Ein internationales Feature ist mittlerweile schnell eingekauft und dank der digitalen Vernetzung in nur wenigen Sekunden abgesprochen und verschickt. Diese Art der Musikproduktion und Kommunikation ist allerdings nicht unbedingt das, was man sich unter einer transnationalen Vernetzung vorstellt beziehungsweise wünscht. Hier geht es den meisten Künstler:innen um eine tiefgreifende und längerfristige Beschäftigung miteinander, selbst wenn diese ursprünglich kein klares Ziel verfolgt. Ein Künstler, der sich in den letzten Jahren immer wieder auf verschiedenen Ebenen mit Musik und Musiker:innen aus anderen Ländern beschäftigt, ist Keno. Der ehemalige Frontmann von Moop Mama reiste bereits für sein erstes Solo-Album "Paradajz Lost" unter anderem in die Türkei. Auch sein aktuelles Album "Schall und Rausch" ist inspiriert von seinen transnationalen Erfahrungen. Doch was macht diese eigentlich so besonders? Gemeinsam mit dem Rapper sprachen wir über das Reisen, Grenzerfahrungen, das Planen transnationaler Projekte und daraus resultierende Beziehungen.
MZEE.com: Der Begriff "Transnationalismus" beschreibt in der Soziologie unter anderem das Phänomen, wenn Akteur:innen aus unterschiedlichen Ländern zusammenarbeiten, aber dabei keine staatlichen Ziele verfolgen. In der Kunst wird der Begriff wiederum oft genutzt, um einen aktivistischen Raum zu schaffen. Was bedeutet der Begriff für dich?
Keno: Ich höre den immer wieder im Kontext von Kunst und finde das spannend. Die Idee, Grenzen mit Kunst und Musik zu überschreiten, gefällt mir. Ich fände es schön, wenn dieser Gedanke und der Versuch, das umzusetzen, in einer globalisierten Welt viel mehr passieren würde. Ich kann dir jetzt kein soziologisches Statement dazu geben, aber Grenzen waren schon immer etwas, was mich irritierte und zum Widerstand anregte.
MZEE.com: Kannst du dich noch daran erinnern, wann du das erste Mal mit dem Begriff in Berührung gekommen bist?
Keno: In Form des konkreten Begriffs hatte ich lange nichts damit zu tun. Ein Interesse an dem Versuch, Ländergrenzen mit Musik zu überschreiten, hat sich bei meinem ersten Soloprojekt "Paradajz Lost" ergeben. Dabei habe ich sehr viel Inspiration aus Reisen gezogen. Dieses Album basiert nur auf türkischen Samples. Das war anders gedacht, ich wollte eigentlich Sachen von der ganzen Reise sammeln. Über das Reisen kam ich dann mit dem Themenkomplex Transnationalismus in Kontakt. Ich bin damals durch Osteuropa, zwischen München und Istanbul und zwischen München und Athen, gereist. Die Erfahrungen, die ich an verschiedenen Grenzen gemacht habe, waren sehr prägend für mich. Ich habe gemerkt, dass Grenzen nicht alle gleich sind. Manche sind hart und andere eher weich. Nicht nur kulturell, sondern vor allem politisch werden Grenzen sehr hart gezogen. Daran entscheidet sich oft, wie die Menschen hinter oder vor Grenzen behandelt werden. Aber dort gab es noch keine direkte Zusammenarbeit mit Leuten aus anderen Ländern. Mein erstes Projekt, das das gemacht hat, war Faraway Friends. Das ist in Folge einer Projektreise mit Viva con Agua entstanden.
MZEE.com: Was war denn deine ursprüngliche Idee bei der Entstehung von "Paradajz Lost"?
