Triggerwarnung: In Teilen dieses Interviews geht es um Rassismus, Queerfeindlichkeit und Suizid. Falls Euch das triggert, solltet Ihr hier vielleicht nicht weiterlesen.
GG Vybe gilt als erste weibliche DJ-Crew Frankfurts. Entstanden aus Musikworkshops für Frauen ist diese seit 2018 zu einem Kollektiv von sieben DJs herangewachsen, das Partys nicht nur mit einer breiten Genre-Mischung aus HipHop, R'n'B und Techno versorgt, sondern auch gegen strukturelle Probleme ankämpft, die sich in kulturellen Sphären auftun. CVL, Jaraya, Jenni_yo, Johanna, Lathivha, Miss Control und Febi wollen Raum für Frauen in der männlich dominierten Club-Szene schaffen und engagieren sich auch abseits ihres DJ-Alltags, beispielsweise durch die Organisation von Panels oder Diskussionsrunden über Rap und Rassismus. Zwei Mitglieder von GG Vybe – CVL und Jenni_yo – nahmen sich die Zeit, um mit uns über ein Thema zu sprechen, das in der öffentlichen Debatte in Deutschland derzeit weit oben auf der Agenda zu stehen scheint: Wokeness. Der Begriff entstand in den 1930er-Jahren in den USA und beschrieb ursprünglich ein erwachtes Bewusstsein für Rassismus und mangelnde soziale Gerechtigkeit. Im Laufe der Zeit erweiterte sich diese Bedeutung, wodurch Wokeness heute grundsätzlich für politisches Wachsein und Engagement gegen rassistische, sexistische und soziale Diskriminierung steht. Zwar möchte man meinen, dass sich mit dieser Idee grundsätzlich jede:r anfreunden können müsste, doch scheint es zunehmend Stimmen zu geben, die unter Wokeness etwas anderes verstehen. Beinahe an jeder Ecke liest man Kommentare dazu, währenddessen sagt die CSU der Wokeness den Kampf an und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder teilt über Instagram mit: "Wir lehnen Wokeness […] ab." In der öffentlichen Debatte zum Thema wird zudem mit einer Vielzahl weiterer Begriffe um sich geworfen. Deshalb sprachen wir im Interview mit CVL und Jenni_yo unter anderem auch über Gendern, Cancel-Culture und die "Generation Snowflake".
MZEE.com: Unser heutiges Gesprächsthema Wokeness ist zu einem wahrhaftigen Kampfbegriff in Medien und Politik geworden. Dabei ist an der ursprünglichen Idee dahinter doch kaum etwas auszusetzen. Könnt ihr euch erklären, warum viele Menschen bei dem Thema so emotional werden?
Jenni_yo: Ich glaube, manche Leute haben eine gewisse Angst vor Wokeness. Nehmen wir als Beispiel mal die "Black Lives Matter"-Bewegung. Seit Trayvon Martins Tod (Anm. d. Red.: Trayvon Martin wurde 2012 im Alter von 17 Jahren in Florida von George Zimmermann erschossen, was in den USA eine landesweite Rassismusdiskussion auslöste.) hat dieses Thema eine enorme Aufmerksamkeit in den Medien. Es ist ein sensibles Thema. Viele Menschen sind davon persönlich betroffen, andere wiederum haben eine krasse Unwissenheit. Deshalb sind bei diesen Themen automatisch Emotionen involviert.
CVL: Es kommt auch sehr darauf an, wie man das Wort "Wokeness" benutzt. Es ist etwas anderes, es als Begriff zu sehen und eine Theorie dazu zu lesen, als es sich selbst anzueignen und sich damit zu inszenieren. Letzteres finde ich ein bisschen schwierig.
Jenni_yo: Da stimme ich vollkommen zu. Das ist schwierig, eben weil noch so viel Unwissenheit herrscht. Wir beginnen gerade erst damit, über dieses Thema zu reden und beispielsweise in den Medien mehr Diversität repräsentiert zu sehen. Ich glaube, für die weiße Mehrheitsgesellschaft, in der wir uns in Deutschland befinden, ist das ein Overload. Dann heißt es: "Oh, ich habe Gefühle verletzt, ich trete anderen auf die Füße." Teilweise geschieht das noch unbewusst.
