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Interview

GG Vybe – ein Gespräch über Wokeness

"Wir begin­nen gera­de erst damit, über die­ses The­ma zu reden und in den Medi­en mehr Diver­si­tät reprä­sen­tiert zu sehen. Für die wei­ße Mehr­heits­ge­sell­schaft in Deutsch­land ist das ein Over­load." – GG Vybe im Inter­view über Grün­de, war­um die Debat­te um Woke­ness so emo­tio­nal geführt wird.

Trig­ger­war­nung: In Tei­len die­ses Inter­views geht es um Ras­sis­mus, Que­er­feind­lich­keit und Sui­zid. Falls Euch das trig­gert, soll­tet Ihr hier viel­leicht nicht weiterlesen.

GG Vybe gilt als ers­te weib­li­che DJ-​Crew Frank­furts. Ent­stan­den aus Musik­work­shops für Frau­en ist die­se seit 2018 zu einem Kol­lek­tiv von sie­ben DJs her­an­ge­wach­sen, das Par­tys nicht nur mit einer brei­ten Genre-​Mischung aus Hip­Hop, R'n'B und Tech­no ver­sorgt, son­dern auch gegen struk­tu­rel­le Pro­ble­me ankämpft, die sich in kul­tu­rel­len Sphä­ren auf­tun. CVL, Jara­ya, Jenni_​yo, Johan­na, Lathiv­ha, Miss Con­trol und Febi wol­len Raum für Frau­en in der männ­lich domi­nier­ten Club-​Szene schaf­fen und enga­gie­ren sich auch abseits ihres DJ-​Alltags, bei­spiels­wei­se durch die Orga­ni­sa­ti­on von Panels oder Dis­kus­si­ons­run­den über Rap und Ras­sis­mus. Zwei Mit­glie­der von GG Vybe – CVL und Jenni_​yo – nah­men sich die Zeit, um mit uns über ein The­ma zu spre­chen, das in der öffent­li­chen Debat­te in Deutsch­land der­zeit weit oben auf der Agen­da zu ste­hen scheint: Woke­ness. Der Begriff ent­stand in den 1930er-​Jahren in den USA und beschrieb ursprüng­lich ein erwach­tes Bewusst­sein für Ras­sis­mus und man­geln­de sozia­le Gerech­tig­keit. Im Lau­fe der Zeit erwei­ter­te sich die­se Bedeu­tung, wodurch Woke­ness heu­te grund­sätz­lich für poli­ti­sches Wach­sein und Enga­ge­ment gegen ras­sis­ti­sche, sexis­ti­sche und sozia­le Dis­kri­mi­nie­rung steht. Zwar möch­te man mei­nen, dass sich mit die­ser Idee grund­sätz­lich jede:r anfreun­den kön­nen müss­te, doch scheint es zuneh­mend Stim­men zu geben, die unter Woke­ness etwas ande­res ver­ste­hen. Bei­na­he an jeder Ecke liest man Kom­men­ta­re dazu, wäh­rend­des­sen sagt die CSU der Woke­ness den Kampf an und der baye­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Mar­kus Söder teilt über Insta­gram mit: "Wir leh­nen Woke­ness […] ab." In der öffent­li­chen Debat­te zum The­ma wird zudem mit einer Viel­zahl wei­te­rer Begrif­fe um sich gewor­fen. Des­halb spra­chen wir im Inter­view mit CVL und Jenni_​yo unter ande­rem auch über Gen­dern, Cancel-​Culture und die "Gene­ra­ti­on Snowflake".

MZEE​.com: Unser heu­ti­ges Gesprächs­the­ma Woke­ness ist zu einem wahr­haf­ti­gen Kampf­be­griff in Medi­en und Poli­tik gewor­den. Dabei ist an der ursprüng­li­chen Idee dahin­ter doch kaum etwas aus­zu­set­zen. Könnt ihr euch erklä­ren, war­um vie­le Men­schen bei dem The­ma so emo­tio­nal werden?