Keno: Die Idee von mir war, eine Art Reisetagebuch in Form von Lyrics zu schreiben. Bei mir ist es aber oft so, dass das Ganze weniger spontan abläuft. Ich dachte, das geht schnell durch die vielen Inspirationen. Im Endeffekt sind meine Erfahrungen auf der Reise aber dann zu einem Themenkomplex geworden, der mich zu einer tieferen Beschäftigung damit gezwungen hat. Ich habe dann Textansätze und Samples mit nach Hause gebracht. Eigentlich habe ich mir romantisch vorgestellt, bei jeder Station Platten zu kaufen und diese zu samplen. In Wahrheit habe ich jedoch in einer Student:innen-Bar in Istanbul einen USB-Stick bekommen, auf dem sehr viel türkische Musik war. Diese Musik war größtenteils von drei Interpreten und das war dann am Ende das, was gesampelt wurde. Am Ende war es trotzdem so, dass diese Reisen und meine Gedanken, gerade in Bezug auf Grenzen, eine große Rolle auf dem Album spielten. Damals habe ich mich auch viel mit der Zerstörung der Umwelt befasst. Das ist mittlerweile über zehn Jahre her.
MZEE.com: Wie bist du denn gereist?
Keno: Einmal bin ich hingeflogen und kam über Land zurück. Das war die Reise in die Türkei. Nach Athen bin ich über Land hingereist – und an die Rückreise kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass wir dort als Moop Mama einen Gig mit dem Goethe-Institut hatten. Das hatte ich zum Anlass genommen, zwei Wochen über Land dorthin zu reisen. Es kann gut sein, dass die Rückreise aber ein Flug war.
MZEE.com: Ich frage, da sich das Überwinden von Grenzen in der Luft oder über Land oft unterschiedlich anfühlt, allein in Bezug auf Grenzkontrollen.
Keno: Auf dem Album gibt es einen Song, der sich darum dreht, wie eine Reise im Flugzeug abläuft. Das ist ein alternativer Take zu "Über den Wolken"-Metaphern (Anm. d. Red.: Kenos Track "Über den Wolken" steht konträr zu den meist positiven Auslegungen), um mal zu sehen, was wir als Menschen mit diesem Planeten machen, wie wir ihn begradigen und auffressen. Diese Perspektive war damals sehr präsent für mich. Das, was an Grenzen passiert, erlebt man anders, wenn man in einem Bus sitzt oder zu Fuß unterwegs ist. Es gibt auf dem Album auch den Song "Der See". Der ist inspiriert von der Grenze zwischen Mazedonien und Albanien. Dort gibt es den Ohridsee. Damals hat sich Mazedonien für mich angefühlt wie ein Land, das sich sehr in Richtung Westeuropa dreht und diesen Tourismus-Gedanken auslebt. Als würden sie dieses westeuropäische Mindset willkommen heißen. Hier ist eine schöne Promenade, hier gibt es was zu sehen. Ich habe dort viele komische Kommentare über die andere Seite des Sees, Albanien, gehört. Es gab auch keinen Verkehr über diese Grenze. Ich bin dann echt am See entlang über die Grenze gelaufen und Albanien war plötzlich eine komplett andere Welt. Dort war offensichtlich, dass infrastrukturell kein Geld da ist. Die Straßen waren teilweise ziemlich im Arsch. Leute nutzten das Ufer nicht als Promenade. Dort standen kaputte Häuser und Bewohner:innen hingen ihre Wäsche auf. Diese Beobachtungen kommen alle in dem Song vor. Auch Grenzen, die sehr nah an unserer scheinbar sicheren und privilegierten europäischen Wohlfühlzone liegen, haben eine Härte. Albanien hat eine krasse Isolationsgeschichte. Bei Grenzkontrollen wurden Leute mit einem albanischen Pass aus dem Bus gezogen und alle anderen nicht. Das war die Reise, auf der ich bemerkt habe, was es im Vergleich bedeutet, einen deutschen Pass zu haben. Diese Perspektive haben mir dann auch immer wieder Menschen in meinem Leben gezeigt, die keinen deutschen Pass haben. Der deutsche Pass ist wie eine Art Eintrittskarte, die es Personen superleicht macht, diese ganzen Dinge nicht zu bemerken.
MZEE.com: Mit einem deutschen Pass ist man privilegiert. Du bist dann höchstens limitiert durch Faktoren wie Zeit und Geld. Andere haben diese Bewegungsfreiheit nicht unbedingt.
