Am 23. Februar 2023 wurde der einst erfolgreiche Filmproduzent Harvey Weinstein aufgrund mehrerer Vergewaltigungen und schwerer sexueller Nötigung zu 39 Jahren Haft verurteilt. Das war der vorläufige Höhepunkt eines bereits sechs Jahre dauernden Prozesses: 2017 beschlossen einige mutige Frauen, der New York Times von ihren persönlichsten Erfahrungen mit dem Straftäter zu erzählen. Seitdem haben sich viele weitere Opfer sexualisierter Gewalt der #MeToo-Bewegung angeschlossen, die durch die Anklage gegen den Medienmogul den Mut geschöpft haben, ihre eigenen Geschichten mit Männern, die ihre Machtposition ausnutzen, zu erzählen. Sie bekämpfen damit ein System, welches Männern wie Weinstein bis dato Schutz geboten hat. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Vorwürfe von Machtmissbrauch im Showbusiness. Ein mutmaßlicher Fall wurde gerade öffentlich, als wir dieses Interview vorbereiteten – es ist jedoch nur einer von vielen, in denen Künstler übergriffig gewesen sein sollen.
MZEE.com: Wir wollen heute über Machtmissbrauch in der Musikindustrie sprechen. Vielleicht hilft es vorab, etwas mehr über dich zu erfahren ‒ stell dich doch kurz vor.
TAM: Ich heiße Tamara Güçlü, bin 33 Jahre alt und seit fast zehn Jahren Musikjournalistin. Meine Karriere habe ich zunächst in Stuttgart durch erste redaktionelle Praktika bei lokalen Stadtmagazinen begonnen und danach beim Musikexpress, also an der Axel-Springer-Akademie, 2014. (Anm. d. Red.: Der "Musikexpress" erscheint seit 2010 im Axel-Springer-Verlag, Redakteur:innen sind also bei der Axel Springer SE beschäftigt) Später hatte ich meine eigene Radio-Sendung bei "BOOM.FM" und durfte von 2018 bis 2019 bei Red Bull als Artist Managerin große Shows wie den "Soundclash" betreuen. Nach dieser Zeit habe ich gemerkt, dass es körperlich nicht mehr weiterging und musste ein Jahr Auszeit nehmen. Zurückgekommen bin ich mit dem Podcast "PULS Musikanalyse", den ich gemeinsam mit Fridl Achten von 2020 bis 2022 moderieren durfte. Die Musikindustrie – ob vor oder hinter den Kulissen – habe ich nach meinem körperlichen Break aber nie wieder verlassen. Ich bin inzwischen als A&R-Consultant und Moderatorin tätig, Teil der Jury von "Initiative Musik" und als TAM mittlerweile auch selbst als Künstlerin unterwegs. Dit bin ick, hallo!
MZEE.com: Du hast also als klassische Journalistin gestartet und erst einige Jahre später kam die Arbeit vor dem Mikrofon statt hinter den Kulissen dazu.
TAM: Genau. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Menschen in verschiedenen Branchen erst einmal einen Traum haben und sich über solche Schritte rantasten. Ich wollte immer mit Medien und Musik arbeiten und habe gemerkt, dass ich gut schreiben und labern kann. Deshalb lag mein Fokus zuerst auch genau darauf. Erst durch meine Arbeit bei Red Bull hing ich viel mehr in Studios ab und habe damit eine neue Schwelle überschritten. Ich war bei Prozessen und Produktionen von Künstler:innen viel näher dran und habe immer deutlicher gemerkt, dass ich dabei in der falschen Rolle tätig bin. Ich wollte immer wieder Textvorschläge einbringen oder kreativen Input zur Mucke selbst geben, habe den Künstler:innen in Wirklichkeit aber vor allem Drinks zur Verfügung gestellt oder erklärt, wie sie an Weed kommen. (grinst) Das kann ganz nett sein, verfehlt aber das Thema, wenn man eigentlich an der Musik selbst interessiert ist. Der Gedanke, deshalb selbst Musik zu machen, ist immer weiter gereift und in der Pandemie kam meine Freundin Josi Miller auf mich zu und hat gefragt, ob wir nicht einen gemeinsamen Song machen wollen. Da hatte man bekanntlich ja sowieso ganz gut Zeit. (lacht) So ging das alles los. Selbst zu schreiben, mit coolen Leuten connecten, selbst mitspielen, statt am Spielfeldrand zu stehen: Das war und ist eine wichtige und schöne Erfahrung.