Jenni_​yo: Ich glau­be, man­che Leu­te haben eine gewis­se Angst vor Woke­ness. Neh­men wir als Bei­spiel mal die "Black Lives Matter"-Bewegung. Seit Tray­von Mar­tins Tod (Anm. d. Red.: Tray­von Mar­tin wur­de 2012 im Alter von 17 Jah­ren in Flo­ri­da von Geor­ge Zim­mer­mann erschos­sen, was in den USA eine lan­des­wei­te Ras­sis­mus­dis­kus­si­on aus­lös­te.) hat die­ses The­ma eine enor­me Auf­merk­sam­keit in den Medi­en. Es ist ein sen­si­bles The­ma. Vie­le Men­schen sind davon per­sön­lich betrof­fen, ande­re wie­der­um haben eine kras­se Unwis­sen­heit. Des­halb sind bei die­sen The­men auto­ma­tisch Emo­tio­nen involviert.

CVL: Es kommt auch sehr dar­auf an, wie man das Wort "Woke­ness" benutzt. Es ist etwas ande­res, es als Begriff zu sehen und eine Theo­rie dazu zu lesen, als es sich selbst anzu­eig­nen und sich damit zu insze­nie­ren. Letz­te­res fin­de ich ein biss­chen schwierig.

Jenni_​yo: Da stim­me ich voll­kom­men zu. Das ist schwie­rig, eben weil noch so viel Unwis­sen­heit herrscht. Wir begin­nen gera­de erst damit, über die­ses The­ma zu reden und bei­spiels­wei­se in den Medi­en mehr Diver­si­tät reprä­sen­tiert zu sehen. Ich glau­be, für die wei­ße Mehr­heits­ge­sell­schaft, in der wir uns in Deutsch­land befin­den, ist das ein Over­load. Dann heißt es: "Oh, ich habe Gefüh­le ver­letzt, ich tre­te ande­ren auf die Füße." Teil­wei­se geschieht das noch unbewusst.

MZEE​.com: Ihr sagt, man muss zwi­schen Woke­ness als Begriff und als Selbst­zu­schrei­bung dif­fe­ren­zie­ren. Per Defi­ni­ti­on bedeu­tet es: "Star­ke (auch über­trie­be­ne) Auf­merk­sam­keit betref­fend Dis­kri­mi­nie­rung und ent­spre­chen­der poli­ti­scher Ein­satz." Was heißt "woke" sein denn für euch? Ist es grund­sätz­lich posi­tiv oder nega­tiv konnotiert?

Jenni_​yo: Das Prin­zip hin­ter Woke­ness ist natür­lich etwas Posi­ti­ves. Es wird halt als Begriff total über­stra­pa­ziert. Vie­le Leu­te sehen sich als woke und bezie­hen das auf ganz unter­schied­li­che The­men. Für mich geht es vor allem dar­um, ob man aktiv ist. Ich kann nicht ein­fach raus­ge­hen und sagen: "Ich bin woke." Das ist kei­ne pas­si­ve Sache. Es soll­te pri­mär eine Rol­le spie­len, wie aktiv man ist im Kampf gegen Ras­sis­mus, gegen Sexis­mus, Dis­kri­mi­nie­rung oder Unter­drü­ckung. Oder auch nur gegen­über eige­nen Fami­li­en­mit­glie­dern, die ras­sis­ti­sche Kom­men­ta­re machen.

CVL: Das sehe ich genau­so. Ein so gro­ßer Begriff mit so viel Kom­ple­xi­tät kann kei­ne Selbst­be­schrei­bung sein. Man muss ihn durch sei­ne Hand­lun­gen ausleben.

MZEE​.com: Press­luft­han­na sag­te vor Kur­zem in einem Inter­view mit uns, Woke­ness wer­de von kon­ser­va­ti­ven und rech­ten Politiker:innen zu einer gesell­schaft­li­chen Gefahr hoch­sti­li­siert, ohne wirk­lich eine zu sein. Meinst du das, wenn du sagst, der Begriff sei über­stra­pa­ziert, Jenni?

Jenni_​yo: Voll. Ich habe das Gefühl, dass eini­ge Leu­te unter ande­rem Angst davor haben, dass bestimm­te Din­ge aus der Ver­gan­gen­heit raus­kom­men. Das ist schließ­lich bei Politiker:innen oder auch bei Artists bereits der Fall gewe­sen. Wenn man Angst hat, ent­wi­ckelt man schnell sol­che defen­si­ven Ver­hal­tens­mus­ter. Die­se Leu­te spie­len dann mit dem Begriff und wer­ten ihn ab, damit er nicht ernst genom­men wird.

