braucht?

Hen­ning May: Wir sind nicht orga­ni­siert oder con­nec­tet und haben nie gelernt, unse­re Inter­es­sen zu ver­tre­ten. Ich spre­che mich auch selbst schul­dig, weil ich die­ses Kon­kur­renz­ge­fühl habe. Zum Bei­spiel bewun­de­re ich Samy Delu­xe, weil er krass tex­tet. Man wächst dar­an, dass man jemand ande­res bes­ser fin­det als sich selbst. Samy ist ein super Typ, trotz­dem sieht man sich in einem Kon­kur­renz­ver­hält­nis. Wir müs­sen es schaf­fen, dass sich das ändert. Wir dür­fen uns nicht alle als Kon­kur­ren­ten sehen, wenn es ein Fes­ti­val gibt, das 100.000 Euro zu ver­tei­len hat. Eigent­lich sit­zen wir im glei­chen Boot. Egal, ob du Künst­ler oder Ton­tech­ni­ker bist – du willst, dass das Infek­ti­ons­ge­sche­hen ein­ge­dämmt wird und die­se Ver­an­stal­tun­gen zurück­kom­men. Du willst aber auch, dass alle Leu­te aus der Bran­che wie­der in eine gerech­te und gute Situa­ti­on kom­men. Es gibt kei­ne Ein­zel­lö­sung. Des­halb müs­sen wir ler­nen, ver­bun­den zu sein und uns kon­struk­tiv zu kri­ti­sie­ren. Ich ver­su­che auch, aus Feh­lern zu ler­nen und Din­ge zu ver­ste­hen, die mir vor kur­zer Zeit noch nicht bewusst waren. Der Ver­band der Musik­in­dus­trie ist gut orga­ni­siert und hat viel zu sagen. Den Ver­band der Musiker*innen gibt es gar nicht. (lacht) Wir kön­nen nicht strei­ken und einen Monat lang unse­re Musik von allen Platt­for­men neh­men. Den musi­ka­li­schen Mit­tel­fin­ger kön­nen wir gar nicht zei­gen, weil es immer einen Streik­bre­cher geben wird, der sagt: "Gut, dann hört doch lie­ber mein Album."

MZEE​.com: Ich möch­te mit dir noch über ein wei­te­res, sehr wich­ti­ges The­ma die­ses Jah­res spre­chen. Im bereits erwähn­ten STERN-​Interview im März hast du die Situa­ti­on in Moria ange­spro­chen, die sich seit­dem noch ver­schlim­mert hat. Im Song "Gegen­wart" sprichst du an, dass das The­ma teil­wei­se aus den Nach­rich­ten ver­drängt wurde. 

Hen­ning May: Es hat sich de fac­to nichts zum Guten ver­än­dert, aber das soll­te mich nicht dar­an hin­dern, zu tun, was ich tun kann. Dass ich in dem Lied ver­su­che, auf den Punkt zu brin­gen, dass sich nicht genug Men­schen dafür inter­es­sie­ren, wie wir an unse­ren Außen­gren­zen mor­den, bringt nichts. Nur weil ich dar­über sin­ge, ver­än­dert sich gar nichts. Aber es ist das, was ich tun kann. Wir haben als Band zum Spen­den auf­ge­ru­fen und vie­le net­te Men­schen haben über 100.000 Euro gespen­det. Das war eine tol­le Akti­on, die vor allem von Vol­ker Bruch initi­iert wur­de. Natür­lich kann man wie­der sagen, dass das nichts ver­än­dert. Eigent­lich soll­te die­ses Geld der Staat bezah­len, wenn bei­spiels­wei­se die Rei­chen anstän­dig besteu­ert wür­den. Aber ich den­ke, dass ich nicht auf­hö­ren darf, zu machen, was ich machen kann. Auch nicht, wenn ich mal das Gefühl habe, dass es nichts bringt. Und ich habe das Gefühl, dass die Grup­pe der Men­schen, für die die­ses The­ma prä­sent ist, wächst. Aktu­ell ist Moria wie­der weni­ger The­ma als vor zwei Mona­ten. Es ist eh scho­ckie­rend, dass etwas in unse­rer Gesell­schaft nur Auf­merk­sam­keit erhält, wenn etwas beson­ders Schlim­mes pas­siert. Es reicht nicht, dass Men­schen hun­gern und frie­ren, sie müs­sen bren­nen, damit es uns küm­mert. Ich hab' aber auch erkannt, dass ich trotz einer gewis­sen Reich­wei­te ziem­lich unwich­tig bin und kaum Mög­lich­kei­ten habe, auf poli­ti­sche Pro­zes­se ein­zu­wir­ken. Des­halb woll­te ich mehr Politiker*innen ken­nen­ler­nen, um her­aus­zu­fin­den, war­um so wenig pas­siert und wie die­se die Situa­ti­on ein­schät­zen. Man soll­te kei­ne Angst haben, sich für Poli­tik zu inter­es­sie­ren und das nach außen zu tra­gen. Das ist jetzt vorbei.