MZEE.com: Ihr sagt, man muss zwischen Wokeness als Begriff und als Selbstzuschreibung differenzieren. Per Definition bedeutet es: "Starke (auch übertriebene) Aufmerksamkeit betreffend Diskriminierung und entsprechender politischer Einsatz." Was heißt "woke" sein denn für euch? Ist es grundsätzlich positiv oder negativ konnotiert?
Jenni_yo: Das Prinzip hinter Wokeness ist natürlich etwas Positives. Es wird halt als Begriff total überstrapaziert. Viele Leute sehen sich als woke und beziehen das auf ganz unterschiedliche Themen. Für mich geht es vor allem darum, ob man aktiv ist. Ich kann nicht einfach rausgehen und sagen: "Ich bin woke." Das ist keine passive Sache. Es sollte primär eine Rolle spielen, wie aktiv man ist im Kampf gegen Rassismus, gegen Sexismus, Diskriminierung oder Unterdrückung. Oder auch nur gegenüber eigenen Familienmitgliedern, die rassistische Kommentare machen.
CVL: Das sehe ich genauso. Ein so großer Begriff mit so viel Komplexität kann keine Selbstbeschreibung sein. Man muss ihn durch seine Handlungen ausleben.
MZEE.com: Presslufthanna sagte vor Kurzem in einem Interview mit uns, Wokeness werde von konservativen und rechten Politiker:innen zu einer gesellschaftlichen Gefahr hochstilisiert, ohne wirklich eine zu sein. Meinst du das, wenn du sagst, der Begriff sei überstrapaziert, Jenni?
Jenni_yo: Voll. Ich habe das Gefühl, dass einige Leute unter anderem Angst davor haben, dass bestimmte Dinge aus der Vergangenheit rauskommen. Das ist schließlich bei Politiker:innen oder auch bei Artists bereits der Fall gewesen. Wenn man Angst hat, entwickelt man schnell solche defensiven Verhaltensmuster. Diese Leute spielen dann mit dem Begriff und werten ihn ab, damit er nicht ernst genommen wird.
CVL: Oder ziehen es sogar ins Lächerliche. Dann wird sich beispielsweise über Gendern lustig gemacht. So werden Trotzreaktionen gefördert.
MZEE.com: Ich habe das Gefühl, dass vieles davon besonders zwischen Generationen für Reibung sorgt. Manche sprechen über junge Menschen als die "Generation Snowflake", die zu sensibel und verweichlicht sei. Kann es zu viel von etwas wie Sensibilität geben?
Jenni_yo: Das ist genau der Punkt und gleichzeitig eine gute Frage. (überlegt) Wir sind in Deutschland mittlerweile in der dritten oder vierten Generation der Nachkriegszeit. Über viele Probleme wurde lange Zeit nicht gesprochen und es wurde sich komplett passiv verhalten. Dieses Verhalten haben sich die Menschen angewöhnt und weitervererbt. Wie gehe ich mit Emotionen um? Wie gehe ich mit Diskriminierung um? Wie mit Verletzbarkeit? Solche Fragen wurden lange weggeschoben. Ich glaube, jetzt haben wir eine Generation, die endlich daraus ausbricht. Eine Generation, die sagt: "Wir reden jetzt mal darüber, dass ich mich verletzt fühle. Oder darüber, dass etwas diskriminierend ist." Früher wurde das total ignoriert. Wir waren in Deutschland lange sehr passiv, weil wir grundsätzlich eine eher reservierte Gesellschaft sind und Emotionen nicht viel Raum geben. Ich denke, das ändert sich langsam, weil wir multikulturell werden und mit der Zeit gehen. Hier leben immer mehr unterschiedliche Kulturen zusammen, da gibt es nun mal Konflikte. Wir könnten diese weiter totschweigen, aber was passiert, wenn geschwiegen wird, haben wir in diesem Land schon einmal gesehen. Es ist unsere Verantwortung, jetzt aktiv dafür zu sorgen, dass so etwas nicht mehr geschieht. Da wären wir wieder bei unserem Anfangsthema: nämlich, dass Wokeness nicht passiv gelebt werden kann.
CVL: Deshalb ist es voll wichtig, empfindlich zu sein und ein Bewusstsein für viele Themen zu haben. Diesen "Generation Snowflake"-Vorwurf finde ich absurd. Es ist doch umso besser, je empathischer man ist, und je mehr man versucht, Verständnis füreinander aufzubringen. Genau aus solchen Gefühlen heraus entsteht Bewegung und man schafft es, über Chatgruppen im Internet hinauszugehen und wirklich aktiv zu werden.