CVL: Oder zie­hen es sogar ins Lächer­li­che. Dann wird sich bei­spiels­wei­se über Gen­dern lus­tig gemacht. So wer­den Trotz­re­ak­tio­nen gefördert.

MZEE​.com: Ich habe das Gefühl, dass vie­les davon beson­ders zwi­schen Gene­ra­tio­nen für Rei­bung sorgt. Man­che spre­chen über jun­ge Men­schen als die "Gene­ra­ti­on Snow­fla­ke", die zu sen­si­bel und ver­weich­licht sei. Kann es zu viel von etwas wie Sen­si­bi­li­tät geben?

Jenni_​yo: Das ist genau der Punkt und gleich­zei­tig eine gute Fra­ge. (über­legt) Wir sind in Deutsch­land mitt­ler­wei­le in der drit­ten oder vier­ten Gene­ra­ti­on der Nach­kriegs­zeit. Über vie­le Pro­ble­me wur­de lan­ge Zeit nicht gespro­chen und es wur­de sich kom­plett pas­siv ver­hal­ten. Die­ses Ver­hal­ten haben sich die Men­schen ange­wöhnt und wei­ter­ver­erbt. Wie gehe ich mit Emo­tio­nen um? Wie gehe ich mit Dis­kri­mi­nie­rung um? Wie mit Ver­letz­bar­keit? Sol­che Fra­gen wur­den lan­ge weg­ge­scho­ben. Ich glau­be, jetzt haben wir eine Gene­ra­ti­on, die end­lich dar­aus aus­bricht. Eine Gene­ra­ti­on, die sagt: "Wir reden jetzt mal dar­über, dass ich mich ver­letzt füh­le. Oder dar­über, dass etwas dis­kri­mi­nie­rend ist." Frü­her wur­de das total igno­riert. Wir waren in Deutsch­land lan­ge sehr pas­siv, weil wir grund­sätz­lich eine eher reser­vier­te Gesell­schaft sind und Emo­tio­nen nicht viel Raum geben. Ich den­ke, das ändert sich lang­sam, weil wir mul­ti­kul­tu­rell wer­den und mit der Zeit gehen. Hier leben immer mehr unter­schied­li­che Kul­tu­ren zusam­men, da gibt es nun mal Kon­flik­te. Wir könn­ten die­se wei­ter tot­schwei­gen, aber was pas­siert, wenn geschwie­gen wird, haben wir in die­sem Land schon ein­mal gese­hen. Es ist unse­re Ver­ant­wor­tung, jetzt aktiv dafür zu sor­gen, dass so etwas nicht mehr geschieht. Da wären wir wie­der bei unse­rem Anfangs­the­ma: näm­lich, dass Woke­ness nicht pas­siv gelebt wer­den kann.

CVL: Des­halb ist es voll wich­tig, emp­find­lich zu sein und ein Bewusst­sein für vie­le The­men zu haben. Die­sen "Gene­ra­ti­on Snowflake"-Vorwurf fin­de ich absurd. Es ist doch umso bes­ser, je empa­thi­scher man ist, und je mehr man ver­sucht, Ver­ständ­nis für­ein­an­der auf­zu­brin­gen. Genau aus sol­chen Gefüh­len her­aus ent­steht Bewe­gung und man schafft es, über Chat­grup­pen im Inter­net hin­aus­zu­ge­hen und wirk­lich aktiv zu werden.

MZEE​.com: Inwie­fern hän­gen Sen­si­bi­li­tät und Empa­thie für dich zusammen?

CVL: Ich fin­de, es wird oft zu Men­schen gesagt, die ein­fach nur ver­su­chen, empa­thisch zu sein, sie sei­en zu sen­si­bel. Das wird in unse­rer Leis­tungs­ge­sell­schaft häu­fig als Schwä­che gese­hen. Ich glau­be, das hängt auch mit dem The­ma "Gene­ra­tio­nen" zusam­men. Älte­re Tei­le der Gesell­schaft haben ein ande­res Ver­ständ­nis davon, was es heißt, Schwä­che oder Emo­tio­nen zu zeigen.

