Süßer als dieses Jahr klangen die Glockenbeats selten und dümmer haben sich Springer-Journalist:innen über den ausbleibenden oder den fallenden Schnee auch noch nie beschwert. Doch nicht nur solche Phänomene sind von beeindruckender Konstanz. Auch der – in der Regel verzweifelte – Versuch, noch mal eben das im Vergehen begriffene Deutschrap-Jahr zusammenzufassen, ist inzwischen zur liebgewonnenen Tradition geworden. Blicken wir also bei einem Kinderpunsch und Lebkuchenherz zurück auf zwölf Monate voller Hochs und Beefs.
Gleich einsteigen wollen wir mit dem musikalischen Highlight: Zwar kann nicht wie im vergangenen Jahr mit "Mann beißt Hund" ein Album als uneingeschränkter Redaktionsliebling herhalten, aber dafür kann es ein Künstler. Apsilon hat nämlich über das ganze Jahr im Allgemeinen und mit dem Song "Baba" im Speziellen derartig abgeliefert, dass man sich fast schon fragen kann, was da überhaupt noch kommen soll. Wer so leichtfüßig tiefe Emotionen musikalisch spannend verpacken kann, ohne in kitschige Gemeinplätze zu verfallen, dem ist wirklich jeder mögliche Karrierehochpunkt zu wünschen. Das Album kommt bestimmt bald – hoffentlich.
Doch nicht nur auf diversen Streaming-Plattformen, auch live gab es einiges zu bestaunen. Auf einer ganz anderen Ebene, aber ebenso wunderschön wie bereits in den Jahren zuvor, war wieder einmal die Tapefabrik. Selbst wenn man die ganzen liebevoll hängengebliebenen Rapfilme inzwischen kennen und lieben gelernt hat, ist die Krepkek-Cypher auf dem diesjährigen Festival noch mal besonders hervorzuheben. Mit welcher Hingabe und Energie da gut anderthalb Stunden durchgerappt wurde, ist ganz ohne ironische Distanz einfach ein besonderer Moment, der gewürdigt gehört.
Ähnlich hat Shirin David, wenn auch nicht so sehr musikalisch, sondern eher businesstechnisch zu beeindrucken gewusst: Beim splash! stand sie auf der Bühne mit Haftbefehl, spielte eine ausverkaufte Tour in einem Jahr, wo zahllose andere Artists ihre Tour absagen mussten, betreibt einen Podcast mit Gästen wie unter anderem Shindy und liefert eine Medienpräsenz, die man so lange nicht mehr erleben konnte. Thomas Gottschalk weint sich vielleicht immer noch in den Schlaf. Apropos alte, weiße Männer: Der Auftritt mit Helene Fischer bei "Wetten, dass..?" dürfte sie bezüglich potenzieller Zielgruppen noch mal in ganz andere Sphären gehoben haben.
Womit wir so langsam, aber sicher beim realkeependen Meckern angekommen wären. Nicht erst seit der Olexesh und Vanessa Mai-Kooperation, aber spätestens seitdem hat sich eine sehr ungesunde musikalische Nähe zwischen dem nervigsten (Schlager) und dem spannendsten (deutscher Rap, na klar) Genre in Deutschland entwickelt. Egal, ob Apache 207 auf Kometen oder eben Shirin David durch die Nacht reitet – es sei allen jeder mögliche Erfolg gegönnt, aber so ein bisschen Stolz auf die eigene Kunst und auf das, wofür man damit steht, darf ruhig am Ende vom Brutto übrig bleiben. Auf der anderen Seite ist so ein Verhalten eigentlich auch nicht verwunderlich, wenn man sich anschaut, wie Streamingdienste wie Spotify mit unbekannteren Künstler:innen umspringen und beispielsweise Streams, die unter der 1 000er-Marke im Jahr liegen, gar nicht mehr vergütet. Außerdem hören wir alle lieber noch fünf Schlagerrap-Alben als ein weiteres absolut nichtssagendes Shindy-Interview, in dem er Espresso falsch trinkt und versucht zu erklären, wie und warum er seine Fans für dumm verkauft.
Zu guter Letzt war 2023 auch wieder ein Jahr der Abschiede. So haben Fettes Brot ihre wirklich glorreiche Karriere mit einer glorreichen Abschiedstournee beendet. Viele Emanuelas auf dieser Welt werden wahrscheinlich nicht traurig darüber gewesen sein, der Rest darf vor so einer Langlebigkeit und vielen Hits durchaus jeden imaginären und tatsächlichen Hut ziehen. Wir wünschen einen geruhsamen Lebensspätsommer und viel Spaß beim Golfen. Der andere Abschied aus diesem Jahr ist einer, der bei allen in der Redaktion weiterhin sticht, wenn darüber gesprochen wird: Mit Lord Folter ist einer der sprachlich versiertesten, musikalisch kreativsten und emotional ehrlichsten Künstler von uns gegangen, die wir bisher erleben durften. Sein Tod hinterlässt eine Lücke in der Szene, die sich nicht schließen lässt. Wer es noch nicht gehört hat, dem sei insbesondere sein letztes Album "Farce" ans Herz gelegt. Wir wünschen Julian Wachendorfs Familie und Freunden alles Gute und Kraft bei diesem schweren Prozess.
Dennoch soll weder der Artikel noch das Jahr mit ganz schwerem Herzen beendet werden. Und da wir ohnehin schon beim Wünschen waren: Allen Rapper:innen wünschen wir die besten Texteinfälle ganz ohne Ghostwriter und dass sie jeden Diss gut überstehen mögen. Den DJs mehr Aufmerksamkeit und vielleicht die ein oder andere weitere Tour, auf die man im nächsten Jahr mitfahren kann. Allen Produzent:innen eine faire Vergütung und dass man sich vielleicht mal etwas anderes überlegt als R 'n' B-Samples aus den 2000ern. Alle, die immer noch sprühen: Weiter so und lasst euch nicht erwischen. Allen Breaker:innen das gleiche wie den DJs, nur ohne Tour. Und Euch, liebe Leser:innen, wünschen wir das erfolgreichste, rundeste und gemütlichste 2024, das man sich vorstellen kann. Schön, dass Ihr noch da seid.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)