MZEE.com: Inwiefern hängen Sensibilität und Empathie für dich zusammen?
CVL: Ich finde, es wird oft zu Menschen gesagt, die einfach nur versuchen, empathisch zu sein, sie seien zu sensibel. Das wird in unserer Leistungsgesellschaft häufig als Schwäche gesehen. Ich glaube, das hängt auch mit dem Thema "Generationen" zusammen. Ältere Teile der Gesellschaft haben ein anderes Verständnis davon, was es heißt, Schwäche oder Emotionen zu zeigen.
Jenni_yo: Der Punkt mit der Empathie ist superwichtig, denn genau das ist es, was gerade stattfindet: Ich lege meine eigenen Bedürfnisse mal zur Seite und höre anderen zu, wie sie sich fühlen. Empfinden sie etwas vielleicht als diskriminierend? Was habe ich falsch gemacht? Nehme ich das selbst überhaupt wahr? Das alles ist ein Lernprozess. Keiner von uns ist perfekt, auch ich selbst nicht. Aber ich möchte unbedingt, dass mich Freund:innen und mein Umwelt auf Fehler hinweisen.
MZEE.com: Eng mit unserem Thema verknüpft ist eine Diskussion um Meinungsfreiheit und Begriffe wie "Cancel-Culture". Jede:r kennt Sprüche wie: "Darf man das heutzutage überhaupt noch sagen?" Ist das schlichtweg ignorant oder stecken darin auch ernstzunehmende Unsicherheiten, die mit dem Lernprozess zusammenhängen, den du erwähnt hast?
Jenni_yo: Meinst du damit diese Momente, in denen man merkt, dass eine Diskriminierung stattfindet, aber nicht weiß, ob es bewusst oder unbewusst geschieht?
MZEE.com: Ich meine beispielsweise Momente, in denen im Familienkreis oder am Esstisch etwas gesagt wird und es dann heißt: "Hoppla, das hätte ich heutzutage gar nicht mehr so sagen dürfen." Eigentlich zeigt das doch, dass es die Person schon besser weiß. Macht sie es dennoch, weil sie weiß, dass ihr keine Konsequenzen drohen?
Jenni_yo: Ja, deshalb finde ich es grundsätzlich wichtig, dass man in diesen Situationen transparent ist. Sonst ändert sich das Problem nicht. Natürlich hat man seine eigene Komfortzone und ist manchmal müde davon, sein Gegenüber in solchen Momenten auf etwas hinweisen zu müssen. Es macht ja auch etwas mit einem selbst, wenn man seine emotionale Situation ständig neu erklären muss. Dennoch halte ich es für wichtig, dass auch wir in solchen Konfrontationen ab und zu ein wenig herunterschrauben und die Leute lernen lassen. Das ist unangenehm, aber Wachstum ist immer unangenehm. Ich hatte mal so eine Situation mit einer älteren Dame. Sie war über 80 und hat in einem Gespräch mit mir das Wort "M*hrenkopf" benutzt. Bei einem Menschen in diesem Alter lasse ich sowas manchmal stehen, weil der Hintergrund ein ganz anderer ist. Am nächsten Tag hat sie sich bei mir entschuldigt und gesagt, es sei ihr total unangenehm. Sie hatte eine Doku über Diskriminierung gesehen und sich dann daran erinnert, was sie gesagt hatte. Das fand ich richtig nett und dachte mir, dass man vielleicht doch immer etwas sagen sollte. Obviously it works.
MZEE.com: Die queere Journalistin und Autorin Laurie Penny schrieb im Artikel "Unsere neue Macht" in der ZEIT: "Die meisten Menschen, die Angst vor der Wokeness haben, fühlen sich oft nur mit dem Tempo der Veränderungen ein wenig unwohl, was in Ordnung ist, denn Veränderungen sind selten angenehm – oder sie haben Angst, dass sie einen Fehler machen und jemand sie anschreit." – Fehlt es vielleicht manchmal an Nachsicht und Geduld, um alle Teile der Gesellschaft im Diskurs mitzunehmen?