Jenni_​yo: Der Punkt mit der Empa­thie ist super­wich­tig, denn genau das ist es, was gera­de statt­fin­det: Ich lege mei­ne eige­nen Bedürf­nis­se mal zur Sei­te und höre ande­ren zu, wie sie sich füh­len. Emp­fin­den sie etwas viel­leicht als dis­kri­mi­nie­rend? Was habe ich falsch gemacht? Neh­me ich das selbst über­haupt wahr? Das alles ist ein Lern­pro­zess. Kei­ner von uns ist per­fekt, auch ich selbst nicht. Aber ich möch­te unbe­dingt, dass mich Freund:innen und mein Umwelt auf Feh­ler hinweisen.

MZEE​.com: Eng mit unse­rem The­ma ver­knüpft ist eine Dis­kus­si­on um Mei­nungs­frei­heit und Begrif­fe wie "Cancel-​Culture". Jede:r kennt Sprü­che wie: "Darf man das heut­zu­ta­ge über­haupt noch sagen?" Ist das schlicht­weg igno­rant oder ste­cken dar­in auch ernst­zu­neh­men­de Unsi­cher­hei­ten, die mit dem Lern­pro­zess zusam­men­hän­gen, den du erwähnt hast?

Jenni_​yo: Meinst du damit die­se Momen­te, in denen man merkt, dass eine Dis­kri­mi­nie­rung statt­fin­det, aber nicht weiß, ob es bewusst oder unbe­wusst geschieht?

MZEE​.com: Ich mei­ne bei­spiels­wei­se Momen­te, in denen im Fami­li­en­kreis oder am Ess­tisch etwas gesagt wird und es dann heißt: "Hopp­la, das hät­te ich heut­zu­ta­ge gar nicht mehr so sagen dür­fen." Eigent­lich zeigt das doch, dass es die Per­son schon bes­ser weiß. Macht sie es den­noch, weil sie weiß, dass ihr kei­ne Kon­se­quen­zen drohen?

Jenni_​yo: Ja, des­halb fin­de ich es grund­sätz­lich wich­tig, dass man in die­sen Situa­tio­nen trans­pa­rent ist. Sonst ändert sich das Pro­blem nicht. Natür­lich hat man sei­ne eige­ne Kom­fort­zo­ne und ist manch­mal müde davon, sein Gegen­über in sol­chen Momen­ten auf etwas hin­wei­sen zu müs­sen. Es macht ja auch etwas mit einem selbst, wenn man sei­ne emo­tio­na­le Situa­ti­on stän­dig neu erklä­ren muss. Den­noch hal­te ich es für wich­tig, dass auch wir in sol­chen Kon­fron­ta­tio­nen ab und zu ein wenig her­un­ter­schrau­ben und die Leu­te ler­nen las­sen. Das ist unan­ge­nehm, aber Wachs­tum ist immer unan­ge­nehm. Ich hat­te mal so eine Situa­ti­on mit einer älte­ren Dame. Sie war über 80 und hat in einem Gespräch mit mir das Wort "M*hrenkopf" benutzt. Bei einem Men­schen in die­sem Alter las­se ich sowas manch­mal ste­hen, weil der Hin­ter­grund ein ganz ande­rer ist. Am nächs­ten Tag hat sie sich bei mir ent­schul­digt und gesagt, es sei ihr total unan­ge­nehm. Sie hat­te eine Doku über Dis­kri­mi­nie­rung gese­hen und sich dann dar­an erin­nert, was sie gesagt hat­te. Das fand ich rich­tig nett und dach­te mir, dass man viel­leicht doch immer etwas sagen soll­te. Obvious­ly it works.

MZEE​.com: Die que­e­re Jour­na­lis­tin und Autorin Lau­rie Pen­ny schrieb im Arti­kel "Unse­re neue Macht" in der ZEIT: "Die meis­ten Men­schen, die Angst vor der Woke­ness haben, füh­len sich oft nur mit dem Tem­po der Ver­än­de­run­gen ein wenig unwohl, was in Ord­nung ist, denn Ver­än­de­run­gen sind sel­ten ange­nehm – oder sie haben Angst, dass sie einen Feh­ler machen und jemand sie anschreit." – Fehlt es viel­leicht manch­mal an Nach­sicht und Geduld, um alle Tei­le der Gesell­schaft im Dis­kurs mitzunehmen?