Keno: Eine andere krasse Erfahrung hatte ich diesbezüglich zwischen dem Kosovo und Serbien. Ich will nichts Falsches sagen, denn es ist echt lange her und ich bin hinsichtlich der politischen Verhältnisse nicht perfekt gebildet. Aber man konnte damals nicht einfach vom Kosovo nach Serbien reisen. Ich weiß nicht, wie das heute ist. Das fand ich krank. Dort war klar, dass in diesen sehr nah aneinander liegenden Ländern Menschen – mit echtem und familiärem Bezug – in verschiedenen Ländern leben. Die müssen sich dort an die Situation anpassen, weil sich die Länder gegenseitig nicht akzeptieren. Wenn die über eine Grenze fahren, wird dann "einfach" der Pass zerschnitten. Diese Realitäten sind krass. Das kann man sich natürlich nicht vorstellen, wenn man mit einem deutschen Pass mal eben nach Thailand fliegt.
MZEE.com: Du hast die Faraway Friends bereits erwähnt. Was fasziniert dich denn daran, mit Menschen aus anderen Nationen Musik zu machen?
Keno: Das war bisher mein einziges Projekt in dieser Form, aber bei Faraway Friends kommt vieles zusammen. Meine Reise nach Indien war meine erste nach Asien. Ich hätte selbst auch keine Reise nach Indien geplant. Durch die Möglichkeit mit Viva con Agua habe ich mich aber dazu entschieden. Das war ein Aufenthalt von nur zwölf Tagen, der aber extrem intensiv war und mich total überfordert hat. Ich habe kulturell und inhaltlich so viel aufgenommen, das hat mich echt an meine Grenzen gebracht. Dazu gehört hauptsächlich, diese unterschiedlichen Realitäten wahrzunehmen. Die Unterschiede zwischen dem Leben von mir und den Menschen dort, ihren Möglichkeiten und meiner eigenen Rolle in diesem Kontext. Mich hat es fasziniert und ich war superfroh, diesen Austausch weiterführen zu können. Wenn man als Musiker in ein anderes Land fährt, ist es logisch, dass man Inspirationen sammelt. Indien hat eine ganz andere musikalische Tradition. Dort gibt es unfassbare Rhythmen. Aber was mich an diesem Projekt wirklich gefreut hat, ist, dass meine zwei Kumpels und ich nicht wieder nach Hause kamen und darüber geschrieben haben, was wir in zwölf Tagen in einem anderen Land gesehen haben. Sondern danach hat ein Austausch stattgefunden, wie wir und Ditty (Anm. d. Red.: Mitglied von Faraway Friends) das wahrgenommen haben und wie wir unsere unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam kommunizieren. Wie können wir Dinge gemeinsam aufschreiben, damit all unsere Realitäten darin vorkommen und es kein "Über-etwas-Reden" ist, sondern ein gemeinsames Reden? Wir wollten uns hinten anstellen und Stimmen in die Musik bringen, die nicht von Performer:innen sind, sondern von Leuten und Aktivist:innen, die dort interviewt wurden. Das macht das Ganze experimentell. Das war der Ansatz und den finde ich bis heute sehr faszinierend. Es ist ein cooler Gedanke, mit Musik über gesellschaftliche Themen sprechen zu können, in gewisser Weise Aktivismus zu betreiben, aber dabei nicht die Musik zu kompromittieren. Wie schafft man es, dass beides stimmig ist? Dass die Mucke cool ist und das, was man sagt, Hand und Fuß hat? Das ist nicht so leicht, gerade wenn man politisch wird. Bei diesem Projekt ging der Austausch wirklich über einen langen Zeitraum weiter und man konnte das immer wieder reflektieren.
MZEE.com: Könntest du dir vorstellen, ein solches Projekt in Zukunft noch mal anzugehen?
Keno: Ich hätte auf jeden Fall tierisch Lust drauf. (überlegt) Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, ob und wie ich euch diese Geschichte erzähle. Aber es ist so, dass ich mittlerweile mit Ditty verheiratet bin.
MZEE.com: Dann erst mal herzlichen Glückwunsch!