MZEE​.com: Ich habe das Gefühl, dass sich Coro­na sehr unter­schied­lich auf die Inter­es­sen und Prio­ri­tä­ten der Men­schen aus­wirkt. Die einen schau­en auf die Men­schen, die Coro­na deut­lich här­ter trifft als uns. Ande­re pro­tes­tie­ren in Ber­lin gegen eine angeb­li­che Dik­ta­tur. Denkst du, dass wir die Gefahr durch "Quer­den­ker" ernst genug nehmen?

Hen­ning May: Ich habe das Gefühl, dass alle den­ken, es sei­en "nur ein paar Nazis". Man hat sich auch schon die Mühe gemacht, uns als Band sehr gezielt zu dro­hen, mit "lie­ben Grü­ßen von der SS-​Leibstandarte Adolf Hit­ler". Die sind rich­tig am Start. Es wur­de ganz schnell her­aus­ge­fun­den, wo man­che Leu­te woh­nen, die wie­der­um bedroht wur­den. Das ist nicht zu beschrei­ben. Du musst dir das so vor­stel­len: Ich mache eine Sto­ry zu rech­ten Netz­wer­ken in der Poli­zei und bekom­me dann auch zu Recht einen drauf, weil ich Per­spek­ti­ven ver­ges­sen habe. Alles gut, da habe ich einen Feh­ler gemacht. Zwei Tage spä­ter bekommt ein Fami­li­en­mit­glied von mir einen Brief, in dem steht: "Bald pas­siert mit Hen­ning das Glei­che wie mit Wal­ter Lüb­cke, wenn er so wei­ter­macht." Das ist ein­fach krass gru­se­lig. Ich habe das Gefühl, dass vie­le Leu­te nicht ver­ste­hen, dass der Druck gera­de auf Frau­en in der Poli­tik nicht mehr nach­voll­zieh­bar ist. Es ist nicht zu begrei­fen, wie ver­rückt das gewor­den ist. Wenn man ein­mal "Nazis raus!" sagt, wird schon die Mord­dro­hung von irgend­ei­nem Nordkreuz-​Mitglied aus­ge­spro­chen. Ich habe zum ers­ten Mal ver­sucht, das in einem Text fest­zu­hal­ten, als die soge­nann­te "Flücht­lings­kri­se" begann. Da habe ich mich gezwun­gen gefühlt, zu sin­gen: "Flücht­lings­kri­se fühlt sich an wie Reichs­tags­brand, auch wenn ich das nicht ver­glei­chen kann." Eine Situa­ti­on wird miss­braucht, um eine gewis­se Mei­nung und Hass zu schü­ren. Faber hat schon vor drei Jah­ren in einem Song auf den Punkt gebracht, dass die Rech­ten rich­tig im Kom­men sind. Es wird schlimmer.

MZEE​.com: Wie müs­sen wir dem dei­ner Mei­nung nach entgegentreten?