CVL: Man braucht auf jeden Fall ein Bewusst­sein dafür, dass Men­schen aus ver­schie­de­nen Kon­tex­ten kom­men und mit den Ein­flüs­sen unter­schied­li­cher sozia­ler Umfel­der auf­ge­wach­sen sind. Des­halb soll­ten alle nett und gedul­dig mit­ein­an­der umge­hen. Das heißt nicht, dass wir alles durch­ge­hen las­sen müs­sen. Aber manch­mal muss man erken­nen, dass es nichts bringt, auf 180 auf eine Per­son zuzu­ge­hen. Damit löst man womög­lich aus, dass sie noch mehr in die Defen­si­ve geht, anstatt sich für Ver­än­de­run­gen zu öff­nen. Dafür muss man ein Bewusst­sein ent­wi­ckeln – so wie in Jen­nis Geschich­te mit der älte­ren Dame. Die Per­son war sich der Dis­kri­mi­nie­rung in dem Moment nicht bewusst, wur­de aber den­noch auf eine Art und Wei­se dar­auf hingewiesen.

MZEE​.com: Vor­hin hast du am Bei­spiel Gen­dern auch schon von Trotz­re­ak­tio­nen gespro­chen. Wie kann es noch gelin­gen, die­se zu verhindern?

CVL: Es darf nicht alles immer so von oben her­ab und aka­de­misch sein. Ich mer­ke das, weil ich mich in sehr ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Berei­chen bewe­ge. Man kann nicht von allen Leu­ten das Wis­sen erwar­ten, das man selbst aus ande­ren Berei­chen oder Fil­ter­bla­sen hat.

Jenni_​yo: Man kann Feu­er nicht mit Feu­er bekämp­fen. In mei­nem Bei­spiel mit der älte­ren Dame war es defi­ni­tiv eher Unwis­sen­heit und eine Art Nai­vi­tät anstatt Trotz. Sie stamm­te aus einer ande­ren Gene­ra­ti­on und hat­te ver­mut­lich ganz wenig Kon­takt mit nicht-​weißen Men­schen. Ein Unter­schied wäre es, wenn wie in dei­nem Bei­spiel eine jün­ge­re Per­son etwas fragt wie: "Darf man so etwas heu­te über­haupt noch sagen?" Die­se Per­son weiß, dass sie Leu­te damit ver­let­zen wird. Das ist ein ganz ande­rer Kon­text. In sol­chen Fäl­len bin ich schon sehr direkt. Nicht aggres­siv, aber ich sage: "Das geht gar nicht."

MZEE​.com: Gera­de die Gender-​Debatte ist ver­mut­lich der Teil­be­reich von Woke­ness, der am emo­tio­nals­ten auf­ge­la­den ist. Was wür­det ihr denn einem Men­schen ent­geg­nen, der sich wei­gert, gen­der­neu­tra­le Spra­che zu ver­wen­den, und behaup­tet, dass ihm eine Min­der­heit Vor­schrif­ten machen will, wie er sich zu ver­hal­ten hat?

Jenni_​yo: Ich hat­te eine ähn­li­che Situa­ti­on schon mal und habe der Per­son gesagt, dass sie doch nicht zu ent­schei­den hat, wie jemand ande­res ange­spro­chen wer­den möch­te. Natür­lich sagt man Din­ge manch­mal falsch. Aber wenn man dar­auf hin­ge­wie­sen wird, kann man sei­ne Spra­che doch kor­ri­gie­ren. Ich mei­ne, was ist denn das gro­ße Pro­blem dar­an? Musst du dei­nen Job auf­ge­ben oder ein Dar­le­hen auf­neh­men, wenn du dei­ne Spra­che ver­än­derst? Das ist die Iro­nie an der gan­zen Sache. Men­schen, die sagen, dass ande­re zu sen­si­bel sei­en, schaf­fen es selbst nicht ein­mal, ihre Spra­che auch nur mini­mal zu ändern.