Keno: Danke. Wir haben am Anfang zusammengearbeitet, aber es wurde dann zu einer Liebesgeschichte und mittlerweile ist Indien auch ein Teil von meinem Leben geworden. Ich war jetzt schon häufiger dort und das wird auf jeden Fall in meiner Kunst eine Rolle spielen.
MZEE.com: Wie bereits erwähnt, kombinierst du in vielen deiner Projekte Musik mit Aktivismus. Was kann denn Musik, was andere Kommunikationsmöglichkeiten nicht schaffen?
Keno: Ich habe nur sehr begrenzte Erfahrungen mit anderen aktivistischen Mitteln. Ich bin niemand, der schon mal eine Demo organisiert oder Flugblätter verteilt hätte. Ich bin aber jemand, der das Gefühl hat, sich zu bestimmten Sachen positionieren zu müssen. Es gibt immer gesellschaftliche Themen, die mich sehr bewegen. Musik kann Kommunikationsgrenzen überwinden. Das klingt ein bisschen kitschig, aber die Reise nach Indien hat mir das sehr eindrücklich gezeigt. Es gibt eine Ebene, auf der man sich versteht, obwohl man sich kulturell oder sprachlich nicht versteht. Als wir nach Indien gereist sind, war ich mit meinem Megaphon dabei, der Sousaphonist von Moop Mama und David, einer der Produzenten von Moop Mama, mit seiner Djembe-Drum. Ich dachte am Anfang, wenn wir in einem indischen Dorf ankommen und ich beginne, auf Deutsch zu rappen, zeigen die mir den Vogel. (lacht) Es war null so, weil es für das Prinzip von Rhythmus und Sprache keine Erklärung braucht. Damit konnte man die Menschen dort direkt begeistern und die haben angefangen zu tanzen. Wir haben dort auch viele lokale Folk-Musiker:innen getroffen, bei denen wir festgestellt haben, dass die musikalischen Prinzipien relativ ähnlich sind. Die Lieder dort waren oft so aufgebaut, dass es eine musikalische Form gab, über die dann etwas Bestimmtes poetisch erzählt wurde. Das war häufig improvisiert und hat mich sehr ans Freestylen erinnert. An diesem Punkt fällt natürlich eine Grenze und man kann kommunizieren, obwohl man sonst Schwierigkeiten hätte.
MZEE.com: Kannst du uns daran anknüpfend noch einmal näher erläutern, inwieweit dir Reisen und kultureller Austausch wichtig sind?
Keno: Ich finde das super bereichernd. Ich fand Reisen schon immer faszinierend und ich bin schon viel gereist, obwohl ich in Indien gemerkt habe, noch nicht so weit weg. Vorher bin ich vor allem in Europa gereist. Die beiden Reisen zu "Paradajz Lost" habe ich alleine und viel zu Fuß gemacht. Ich bin getrampt oder mit dem Bus unterwegs gewesen. Das fasziniert mich und zieht mich immer wieder an. Ich bin auch schon mehrfach über mehrere Tage irgendwo gewandert. Einmal habe ich versucht, von München nach Italien zu laufen. In Portugal bin ich zum Beispiel eine Zehn-Tages-Strecke gewandert. Jedes Mal, wenn ich so was gemacht habe, hat mich das weitergebracht und verändert. Ich habe dadurch auch gemerkt, wie unterschiedlich diese Welt an verschiedenen Orten ist. Dafür braucht es eine Sensibilität. Von hier aus hat man sehr viele Möglichkeiten, aber man braucht nicht weit wegzugehen, um Erfahrungen zu machen. Es ist nicht so, dass man den Billigflieger nach Asien nehmen muss, um dort etwas Cooles zu erleben. Für mich ist das ein zweischneidiges Schwert. Ich war auf Reisen auch nicht nur happy. Man macht auch krasse Erfahrungen oder sieht Realitäten, die nicht bequem sind.
MZEE.com: Was hat dich denn bei deinen Reisen besonders geprägt?