MZEE.com: Du sprichst im "Deine Homegirls"-Podcast auch genau von der eben genannten "Manager-Rolle" und dass die Arbeit in der Musikindustrie teils undankbar sein kann. Was genau meinst du damit und wie schützt du dich in solchen Momenten?
TAM: Ich glaube, was ich damit meinte, hat mehrere Ebenen: natürlich die professionelle, aber allen voran die persönliche Seite. Ich hatte das Gefühl – vielleicht auch der Unerfahrenheit als Marketing- oder A&R-Person geschuldet –, dass Egos und Meinungen meine eigene Person und mein Selbstbild stark beeinflussten. Ich kannte auch diese "Money"-Seite des Business' noch nicht besonders gut, bis dato hatte ich die nur gestreift. Der Job und die Unternehmen sind recht ego- wie umsatzgetrieben und kompetitiv. Man soll sich ständig beweisen und der Erwartungshaltung gerecht werden. Zusätzlich wurde HipHop in meiner Anfangszeit auch immer mehr zum Schwerpunkt der Firma. Dadurch arbeitete man mit Künstlern, die … (überlegt) Anders: Es zeigte sich immer wieder, dass Texte von Künstlern oftmals stellvertretend für das stehen, was sie auch sind. Die Menschen, mit denen ich dadurch arbeitete, lösten in mir immer wieder Unsicherheiten und Ängste aus. Ängste davor, dass man doch keine Ahnung hat und die eigene Meinung weniger wert ist. Davor, dass mein Wissen über die Musik weniger wichtig ist als der Faktor, dass ich einem Großkonzern Geld in die Kasse spiele. Ich bin von meinem Grundnaturell super empathisch und sensibel und dieses Naturell wurde zu der Zeit auf nie dagewesene Weise auf die Probe gestellt. Am Ende dieser Zeit war ich erschöpft, abgefuckt ‒ vor allem von den männlich gelesenen Personen in meiner Umgebung, aber auch ein wenig enttäuscht von mir selbst.
MZEE.com: Wenn du davon sprichst, dass die Branche auf dich "ego- und money-driven" wirkt: Wie und in welchen Situationen hat sich das konkret geäußert?
TAM: Das ist auch wieder auf vielen Ebenen passiert. (überlegt) Ich versuche, es so diplomatisch wie möglich zu sagen: Ich denke, die Unternehmenskultur kapitalistischer Firmen lebt als größtes Ziel vor allem Umsatz vor und daher kommt auch die Bereitschaft von Manager:innen, viele Dinge zu tun, um Geld zu machen. Das Empathische rückt in den Hintergrund. Man soll eher funktionieren. Im Nachgang betrachtet habe ich seitens Vorgesetzter und Kolleg:innen Ratschläge bekommen, von denen ich heute denke, sie niemals wieder in Betracht ziehen zu wollen. Ratschläge, die darauf fußten, Geld zu verdienen ‒ selten, um mich zu fördern oder nach vorne zu bringen. Natürlich war ich selbst Teil des Systems und habe ein Gehalt bekommen, das ich durch journalistische Arbeit nie so schnell bekommen hätte, und Events ausgerichtet, die der Kultur dienen sollten. Am Ende diente meine Arbeit aber eher dazu, Umsatz zu generieren. Einige Personen, mit denen ich dabei vor und hinter den Kulissen zu tun hatte, ergaben für mich eine ungute, toxische Mischung, die meinen gesundheitlichen Zustand noch mal verschlechterte. Das alles hat mir gezeigt, mit wem, wo und wie ich nie mehr arbeiten will.
MZEE.com: Deine Schilderungen lassen sich auch als eine Art Machtmissbrauch definieren: absichtliche Täuschungen und ähnliche Formen psychischer Gewalt. Inwiefern sahst du dich selbst mit anderen solcher Situationen konfrontiert? Welche Formen von Machtmissbrauch hast du erlebt?