CVL: Man braucht auf jeden Fall ein Bewusstsein dafür, dass Menschen aus verschiedenen Kontexten kommen und mit den Einflüssen unterschiedlicher sozialer Umfelder aufgewachsen sind. Deshalb sollten alle nett und geduldig miteinander umgehen. Das heißt nicht, dass wir alles durchgehen lassen müssen. Aber manchmal muss man erkennen, dass es nichts bringt, auf 180 auf eine Person zuzugehen. Damit löst man womöglich aus, dass sie noch mehr in die Defensive geht, anstatt sich für Veränderungen zu öffnen. Dafür muss man ein Bewusstsein entwickeln – so wie in Jennis Geschichte mit der älteren Dame. Die Person war sich der Diskriminierung in dem Moment nicht bewusst, wurde aber dennoch auf eine Art und Weise darauf hingewiesen.
MZEE.com: Vorhin hast du am Beispiel Gendern auch schon von Trotzreaktionen gesprochen. Wie kann es noch gelingen, diese zu verhindern?
CVL: Es darf nicht alles immer so von oben herab und akademisch sein. Ich merke das, weil ich mich in sehr verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bewege. Man kann nicht von allen Leuten das Wissen erwarten, das man selbst aus anderen Bereichen oder Filterblasen hat.
Jenni_yo: Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. In meinem Beispiel mit der älteren Dame war es definitiv eher Unwissenheit und eine Art Naivität anstatt Trotz. Sie stammte aus einer anderen Generation und hatte vermutlich ganz wenig Kontakt mit nicht-weißen Menschen. Ein Unterschied wäre es, wenn wie in deinem Beispiel eine jüngere Person etwas fragt wie: "Darf man so etwas heute überhaupt noch sagen?" Diese Person weiß, dass sie Leute damit verletzen wird. Das ist ein ganz anderer Kontext. In solchen Fällen bin ich schon sehr direkt. Nicht aggressiv, aber ich sage: "Das geht gar nicht."
MZEE.com: Gerade die Gender-Debatte ist vermutlich der Teilbereich von Wokeness, der am emotionalsten aufgeladen ist. Was würdet ihr denn einem Menschen entgegnen, der sich weigert, genderneutrale Sprache zu verwenden, und behauptet, dass ihm eine Minderheit Vorschriften machen will, wie er sich zu verhalten hat?
Jenni_yo: Ich hatte eine ähnliche Situation schon mal und habe der Person gesagt, dass sie doch nicht zu entscheiden hat, wie jemand anderes angesprochen werden möchte. Natürlich sagt man Dinge manchmal falsch. Aber wenn man darauf hingewiesen wird, kann man seine Sprache doch korrigieren. Ich meine, was ist denn das große Problem daran? Musst du deinen Job aufgeben oder ein Darlehen aufnehmen, wenn du deine Sprache veränderst? Das ist die Ironie an der ganzen Sache. Menschen, die sagen, dass andere zu sensibel seien, schaffen es selbst nicht einmal, ihre Sprache auch nur minimal zu ändern.
CVL: Bei mir kam es auch schon vor, dass sich Menschen darüber lustig gemacht haben, wenn ich in meiner Sprache gegendert habe. Wenn das passiert, mache ich trotzdem einfach weiter und versuche, ein Zeichen zu setzen. Vielleicht bringt man andere so zum Nachdenken: "Okay, sie hat sich durch meinen frechen Spruch nicht irritieren lassen. Vielleicht könnte ich mein Verhalten doch mal überdenken."
MZEE.com: Vor Kurzem endete der Pride Month, in dem sich auch dieses Jahr wieder viele Unternehmen mit Regenbogen-Flaggen schmückten. Häufig kommt die Kritik auf, dass derartiges Engagement von Unternehmen nicht authentisch sei. Kann man differenzieren, was davon ehrlich ist und was nur Heuchelei und Marketing?
Jenni_yo: Das ist ein sehr kompliziertes und auch emotionales Thema. Wir müssen uns bewusst machen, dass manche Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung ermordet werden oder aufgrund von Diskriminierung Suizid begehen. Als nicht-betroffene Person finde ich es schwierig, zu dieser Thematik eine Aussage zu treffen oder sie zu bewerten.
