"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
"Deutscher Dichter der Stunde", "Brachialpoet Haftbefehl" oder "Ghetto Goethe" – maximale Verwirrung und unzählige Neologismen in den Feuilletons der großen deutschen Medienhäuser. Der Grund: Aykut Anhan, besser bekannt als Haftbefehl. Um die Jahrtausendwende noch als juristischer Problemfall eingestuft und plötzlich als Erfinder des Soziolekts "Kanakisch" neben Julia Engelmann in ZEIT, FAZ und SZ. Wie geht das?
Der Babo hat brutal rasiert, vielmehr ist es nicht. Sein viertes Studioalbum "Russisch Roulette" ist bis heute sein gewaltigstes – sein "One Day / Reckoning Text", sein "Faust", um im Jargon zu bleiben. "Russisch Roulette" ist für mich das beste und wichtigste deutschsprachige HipHop-Album aller Zeiten, meine ewige Nummer eins sowie Türöffner für eine neue Straßenrap-Generation. Logische Konsequenz: "Tipp-Ex auf Rammstein-Vertrag und gib mir einfach die Kopie." Neben gewohnt humor- und druckvollen Bangern bildet die "1999"-Songreihe, benannt nach dem Jahr, in dem sein Vater sich das Leben nahm, den inhaltlichen Rahmen des Tapes. Offenbach, neuf millimètre, Butterfly, das ständige Verlangen, sich zu benebeln, eine Marlboro auf leeren Magen und das Weltbild eines am Boden liegenden Mannes. Ständig stellt Hafti die Frage, ob und wie es – unter diesen Umständen – möglich sein soll, als guter Mensch zu sterben. Oder in Hafts Worten: "Traurige Aussicht und du gibst dein Glück auf. Der Ausblick so grau und trist, dass er dir die Sicht raubt."
"Die Platte heißt 'Russisch Roulette'. Allen, die Literatur lieben: Gebt euch die Kugel" lautet das abschließende Statement eines kritischeren ZEIT-Kolumnisten. Ich würde dagegen argumentieren: Die Platte heißt "Russisch Roulette". Allen, die Literatur lieben: "Kugel rein, roll die Trommel", denn "Russisch Roulette" ist ein potenziell tödliches Glücksspiel und nichts für schwache Nerven.
(Jonas Jansen)