TAM: Beim Thema "Machtmissbrauch" denken alle sofort an die härtesten, medial bekannten Eskalationsstufen, obwohl es oft im Kleinen losgeht: Wenn jüngere Menschen Empfehlungen von älteren Kolleg:innen bekommen, deren Intention nicht primär darin liegt, dir zu helfen, sondern eher darin, ihre eigenen Interessen zu stützen. Manche dieser Empfehlungen haben auch falsche Glaubenssätze in mir ausgelöst. Dass man sich demütigen lassen darf, Dinge hinnehmen muss und man selbst eine dickere Haut entwickeln sollte, um das Fehlverhalten anderer Personen kompensieren zu können. Alles andere wäre schwach. Alles andere ist nicht geduldet. Mit dem heutigen Wissen würde ich das alles nicht mehr akzeptieren, aber diese Erkenntnis kam erst nach Jahren. Ich war damals auch noch viel naiver und kannte mich selbst nicht ansatzweise so gut wie heute. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass echte "Alliances" – also Unterstützung von Frauen für Frauen – ab einer gewissen Position kaum mehr vorhanden sind. In Räumen mit vielen Männern herrschen Dynamiken, die Frauen oftmals dazu veranlassen, Verhaltensmuster ihrer männlich gelesenen Kollegen zu adaptieren, um selbst voranzukommen und zu überleben. Frauen in ihren 40ern oder 50ern, die dasselbe Mindset entwickelten wie Männer im Unternehmen und mir Ratschläge gaben wie "Bad press is good press too!", nachdem eine Schlägerei auf einem meiner Events ausgebrochen war. Das löste in mir einen Druck aufgrund der Empathielosigkeit aus, was mich nur noch müde machte. Und am Ende standen Fragen: "Bin ich wirklich schwach? Habe ich überhaupt das Zeug, in dieser Branche zu bestehen und mir Respekt zu verdienen für meine Arbeit, wenn ich sowas psychisch nicht verkrafte, obwohl andere Frauen darin gar kein Problem sehen?"
MZEE.com: Das geht ja auch oft mit einem strukturellen Problem einher – ob von Männern in höheren Positionen oder von Frauen, die patriarchale Strukturen übernommen haben. Was braucht es, um solche Strukturen entsprechend aufzubrechen? Wie bildet man solche "Alliances", wie du sie nennst?
TAM: Der erste Schritt ist verbunden mit Fragen, die zum Glück immer relevanter werden: Wie viele Frauen und wie viele andere Kulturen oder Denkweisen sitzen denn in unserem Vorstand? Wie kann eine Entscheidung zugunsten einer diskriminierten Person getroffen werden, wenn keiner der Entscheider:innen auch nur im Ansatz vom Problem betroffen ist? Schauen wir uns doch die Räume an, in denen solche Entscheidungen getroffen werden, auch auf politischer oder journalistischer Ebene. Solange die Blickwinkel von journalistischen Redaktionen beispielsweise überwiegend männlich und Weiß bleiben, kann das mit keiner größeren Änderung einhergehen. Es müssen mehr empathische Entscheidungen getroffen und Menschen befragt werden, die in irgendeiner Weise mit den Sachverhalten bereits konfrontiert waren. Personen, die nur wenig oder gar keine Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht haben, müssen durch Coachings, Seminare und Workshops weitergebildet werden, um besser mit entsprechenden Situationen umzugehen. Außerdem müssen sich Männer dahingehend öfter selbst hinterfragen: "Wie oft habe ich solche Situationen erlebt und eben nichts gesagt? War keine schützende Person? Wie oft habe ich mich nicht bei der nächsthöheren Stelle über meinen Chef beschwert, obwohl ich wusste, was für ein Wichser er war?" Das müssen nicht immer Frauen machen! Nicht immer müssen Minderheiten Bündnisse schließen, um einen Fortschritt zu bewegen. Es kann sich nichts ändern, wenn die Menschen, die bisher Macht ausgeübt haben, niemals die Menschen treffen, die bis dato unter ihren Entscheidungen gelitten haben. Und wenn es dazu Quoten braucht, dann machen wir halt Quoten! Das geht auch raus an alle, die sich fragen, ob wir wirklich eine Frauenquote brauchen. Ja! Ich bin lieber als Migrantin und Frau mit leichter Behinderung dank einer Quote in einer Position, in der ich etwas ändern kann, als es schlussendlich nicht zu sein. Dann nehme ich das lieber in Kauf und kann tatsächlich etwas ändern.