Keno: (überlegt) Die erste weite Reise war während meines Zivildienstes. Ich habe in einer Behinderteneinrichtung mit Kindern gearbeitet und diese Arbeit danach noch etwas fortgesetzt. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frau kennengelernt, die eine ähnliche Einrichtung in Kolumbien eröffnet hatte. Die hat uns angeboten, dass wir dort als Freiwillige arbeiten können. Das habe ich gemacht und bin nach Kolumbien gereist. Es war meine erste Erfahrung, bei der ich gemerkt habe, dass ich dort zwar ankommen und mich aufhalten kann, aber dass es Grenzen gibt, die sich nicht einfach überschreiten lassen. Das hat mich seitdem immer beschäftigt: Wann ist man einfach nur ein Tourist? Wann lernt man Leute und Kultur wirklich kennen? In ein Restaurant zu gehen und etwas Gutes zu essen, ist ja noch nicht "eine Kultur kennenlernen". (lacht) Ich glaube, die Wahrheit ist, dass es superlange dauert, bis man eine gewisse Tiefe erreicht.
MZEE.com: In deiner aktuellen Künstler-Bio heißt es: "Reisen, Begegnungen und Musik sind seine Wege. So stellt er immer wieder Projekte auf die Beine, in denen Kunst und gesellschaftliches Engagement zusammenfinden." – Was wäre denn dein absolutes Traumprojekt, das beides vereint?
Keno: Ist witzig, dass du genau diesen Satz zitierst, denn ich hasse es, meine eigene Bio schreiben zu müssen. Diesen Satz habe ich mehr oder weniger aus einer Beschreibung von einem Radiointerview von mir geklaut. (lacht) Die haben das gut auf den Punkt gebracht. Aber das sind auf jeden Fall Sachen, die bei mir immer wieder auftauchen und mich inspirieren. Mein absolutes Traumprojekt … (überlegt) Es gibt so einen Traum. Mal schauen, ob wir den irgendwann umsetzen. Das wäre eine Reise zwischen Indien und Deutschland über Land. Auf diesem Weg würden wir dann gerne viele Menschen treffen, mit denen wir zusammenarbeiten könnten. Das ist nach Faraway Friends das Traumprojekt.
MZEE.com: Wie würdet ihr das planen – zum Beispiel wen ihr auf der Reise trefft?
Keno: Ich glaube, man muss komplett offen sein. Natürlich kann man ein paar Ideen auf die Reise mitnehmen. Für Ditty und mich gäbe es auch vieles, was wir mitnehmen würden, denn da liegt die Verbindung zwischen unseren beiden Heimaten. Diese Verbindung haben wir schon auf mehreren Wegen überschritten. Wir haben uns kurz vor der Pandemie kennengelernt und während der Pandemie gemerkt, dass wir uns näherkommen. In dieser Zeit haben wir aber festgestellt, dass die Reisemöglichkeiten eher begrenzt sind. Deshalb würden wir diesen Weg gerne mal "in Langsam" machen, um den Übergang sehen zu können. Das stellen wir uns sehr faszinierend vor. Es klingt zwar abgedroschen, aber ich bin auf der Suche nach Frieden und Verständigung. Wenn man so einen langen Weg beschreitet, begreife ich das als einen Weg der Verständigung. Man kann an vielen Orten Menschen treffen, die ihre Musik ähnlich betrachten wie wir. Mit denen kann man sich über diese Sachen gut austauschen. Warum drückt ihr euch auf diese Art und Weise aus? Warum ist man politisch aktiv oder kämpft gegen unfaire Verhältnisse an? Musik dient oft dazu, die eigenen Erfahrungen auszudrücken, und diesen Drang gibt es überall. In vielen Teilen der Welt begeben sich Menschen damit auch in echte Gefahr. Man sieht es zum Beispiel an diesem zum Tode verurteilten iranischen Rapper. Aber das ist nicht nur dort so. Auch in Indien gibt es viele Schriftsteller:innen, die vom System verfolgt und bedrängt werden. Wir sind auch nicht weit weg davon.
MZEE.com: Bei der Erläuterung deines Traumprojekts erinnerte ich mich an eine Zeile von dir: "Hamburg – München, gut sechs Stunden Zug. Vienna – Deli, sechs Stunden 50 Flug. Was ist jetzt nebenan?"