CVL: Bei mir kam es auch schon vor, dass sich Men­schen dar­über lus­tig gemacht haben, wenn ich in mei­ner Spra­che gegen­dert habe. Wenn das pas­siert, mache ich trotz­dem ein­fach wei­ter und ver­su­che, ein Zei­chen zu set­zen. Viel­leicht bringt man ande­re so zum Nach­den­ken: "Okay, sie hat sich durch mei­nen fre­chen Spruch nicht irri­tie­ren las­sen. Viel­leicht könn­te ich mein Ver­hal­ten doch mal überdenken."

MZEE​.com: Vor Kur­zem ende­te der Pri­de Month, in dem sich auch die­ses Jahr wie­der vie­le Unter­neh­men mit Regenbogen-​Flaggen schmück­ten. Häu­fig kommt die Kri­tik auf, dass der­ar­ti­ges Enga­ge­ment von Unter­neh­men nicht authen­tisch sei. Kann man dif­fe­ren­zie­ren, was davon ehr­lich ist und was nur Heu­che­lei und Marketing?

Jenni_​yo: Das ist ein sehr kom­pli­zier­tes und auch emo­tio­na­les The­ma. Wir müs­sen uns bewusst machen, dass man­che Men­schen wegen ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung ermor­det wer­den oder auf­grund von Dis­kri­mi­nie­rung Sui­zid bege­hen. Als nicht-​betroffene Per­son fin­de ich es schwie­rig, zu die­ser The­ma­tik eine Aus­sa­ge zu tref­fen oder sie zu bewerten.

CVL: Ich sehe das genau­so. Davon abge­se­hen fin­de ich es wich­tig, dass in Unter­neh­men Räu­me für die­se Men­schen geschaf­fen wer­den und über Pro­fil­bil­der und Flag­gen hin­aus gegan­gen wird. Es braucht kon­kre­te Initia­ti­ven. Wo kön­nen Men­schen in der Fir­ma Hil­fe bekom­men? Wo kön­nen sie sich infor­mie­ren? Wie kön­nen sie unter­stützt wer­den, wenn sie sich vor ihren Kolleg:innen outen wol­len? Wenn ich mit Freund:innen spre­che, bekom­me ich mit, dass das die Res­sour­cen sind, die wich­tig wären. Nur wenn Fir­men der­ar­ti­ge Räu­me und Grup­pen zur Ver­fü­gung stel­len, kann eine Ent­wick­lung statt­fin­den, die auch auf ande­re Berei­che übergreift.

MZEE​.com: Lasst uns zum Ende hin über Musik spre­chen. Unser The­ma Woke­ness hat auch mit poli­ti­scher Kor­rekt­heit zu tun. Mit die­ser wird vor allem in Rap-​Songs ger­ne mal gespielt und die ein oder ande­re Gren­ze ver­bal über­schrit­ten. Wie geht ihr damit bei eurer Arbeit als DJ um?

Jenni_​yo: Dar­über machen wir uns defi­ni­tiv Gedan­ken. Das muss man grund­sätz­lich bei jedem Gen­re tun, aber gera­de Hip­Hop ist natür­lich sehr auf die Fres­se und aggres­siv. Es ist ein direk­tes Gen­re. Als DJ unter­hal­te ich den Raum und will eine Ener­gie erschaf­fen. Gleich­zei­tig soll sich aber nie­mand unwohl füh­len. (über­legt) Mit Kanye West habe ich bei­spiels­wei­se seit sei­nen anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen so mei­ne Pro­ble­me. Ich ver­ur­tei­le jedoch auch kei­ne ande­ren DJs, die sagen: "Ich ver­tre­te zwar nicht sei­ne Mei­nung, aber betrach­te sei­ne Musik los­ge­löst davon und spie­le sie weiter."

CVL: Wir reflek­tie­ren gene­rell in der Grup­pe viel über sol­che Din­ge und tau­schen uns dazu aus, um ein Bewusst­sein für Täter:innen zu haben. Was mich bei­spiels­wei­se gera­de sehr beschäf­tigt, ist, dass Tory Lanez mit sei­nem neu­en Track total viral auf Tik­Tok gegan­gen ist. Der hat Megan Thee Stal­li­on, eine Schwar­ze Frau, ange­schos­sen und wur­de auch dafür ver­ur­teilt. Zu die­sem Vor­fall haben sich vie­le Leu­te posi­tio­niert und sich als woke gege­ben, aber jetzt spie­len sie sei­nen Track trotz­dem wie­der. Das fin­de ich scha­de. Genau das sind die The­men, über die wir uns bei GG Vybe Gedan­ken machen. Am Ende ent­schei­det natür­lich jede aus der Grup­pe selbst, was sie für ange­mes­sen hält und auch, wel­chen Song­text sie in Ord­nung findet.