MZEE.com: Du sprichst sehr viel von der Eigenverantwortung aller, aber sollten nicht auch Unternehmen selbst politisch in die Verantwortung genommen werden, um beispielsweise Safer Spaces im Arbeitsumfeld zu schaffen?
TAM: Ich glaube, politische Handhabe kann hier einiges bedingen. Wenn es aber zum Beispiel alle Unternehmen schaffen würden, statt einer coolen Plakatkampagne mit ein paar BPoCs, ein paar Frauen und ein paar Kindern mal eine Workshop-Reihe anzubieten und zu schauen, wie man Betroffenen wirklich hilft, wäre schon eine Menge getan. Und diejenige, die den Workshop hält, ist idealerweise keine Weiße Person, die anderen etwas über Rassismus erklärt. Denn das wäre gar nicht mal so aufschlussreich. (lacht) Einfach mal den Leuten Geld geben, die wirklich Expertise haben und die Workshops für alle Etagen verpflichtend aufsetzen. Es hilft ja auch nichts, wenn nur die Chefs etwas gelernt haben und ihr Wissen dann weitergeben. Statt einer neuen Tischtennisplatte im Büro auch mal Antirassismus- und Antisexismus-Kampagnen starten, vielleicht sogar gesetzlich verpflichtend für alle. Damit wäre wahrscheinlich mehr Leuten geholfen.
MZEE.com: Vom Machtmissbrauch hinter den Kulissen zurück ins Rampenlicht: Werden Vorwürfe gegen Künstler laut, stellt sich oft heraus, dass diese mutmaßlichen Übergriffe schon seit Jahren oder Jahrzehnten stattfinden sollen. Wie erklärst du dir das Stillschweigen der Musikszene rund um diese Vorfälle in den letzten Jahren?
TAM: Ich glaube, das ist ziemlich deckungsgleich mit dem, was wir bisher besprochen haben. Wenn ein Unternehmen wie Universal mit Weißen Männern an der Spitze durch ein Konstrukt aus anderen Weißen Männern Geld verdient, dann wundert es mich null, dass solche Strukturen immer weiter reifen können. Der "Boys Club" der etwas anderen Art. Das Geschäftskonzept und die Boni sind diesen Leuten womöglich wichtiger als der Fakt, dass da vielleicht die ein oder andere Frau ein bisschen leiden muss. Das wundert mich leider überhaupt nicht, so traurig es klingt. Und dann wird eine Frau interviewt, die sagt, dass mit dem jeweiligen Künstler nie was passiert sei und für alle Fans ist das Beweis genug, dass die anderen 80 Frauen mit ihren Berichten lügen. Hauptsache, die Patte fließt weiter und man muss nichts hinterfragen, ne? Macht mich müde. Macht mich einfach müde. Nein, es ist fast armselig. Natürlich gilt rein juristisch gesehen erstmal die Unschuldsvermutung für potentielle Täter:innen, aber ich habe in diesen Debatten oft den Eindruck, dass sie eben nicht für die potentiellen Opfer gilt. Das verstehe ich nicht und das müsste sich ändern.
MZEE.com: Du hast schon einen anderen wichtigen Punkt aufgebracht: Inwiefern haben Menschen, die beispielsweise die Musik solcher Künstler vermarkten oder deren Touren planen, eine Teilschuld an den vorgeworfenen Taten?