Keno: (lacht) Das hat mich total schockiert, denn zu der Zeit saß ich zwischen Hamburg und München oft im Zug. Es hat sich oft unfassbar lang angefühlt. Dann setzt man sich ins Flugzeug, macht kurz die Augen zu und ist in Indien. Die Welt dort ist bis ins kleinste Detail eine andere – jeder Türknauf, der Geruch und das Licht. Aber ich habe dort faszinierenderweise Menschen kennengelernt, mit denen eine tiefe Verständigung stattgefunden hat. Es ist dann eben doch in einigen Bereichen ziemlich gleich. Dieser Gegensatz ist spannend – diese krasse Entfernung gepaart mit der Erkenntnis, dass dort Leute im Endeffekt auch ähnliche Dinge machen. Und dann fährt man von Hamburg nach München und denkt sich: "What the fuck ist hier los?" Das ist auf Reisen auch immer wieder so ein Ding, wenn man für einen Moment seinen eigenen Erfahrungshorizont verlassen kann und bemerkt, dass andere Leute auf bestimmte Dinge ganz anders gucken. Da gibt es dann diesen Aha-Moment: Ich bin in meiner eigenen Welt gefangen. Das tut gut.
MZEE.com: Ich würde gerne noch mal einen anderen Themenkomplex aufmachen: Wenn man sich an Elementen anderer Kulturen bedient, kann das schnell in Form reiner kultureller Aneignung passieren. Wie blickst du auf dieses Thema?
Keno: Als ich damals "Paradajz Lost" gemacht habe, war das noch nicht so ein Thema für mich. Das hatte ich damals noch nicht gecheckt und ich würde dieses Album so nicht noch mal machen, weil mir in der Verwendung der Samples die Tiefe, der Austausch und mein eigenes Verständnis fehlen. Das war damals eine sehr oberflächliche Herangehensweise. Ich war da nur aus einer Sample-Digger-Faszination heraus angezogen, weil ich manche von Madlib Beats kannte. Es gab ein Sample, das kannte ich von Gonjasufi, einem US-Artist, und aus diesem ist dann "Der See" entstanden. Es ging mir primär darum, ein abseitiges Genre zu samplen. Das ist zwar irgendwie okay, aber ich würde es nicht mehr auf dieselbe Art und Weise machen. Bei Faraway Friends war es eine ganz andere Tiefe in der Beschäftigung und das rechtfertigt für mich dann die Verwendung von kulturellem Material, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben und eine Kommunikation stattgefunden hat. Wir haben versucht, es so anzulegen, dass es von beiden Seiten lesbar ist. Das ist gar nicht so einfach, weil Leute aus Deutschland das ganz anders lesen als Leute aus Indien.
MZEE.com: Wie war denn das Feedback? Hast du den Eindruck, dass das funktioniert hat?
Keno: Dieses Album hat etwas sehr Internationales. Wir haben in Deutschland erstaunlich viel Presse bekommen. Die fanden das sehr spannend, auch weil Viva con Agua eine bekannte Institution und in der Musikindustrie verankert ist. Dann ist es wiederum so, dass es musikalisch etwas Experimentelles beinhaltet. Damit ist es oft schwierig in Deutschland. Das wird international anders und leichter aufgenommen. Ein paar von unseren Songs haben es in Playlisten geschafft, die in den USA gehört werden. Das fand ich faszinierend, auch wenn wir damit keine internationalen Hits gelandet haben. Aber ich fand interessant, dass es aus einer internationalen Perspektive eine Gültigkeit hat, die in Deutschland gar nicht gesehen wird. Aus der indischen Perspektive war das Feedback auch gut. Die Platte ist in Indien nicht auf die gleiche Art releast worden wie in Deutschland, weil wir das damals irgendwie nicht konnten. Das bedeutet, wir hatten dort keinen physischen Vertrieb und die Promotion hat sich auch primär auf Deutschland bezogen. Wir hatten immer wieder mit der indischen Szene Kontakt und auf einer weiteren Reise die Jal Saheli wieder getroffen – die Wasser-Freundinnen, denen wir einen Song gewidmet haben. Das war eine krasse Erfahrung, denn wir haben denen dann die Musik endlich vorgespielt. Es ist musikalisch ganz weit weg von dem, was die sonst hören. Aber wir haben Slogans und sogar Vocal-Samples von ihnen verwendet. Ich war mir unsicher, ob die gut finden, was wir daraus gemacht haben. Die hatten aber eine krasse Offenheit und wir hatten wieder ein gemeinsames Erlebnis, weil wir noch mal diese Sachen zusammen geshoutet haben. In der Zwischenzeit hatte ich dann schon ein paar Grundzüge Hindi gelernt und konnte mich ein bisschen verständigen. Es funktioniert also in beide Richtungen, aber auf unterschiedliche Art.