Jenni_​yo: Was man auch noch beach­ten muss: Wir reden über meh­re­re Jahr­zehn­te Hip­Hop, in denen Artists Aus­sa­gen getrof­fen oder Feh­ler gemacht haben. Es spielt auch eine Rol­le, inwie­fern sich damit befasst wur­de. Eini­ge sind mit Din­gen an die Öffent­lich­keit gegan­gen oder haben sich für die Ver­gan­gen­heit ent­schul­digt, was noch mal einen ganz ande­ren Kon­text herstellt.

CVL: Genau, und auch hier geht es wie­der um Lern­be­reit­schaft und die Offen­heit, sich Feh­ler ein­zu­ge­ste­hen und sie nicht zu wiederholen.

MZEE​.com: Wenn es um Künstler:innen geht, die Feh­ler machen, dau­ert es meist nicht lang, bis man irgend­wo von Cancel-​Culture liest oder hört. Sieht man sich jedoch popu­lä­re deut­sche Fäl­le an, so muss­ten die­se zwar ein Kar­rie­re­tief durch­schrei­ten, ste­hen heu­te aller­dings wie­der auf der gro­ßen Büh­ne. Wie real bewer­tet ihr die Exis­tenz von Cancel-Culture?

CVL: Wie beim Begriff Woke­ness wird mit Cancel-​Culture halt eine Sache ins Lächer­li­che gezo­gen, die eigent­lich total wich­tig ist und über die man reflek­tie­ren muss. Ich ver­ste­he nicht, war­um man über­haupt von "can­celn" spricht und nicht erst mal davon, dass Leu­te für ihre Taten Ver­ant­wor­tung über­neh­men. War­um heißt es nicht "Accountability-​Culture"? Es wäre viel wich­ti­ger zu sagen: "Okay, hier steht ein Vor­wurf im Raum. Was genau ist da pas­siert? Was ler­nen wir davon? Wie kön­nen wir uns bes­sern und Struk­tu­ren schaf­fen, die Betrof­fe­ne schüt­zen?" Das wäre alles so viel wich­ti­ger, aber statt­des­sen wird die­ser Begriff in den Raum gewor­fen und gesagt: "Die wol­len die Per­son eh nur canceln."

Jenni_​yo: Gut gesagt. Damit sind wir wie­der beim The­ma Räu­me und Awa­re­ness schaf­fen. Es geht nicht dar­um, Leu­te fer­tig zu machen. Es wer­den immer neue Din­ge auf­kom­men, die man erst ler­nen muss, auch bei uns selbst. Aber die­ses Ler­nen braucht Offen­heit des Gegen­übers und Raum. Des­halb sieht man bei man­chen Artists einen Wan­del und bei man­chen eher weni­ger. Cancel-​Culture klingt da als Begriff schon sehr radikal.

CVL: Wich­tig wäre ein­fach, jeden Feh­ler, der in der Öffent­lich­keit pas­siert, als Lern­mo­ment zu begrei­fen. Wir dür­fen nicht ein­fach sagen: "Die­se Per­son ist jetzt raus", son­dern müs­sen alle dar­aus lernen.

Jenni_​yo: Wenn man eine Per­son kom­plett raus­nimmt und so tut, als wür­de sie nicht mehr exis­tie­ren, erschafft man außer­dem wie­der eine Grup­pe an Leu­ten, die sich dage­gen weh­ren. Das schafft nur neue Aggres­si­vi­tät und kann nicht das sein, was wir alle wol­len. Wir wol­len doch alle eine Gemein­schaft bilden.

MZEE​.com: Ich habe das Gefühl, dass erfreu­li­cher­wei­se immer mehr Acts aus der deut­schen Rap­sze­ne Awareness-​Teams bei ihren Tou­ren im Ein­satz haben und dar­auf ach­ten wol­len, dass die Kon­zer­te für alle Men­schen zu einem schö­nen Erleb­nis wer­den. Nehmt ihr da auch eine posi­ti­ve Ent­wick­lung wahr?