CVL: Ich sehe das genauso. Davon abgesehen finde ich es wichtig, dass in Unternehmen Räume für diese Menschen geschaffen werden und über Profilbilder und Flaggen hinaus gegangen wird. Es braucht konkrete Initiativen. Wo können Menschen in der Firma Hilfe bekommen? Wo können sie sich informieren? Wie können sie unterstützt werden, wenn sie sich vor ihren Kolleg:innen outen wollen? Wenn ich mit Freund:innen spreche, bekomme ich mit, dass das die Ressourcen sind, die wichtig wären. Nur wenn Firmen derartige Räume und Gruppen zur Verfügung stellen, kann eine Entwicklung stattfinden, die auch auf andere Bereiche übergreift.
MZEE.com: Lasst uns zum Ende hin über Musik sprechen. Unser Thema Wokeness hat auch mit politischer Korrektheit zu tun. Mit dieser wird vor allem in Rap-Songs gerne mal gespielt und die ein oder andere Grenze verbal überschritten. Wie geht ihr damit bei eurer Arbeit als DJ um?
Jenni_yo: Darüber machen wir uns definitiv Gedanken. Das muss man grundsätzlich bei jedem Genre tun, aber gerade HipHop ist natürlich sehr auf die Fresse und aggressiv. Es ist ein direktes Genre. Als DJ unterhalte ich den Raum und will eine Energie erschaffen. Gleichzeitig soll sich aber niemand unwohl fühlen. (überlegt) Mit Kanye West habe ich beispielsweise seit seinen antisemitischen Aussagen so meine Probleme. Ich verurteile jedoch auch keine anderen DJs, die sagen: "Ich vertrete zwar nicht seine Meinung, aber betrachte seine Musik losgelöst davon und spiele sie weiter."
CVL: Wir reflektieren generell in der Gruppe viel über solche Dinge und tauschen uns dazu aus, um ein Bewusstsein für Täter:innen zu haben. Was mich beispielsweise gerade sehr beschäftigt, ist, dass Tory Lanez mit seinem neuen Track total viral auf TikTok gegangen ist. Der hat Megan Thee Stallion, eine Schwarze Frau, angeschossen und wurde auch dafür verurteilt. Zu diesem Vorfall haben sich viele Leute positioniert und sich als woke gegeben, aber jetzt spielen sie seinen Track trotzdem wieder. Das finde ich schade. Genau das sind die Themen, über die wir uns bei GG Vybe Gedanken machen. Am Ende entscheidet natürlich jede aus der Gruppe selbst, was sie für angemessen hält und auch, welchen Songtext sie in Ordnung findet.
Jenni_yo: Was man auch noch beachten muss: Wir reden über mehrere Jahrzehnte HipHop, in denen Artists Aussagen getroffen oder Fehler gemacht haben. Es spielt auch eine Rolle, inwiefern sich damit befasst wurde. Einige sind mit Dingen an die Öffentlichkeit gegangen oder haben sich für die Vergangenheit entschuldigt, was noch mal einen ganz anderen Kontext herstellt.
CVL: Genau, und auch hier geht es wieder um Lernbereitschaft und die Offenheit, sich Fehler einzugestehen und sie nicht zu wiederholen.
MZEE.com: Wenn es um Künstler:innen geht, die Fehler machen, dauert es meist nicht lang, bis man irgendwo von Cancel-Culture liest oder hört. Sieht man sich jedoch populäre deutsche Fälle an, so mussten diese zwar ein Karrieretief durchschreiten, stehen heute allerdings wieder auf der großen Bühne. Wie real bewertet ihr die Existenz von Cancel-Culture?
CVL: Wie beim Begriff Wokeness wird mit Cancel-Culture halt eine Sache ins Lächerliche gezogen, die eigentlich total wichtig ist und über die man reflektieren muss. Ich verstehe nicht, warum man überhaupt von "canceln" spricht und nicht erst mal davon, dass Leute für ihre Taten Verantwortung übernehmen. Warum heißt es nicht "Accountability-Culture"? Es wäre viel wichtiger zu sagen: "Okay, hier steht ein Vorwurf im Raum. Was genau ist da passiert? Was lernen wir davon? Wie können wir uns bessern und Strukturen schaffen, die Betroffene schützen?" Das wäre alles so viel wichtiger, aber stattdessen wird dieser Begriff in den Raum geworfen und gesagt: "Die wollen die Person eh nur canceln."
Jenni_yo: Gut gesagt. Damit sind wir wieder beim Thema Räume und Awareness schaffen. Es geht nicht darum, Leute fertig zu machen. Es werden immer neue Dinge aufkommen, die man erst lernen muss, auch bei uns selbst. Aber dieses Lernen braucht Offenheit des Gegenübers und Raum. Deshalb sieht man bei manchen Artists einen Wandel und bei manchen eher weniger. Cancel-Culture klingt da als Begriff schon sehr radikal.