MZEE.com: Auch dein aktuelles Cover von "Schall und Rausch" ist in Indien entstanden. Was muss dir denn ein Ort bieten, damit du dich künstlerisch ausdrücken kannst?
Keno: (überlegt) Ich brauche Kommunikation. Es gibt Phasen, in denen ich allein an Dingen arbeite, aber es beeinflusst und inspiriert mich, wenn ich ein Gegenüber habe. Es gibt eine Unterhaltung und man setzt sich auseinander, zum Beispiel in Diskussionen über Text und Musik. Was macht man mit der Musik, damit der Text besser wirkt? Wie geht der Text auf die Musik ein? Je kommunikativer und interaktiver dieser Prozess mit Leuten ist, desto besser. Auf der anderen Seite brauche ich Phasen, in denen ich allein sein kann, und dafür sind Reisen sehr geeignet. Es gibt Momente, in denen ich einfach dasitze, aus dem Fenster gucke und irgendwie passiert etwas im Hintergrund. Ich bin dann oft noch nicht konkret am Texten, aber es entsteht irgendwas. Dieses In-Bewegung-Sein hat mir immer sehr geholfen, um nicht abgelenkt zu werden. Denn wenn ich mich zu Hause hinsetze und einen Text schreiben will, dann schreibe ich oft stattdessen eine E-Mail. Inspirationen und Gedankenfetzen kommen mir eher unterwegs.
MZEE.com: Als abschließende Frage im Hinblick auf unser heutiges Thema: Wie würde sich denn die Welt in deiner Utopie sozial und politisch gestalten? Gäbe es eine Grundlage für den Begriff "Transnationalismus"?
Keno: Ich habe keine konkrete Utopie. (überlegt) Ich bin Idealist und würde mir wünschen, dass die Welt so strukturiert wäre, dass es nicht so krasse Ungerechtigkeiten gibt. Meine Erfahrungen von Unterschieden zwischen Ländern und Lebensrealitäten haben mich immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Denn ich merke, dass ich dort, wo ich bin, ein guter Einfluss für mein Umfeld sein will. Das ist etwas, woran ich immer wieder durch Reisen erinnert werde. Man kann zum Beispiel mit einer NGO in ein weit entferntes Land gehen und dort Erfahrungen machen. Das ist bereichernd, aber die Möglichkeiten, dort wirklich aktiv zu helfen, sind begrenzt. Du hast dann "nur" die Rolle eines Gastes. Dort, wo du jetzt bist, kannst du aber aktiv etwas Gutes machen und nicht nur Gast sein. Du musst dafür nicht zwingend weit weggucken, selbst wenn man das nicht aus den Augen verlieren sollte. Wirksam bin ich in Situationen, die ich wirklich beeinflussen kann. Wenn ich meine Fähigkeiten so einsetze, dass sie auf Ebenen funktionieren, die selbst andere Menschen positiv beeinflussen, dann ist schon viel gewonnen. Die Welt ist auf eine sehr subtile Art vernetzt, nicht nur über große Systeme. Deshalb glaube ich daran. Man sollte schauen, dass man mit jeder Tat und Handlung etwas Positives auslöst.
(Alec Weber & Malin Teegen)
(Fotos von Tobias Schütze, Aditi Veena & Robert Funke)