An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden erzählt unsere Redakteurin Sandra, was es mit der Veranstaltungsreihe "unreleased" auf sich hat und weshalb diese etwas absolut Besonderes in der Szene ist.
Mit diesem Kommentar tue ich einigen Leuten – inklusive mir selbst – keinen Gefallen, denn potenziell ziehe ich damit noch mehr Menschen auf eine Veranstaltung, bei der es immer schwerer wird, Tickets zu ergattern. Und das zu Recht! Aber am Ende wünsche ich jedem:jeder Deutschrap-Enthusiast:in, mindestens einmal dabei gewesen zu sein. Bei unreleased in Berlin – wo der Name Programm ist und die Emotionen so schön sind, dass man sich hinterher fragt, ob diese Show wirklich gerade stattgefunden hat.
Bevor ich in subjektiven Schwärmereien versinke, fange ich von vorne an: Was ist unreleased überhaupt? Die Jam wird von den Rappern Frustra, FEDE 404 und Rei Moura veranstaltet. Entstanden ist die Idee nach einem Comedy Open Mic, bei dem die Zuschauer:innen vorab nicht wussten, was sie erwartet. Hier dachte sich Frustra: Das Prinzip müsste doch auch im deutschen Rap aufgehen. Hinzu kam der chronische Mangel an unkommerziellen Veranstaltungen und HipHop-Events für die Szene in Berlin. Es fehlte schlichtweg ein Treffpunkt, an dem sich Rapper:innen vor Publikum ausprobieren und an dem insbesondere upcoming Artists Bühnenerfahrung sammeln können. Die Idee wuchs also und die drei Rapper entwickelten ein Event-Konzept, das auf einer Auswahl von ungefähr zehn Secret Acts basiert, die jeweils zwei – der Veranstaltungsname sagt es bereits – unveröffentlichte Songs performen. Der Plan ist so simpel wie genial. Denn was die drei ins Leben gerufen haben, ist einfach anders. unreleased ist gleichzeitig roh und qualitativ absolut hochwertig und die optimale Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem. Was im Juni 2023 mit drei Mainacts und mehreren Artists am Open Mic begann, hat sich mittlerweile zu einer stabilen Entität entwickelt, die jeden Monat aufs Neue binnen weniger Minuten ausverkauft ist.
Die unreleased-Premiere fand mit 160 Zuschauer:innen standesgemäß direkt im Monarch, einer Bar am Kotti, statt. Neben Ahzumjot, Pimf und BABYJOY als Hauptacts traten noch Artists wie Chefket, Yunus, MEDUSSAR und einige mehr am Open Mic auf. Der Plan ging auf, das Konzept wurde vom Publikum angenommen und der Hype auf Runde zwei war groß. Diese folgte auch direkt im Juli mit unter anderem Marvin Game, Hanna Noir sowie Yecca. Und Monat für Monat gaben sich seitdem Szenegrößen und Newcomer das Mic in die Hand und rissen gemeinsam den Laden ab. So sehr, dass es bei Ausgabe vier bereits Zeit war, die Räumlichkeiten zu wechseln. Seit September heißt es nämlich: vom Kotti Richtung Schlesi, einmal rechts abbiegen und weiter bis zum LIDO (Anm. d. Red.: Club in Kreuzberg). Dort findet die Veranstaltung nun vor ganzen 600 Personen statt, die bisher gemeinsam die unveröffentlichten Tracks von Apsilon über BRKN bis zu OG LU, Trettmann, Wa22ermann und vielen mehr genießen konnten.
Wer sich die bereits genannten Künstler:innen ansieht, wird merken, dass auf eines besonders großen Wert gelegt wird: Vielfalt. Egal, ob gestandene Artists oder Newcomer mit wenig bis gar keiner Bühnenerfahrung. Egal, ob New Wave oder Soul, ob Trap oder Boom bap. Von Frankfurt über den Ruhrpott nach Chemnitz und von Hamburg nach Berlin – es ist von allem etwas dabei. Das macht auch den besonderen Charme der Veranstaltung aus. Wer sich Tickets für unreleased kauft, ist offen für Neues und will Musik und Artists entdecken. Keiner kommt mit der Erwartungshaltung an, die top gestreamten Songs seines Lieblingsacts zu hören. Durch die Geheimhaltung der Namen der Rapper:innen entsteht außerdem eine Dynamik, die verhindert, dass man sich nur die bekannten Künstler:innen ansieht und dann in der Raucherecke verschwindet. Um zu wissen, wie es weitergeht, muss man eben vor Ort bleiben. Dass sich das lohnt, merkt man dem Publikum auch an, denn der Saal ist durchgehend vollgepackt und die Stimmung am Kochen.
Was man dem Publikum außerdem anmerkt, ist der positive Vibe. Wer nach einem Safe Space sucht, wird ihn hier finden. Es gilt: keine Toleranz für Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Wie die Veranstalter selbst sagen: "unreleased soll ein Ort sein, an dem sich alle sicher und wohl fühlen können." Das gilt sowohl für die Menschen auf der Bühne als auch für jene, die davor stehen. Außerdem knüpft unreleased an die "Keine Fotos oder Videos"-Policy vieler Clubs an – Handykameras werden abgeklebt. Dadurch entsteht eine Atmosphäre des Hier und Jetzt. Künstler:innen können ihre neue Musik "frei" vor Publikum austesten, ohne Gefahr zu laufen, später unerwünschte Videos im Internet zu sehen, obwohl der Song eventuell gar nicht für die Massen bestimmt ist.*
Erstaunlicherweise hören die Besucher:innen nicht nur auf, jeden Moment für Social Media festzuhalten, sie scheinen generell kaum noch Interesse an ihrem Handy zu haben. Der Fokus liegt auf der Musik und alle scheinen zu wissen, dass es sich um einzigartige Momente handelt. Dass man eventuell gleich einen Song hört, der nur dieses eine Mal öffentlich performt, anschließend aber nie releast wird. Und diese Momente werden absolut wertgeschätzt. Newcomer werden ebenso respektvoll behandelt wie alteingesessene Szenegrößen. Wer auf der Stage steht, wird von unglaublich viel Wärme, Liebe und Gejubel empfangen. Dadurch entsteht im ganzen Raum ein Gemeinschaftsgefühl, etwas Einzigartiges zusammen zu erleben.
Eben jenes Gefühl macht unreleased so besonders und hebt das Format – neben der Liebe für das Entdecken neuer Musik – von anderen Veranstaltungen ab. Klar, gute Stimmung gibt es überall, aber im LIDO bekommt Ihr einmal im Monat mehr als nur das. Es gilt das Credo: nicht nur heftige Namen, sondern heftige Artists. unreleased holt Euch für drei Stunden aus Eurem Alltag heraus und schenkt Euch ein bisschen Urlaub für die Seele. Danke also insbesondere an Frustra, FEDE 404 und Rei Moura für die Etablierung einer liebevollen Veranstaltung für die Szene, aber auch danke an alle Beteiligten im Hintergrund, die unreleased zu so einem besonderen Erlebnis machen. Die Jam ist genau das, was dem Veranstaltungskosmos im deutschen Rap gefehlt hat und ihr gebührt jegliche Aufmerksamkeit. Alles, was mir am Ende noch zu sagen bleibt: Bitte lasst mir ein Ticket übrig!
*Anmerkung der Redaktion: Sneak Peaks gibt es nur auf dem @unreleased.berlin Instagram-Kanal.
(Sandra Heuler)
(Grafik von Daniel Fersch)