Jenni_​yo: Ja. Allein wenn man die Lage heu­te mit vor fünf Jah­ren ver­gleicht, hat man das Gefühl, dass es da einen Wan­del gibt. Der Begriff "Awa­re­ness" ist prä­sent und die Leu­te kön­nen etwas damit anfan­gen, vor allem die jun­ge Gene­ra­ti­on, die in der Club-​Kultur aktiv ist.

CVL: Ich glau­be auch, dass immer mehr Besucher:innen ein­for­dern oder ver­mit­teln, dass so etwas benö­tigt wird. Erst durch die­se Nach­fra­ge stel­len ja immer mehr Fes­ti­vals Awareness-​Teams auf. Vor allem in HipHop-​Spaces, wo so etwas lan­ge nicht gege­ben war, merkt man, dass die Rele­vanz von Awa­re­ness steigt.

MZEE​.com: Hip­Hop steht ja eigent­lich dafür, die "Schwächs­ten" der Gesell­schaft zu inklu­die­ren, aber sicher muss in die­sem Bereich noch viel pas­sie­ren – zum Bei­spiel, was Räu­me für weib­li­che oder que­e­re Artists angeht. Wo seht ihr kon­kre­ten Verbesserungsbedarf?

Jenni_​yo: Wenn ich an Fes­ti­vals den­ke, stel­le ich mir immer noch häu­fig die Fra­gen: Wie vie­le Frau­en sind da gebucht? Wie vie­le que­e­re Men­schen? Wie vie­le Peo­p­le of Color? In die­sen Berei­chen ist defi­ni­tiv noch Luft nach oben, auch wenn sich im Ver­gleich zu vor eini­gen Jah­ren hier eben­falls schon etwas ver­än­dert hat. Als Frau steht man immer noch vor Struk­tu­ren, die von Män­nern besetzt sind, und in die man rich­tig rein­bo­xen muss, um über­haupt Zugang zu bekom­men. Da ist noch Raum zur Ver­bes­se­rung, aber dafür müss­ten wir über­haupt erst mal ein­ge­la­den werden.

CVL: Ich ver­wei­se dazu immer ger­ne auf die Stu­die "FACTS" von "female:pressure", die auf­führt, wie vie­le Frau­en und Män­ner auf Fes­ti­vals ver­tre­ten sind. (Anm. d. Red.: "female:pressure" ist ein inter­na­tio­na­les femi­nis­ti­sches Netz­werk von Frau­en, die in der elek­tro­ni­schen Musik und digi­ta­len Kunst arbei­ten.) In die­sem Kuchen­dia­gramm sieht man, dass die Antei­le von Frau­en und nicht-​binären Per­so­nen immer noch klein bezie­hungs­wei­se sehr klein sind. Bei gro­ßen HipHop-​Festivals fällt mir außer­dem auch heu­te noch auf, dass auf der Mains­ta­ge fast aus­schließ­lich Typen ste­hen. Das ist auch bes­ser gewor­den in den letz­ten Jah­ren, aber immer noch sehr auffällig.

MZEE​.com: Kön­nen ande­re Berei­che der Gesell­schaft etwas von Club- und Kon­zert­kul­tur oder Musik lernen?

Jenni_​yo: Ich glau­be schon. Zum einen herrscht mehr Offen­heit. Ande­re Berei­che der Gesell­schaft sind fest­ge­fah­re­ner. Zum ande­ren ist in die­ser Kul­tur vor allem eine jün­ge­re Gene­ra­ti­on unter­wegs, von der man, was Awa­re­ness oder Sen­si­bi­li­tät angeht, viel ler­nen kann. Die Leu­te reden offe­ner über ihre Pro­ble­me oder men­ta­le Gesund­heit und sagen: "Ja, ich gehe regel­mä­ßig zu einem The­ra­peu­ten." Bei älte­ren Gene­ra­tio­nen ist das noch nicht so transparent.

CVL: Per­fek­ter Schluss­satz, da füge ich nichts mehr hinzu.

(Enri­co Gerharth)
(Fotos von Lisa Schmelz)