CVL: Wichtig wäre einfach, jeden Fehler, der in der Öffentlichkeit passiert, als Lernmoment zu begreifen. Wir dürfen nicht einfach sagen: "Diese Person ist jetzt raus", sondern müssen alle daraus lernen.
Jenni_yo: Wenn man eine Person komplett rausnimmt und so tut, als würde sie nicht mehr existieren, erschafft man außerdem wieder eine Gruppe an Leuten, die sich dagegen wehren. Das schafft nur neue Aggressivität und kann nicht das sein, was wir alle wollen. Wir wollen doch alle eine Gemeinschaft bilden.
MZEE.com: Ich habe das Gefühl, dass erfreulicherweise immer mehr Acts aus der deutschen Rapszene Awareness-Teams bei ihren Touren im Einsatz haben und darauf achten wollen, dass die Konzerte für alle Menschen zu einem schönen Erlebnis werden. Nehmt ihr da auch eine positive Entwicklung wahr?
Jenni_yo: Ja. Allein wenn man die Lage heute mit vor fünf Jahren vergleicht, hat man das Gefühl, dass es da einen Wandel gibt. Der Begriff "Awareness" ist präsent und die Leute können etwas damit anfangen, vor allem die junge Generation, die in der Club-Kultur aktiv ist.
CVL: Ich glaube auch, dass immer mehr Besucher:innen einfordern oder vermitteln, dass so etwas benötigt wird. Erst durch diese Nachfrage stellen ja immer mehr Festivals Awareness-Teams auf. Vor allem in HipHop-Spaces, wo so etwas lange nicht gegeben war, merkt man, dass die Relevanz von Awareness steigt.
MZEE.com: HipHop steht ja eigentlich dafür, die "Schwächsten" der Gesellschaft zu inkludieren, aber sicher muss in diesem Bereich noch viel passieren – zum Beispiel, was Räume für weibliche oder queere Artists angeht. Wo seht ihr konkreten Verbesserungsbedarf?
Jenni_yo: Wenn ich an Festivals denke, stelle ich mir immer noch häufig die Fragen: Wie viele Frauen sind da gebucht? Wie viele queere Menschen? Wie viele People of Color? In diesen Bereichen ist definitiv noch Luft nach oben, auch wenn sich im Vergleich zu vor einigen Jahren hier ebenfalls schon etwas verändert hat. Als Frau steht man immer noch vor Strukturen, die von Männern besetzt sind, und in die man richtig reinboxen muss, um überhaupt Zugang zu bekommen. Da ist noch Raum zur Verbesserung, aber dafür müssten wir überhaupt erst mal eingeladen werden.
CVL: Ich verweise dazu immer gerne auf die Studie "FACTS" von "female:pressure", die aufführt, wie viele Frauen und Männer auf Festivals vertreten sind. (Anm. d. Red.: "female:pressure" ist ein internationales feministisches Netzwerk von Frauen, die in der elektronischen Musik und digitalen Kunst arbeiten.) In diesem Kuchendiagramm sieht man, dass die Anteile von Frauen und nicht-binären Personen immer noch klein beziehungsweise sehr klein sind. Bei großen HipHop-Festivals fällt mir außerdem auch heute noch auf, dass auf der Mainstage fast ausschließlich Typen stehen. Das ist auch besser geworden in den letzten Jahren, aber immer noch sehr auffällig.
MZEE.com: Können andere Bereiche der Gesellschaft etwas von Club- und Konzertkultur oder Musik lernen?
Jenni_yo: Ich glaube schon. Zum einen herrscht mehr Offenheit. Andere Bereiche der Gesellschaft sind festgefahrener. Zum anderen ist in dieser Kultur vor allem eine jüngere Generation unterwegs, von der man, was Awareness oder Sensibilität angeht, viel lernen kann. Die Leute reden offener über ihre Probleme oder mentale Gesundheit und sagen: "Ja, ich gehe regelmäßig zu einem Therapeuten." Bei älteren Generationen ist das noch nicht so transparent.
CVL: Perfekter Schlusssatz, da füge ich nichts mehr hinzu.
(Enrico Gerharth)
(Fotos von Lisa Schmelz)