Hen­ning May: Ich glau­be, wir müs­sen Hass kri­mi­na­li­sie­ren. Wir brau­chen eine Straf­rechts­re­form, die wir mit CDU und SPD nicht krie­gen wer­den. Bea­trix von Storch hat iro­nisch gesagt: "Wenn ein Ehe­mann ein 'Nö' über­hört, macht er sich direkt zum Ver­ge­wal­ti­ger." Das ist eine Ver­harm­lo­sung von Ver­ge­wal­ti­gung, dafür soll­te man ange­zeigt wer­den kön­nen. Man kann sagen, dass man dafür nur 50 Euro Buß­geld zah­len muss, mir egal. Aber es soll­te ein Straf­tat­be­stand wer­den, in die­ser Form zu has­sen und zu het­zen. Wir bekom­men von allen Sei­ten Dro­hun­gen, der Hass ist über­all. Ich ken­ne ihn auch von mir selbst, weil ich ein wüten­der Mensch bin. Es ist ein­fach kacke, wenn ich jeman­dem andro­he, ihm in die Fres­se zu schla­gen. Das ist nicht okay, nur weil er eine Mei­nung hat, die ich ganz schlimm fin­de. Einen Satz wie "Wenn die Revo­lu­ti­on kommt, stel­len wir dich an die Wand" möch­te ich nicht mehr lesen müs­sen, ohne etwas dage­gen tun zu kön­nen. Ob ich das bei Insta­gram mel­de, inter­es­siert die gar nicht. Ich den­ke auch, dass es sehr wert­voll wäre, kei­ne gro­ße Koali­ti­on aus CDU und SPD als Regie­rung zu haben. So wird es kei­ne Reform des Ver­fas­sungs­schut­zes oder des Poli­zei­we­sens geben. Es gibt Racial Pro­fil­ing, rech­te Mör­der wer­den gedeckt, der Innen­mi­nis­ter von Mecklenburg-​Vorpommern kauft eine Waf­fe bei einem Nazi und hält das für sei­ne Pri­vat­sphä­re. Das ist viel zu wahn­sin­nig. Jemand, der Nazis gar nicht schlimm fin­det, saß in einer Lan­des­re­gie­rung und erschwer­te Ermitt­lun­gen. Solan­ge wir das haben, bin ich jeden Tag min­des­tens eine Stun­de hart wütend.

MZEE​.com: Du sprichst zu Beginn des neu­en Albums davon, dass es "nie wie­der so wird, wie es war". Wie wird denn dei­ner Mei­nung nach die Zeit "nach Coro­na" aus­se­hen? Hast du dies­be­züg­lich Hoff­nun­gen oder Ängste?

Hen­ning May: Eine Angst ist, dass Kul­tur nur ein­mal stirbt. Wenn du eine Knei­pe, die 40 Jah­re offen hat­te, zumachst, ist sie für immer zu. Die kannst du nicht neu eröff­nen. Auch wenn sie den glei­chen Namen trägt und ähn­lich aus­sieht, ist es nicht die glei­che Knei­pe. Das wis­sen wir alle. Ich glau­be, dass wir noch sehr lan­ge mit Coro­na beschäf­tigt sein wer­den. Das ist mei­ne Per­spek­ti­ve, ich bin kein Wis­sen­schaft­ler und habe nur ver­sucht, Infor­ma­tio­nen zu sam­meln. Ich den­ke, dass wir noch in vier Jah­ren etwas mit Tests, Mas­ken und Abstän­den zu tun haben wer­den. Viel­leicht weni­ger schlimm, aber es wird irgend­wie noch da sein. Und wenn ich in vier Jah­ren immer noch nicht vor 40 000 Leu­ten auf einem Fes­ti­val spie­len kann, dann wird es sich so anfüh­len, dass es nie wie­der so sein wird, wie es war. Ich will gar nicht zu sehr für alle Men­schen spre­chen, son­dern aus mei­ner Per­spek­ti­ve. Auf das All­ge­mei­ne bezo­gen den­ke ich, dass sich alle Men­schen ver­än­dert haben wer­den. Sie wer­den ande­re Ein­stel­lun­gen und zum Teil ande­re Beru­fe haben – das fin­de ich auch gut. Ich rufe nach dem zitier­ten Satz: "Yes!" Es gab so viel Schlech­tes und Wider­li­ches, das wir los­wer­den müs­sen. Die Ver­gan­gen­heit und das rech­te Den­ken bedro­hen uns. Von daher ist es geil, eine neue Zeit zu begin­nen, um das los­zu­wer­den. Wir könn­ten aber auch vie­les zurück­las­sen, das gut ist und das fän­de ich sehr scha­de. Aber die Hoff­nung bleibt natürlich.

(Alex­an­der Hollenhorst)
(Fotos von Mar­tin Lamberty)