TAM: Natürlich muss man sie mit in die Verantwortung nehmen. Unternehmen sind leider gerne bequem und Künstler:innen werden keinem Korrektiv unterzogen, solange die Kohle fließt. Dabei obliegt es wiederum der unternehmerischen Moral, ob man diesen Menschen fristlos kündigt oder – auf dumm gesagt – "Resozialisierungsarbeit" mit ihnen betreibt. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass Leute, die solche Entscheidungen treffen, auch durchaus mal ihren Job verlieren dürfen ‒ selbst wenn es zu Verbitterung oder einer höheren Arbeitslosigkeit führt. Das wäre deshalb so wichtig, damit andere nachrücken können, die bestenfalls nicht nur als Token eingesetzt werden, sondern als ernstzunehmender, geeigneterer Ersatz gelten und mit ihrer Verantwortung einen Umbruch einleiten. Wenn den richtigen Menschen Verantwortung gegeben wird, kann man auch sehen, dass sich ein Ort maßgeblich verändern kann. Das habe ich selbst auch schon erlebt. Jede Person sollte sich letztendlich selbst fragen, wo ihre Grenzen liegen und wie viel man mitmachen muss, bis man beschließt, darüber zu sprechen. Auszusprechen, dass irgendwas fishy wirkt und das nicht unter den Teppich zu kehren ist. Denn aus Angst, seinen Job zu verlieren, einfach alle Strukturen zu erdulden, haben wir lang genug gemacht. Oder es damit zu entschuldigen, dass Rap oder Rock 'n' Roll nun mal so seien. Nein, kein Genre ist für immer so! Wir können jede Woche und jeden Tag neu darüber debattieren, wie es eigentlich sein sollte, und ich hoffe, das wird jetzt endlich mehr gemacht.
MZEE.com: In Debatten wie diesen ist "Victim-Blaming" trauriger Usus. Was würdest du Frauen mit auf den Weg geben, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und selbst als Betroffene noch Schuldzuweisungen erdulden müssen?
TAM: "Lasst euren Selbstwert nicht mindern durch die zu lauten Stimmen, die immer noch den Tätern glauben", würde ich ihnen sagen. Allgemein gesprochen will ich noch mitgeben, dass Privatpersonen sowie Menschen des öffentlichen Lebens die Möglichkeit haben, sich für Opfer zu positionieren und für sie zu posten. Auch ihr als Magazin könnt einen Blickwinkel dazu geben, denn nichts ist neutral auf dieser Welt. Wir haben die Möglichkeit, unsere Überzeugungen auszusprechen und Frauen beizustehen, ihnen eine Bühne zu geben. Wenn jetzt in irgendwelchen Talkshows Expert:innen dazu befragt werden, sollten es auch weiblich gelesene, betroffene Personen sein, um ihren Meinungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im privaten Rahmen wiederum werden wir alle auf Menschen treffen, die weiterhin zu solchen Künstlern stehen. Und da sollte jede:r von uns den Mut aufbringen, zu fragen, warum man diesen Männern noch glaubt. Ich weiß, das sind unbequeme Debatten. Wenn wir alle aber immer nur zu müde sind und keine Energie aufbringen, darüber zu sprechen, dann sitzen wir in zehn Jahren wieder hier und können uns die gleichen Fragen stellen und die gleichen Antworten geben. Ein Perpetuum Mobile aus Scheiße und ich wünsche mir, dass die nächste Generation schon mit einem ganz anderen Verständnis für Richtig und Falsch aufwächst, damit es nicht immer so weiter geht. Klar, man kann immer sagen: Stars und ihr Verhältnis zu Groupies, das ist doch das älteste Klischee der Musikindustrie. Aber vielleicht sollten wir alle mal an unserer Wahrnehmung von solchen Themen arbeiten. Nur, weil vieles davon, aber ganz bestimmt nicht alles, legal oder legitim ist, heißt das für mich noch lange nicht, dass es als normal gelten muss. Vor allem, wenn wir uns bei der Einvernehmlichkeit und der Augenhöhe nicht sicher sind.
MZEE.com: Global betrachtet wurden deswegen im Rahmen der #MeToo-Bewegung einige mächtige Menschen vor und hinter den Kulissen ihrer Ämter enthoben. Inwiefern hältst du das für einen richtigen Schritt und glaubst du, wenn Täter ihre Vergehen bereuen, an eine zweite Chance für ebenjene?
TAM: Eigentlich kann diese Frage viel besser von professionellen Psycholog:innen beantwortet werden, als von uns als Gesellschaft. Am Ende ist es eine persönliche Entscheidung. Wir haben alle so unterschiedliche Wertvorstellungen, dass ich glaube, die Gesellschaft kann überhaupt nicht darüber entscheiden, wer wirklich gecancelt wird. So hart es klingt, wird es auch immer Menschen geben, die Hitler gut finden. Es wird immer Menschen geben, die sich auf die extremst mögliche Meinung einigen, so wurde auch ein Donald Trump Präsident. Ich weiß also nicht, ob die Gesellschaft die finale Macht darüber haben sollte. Allerdings braucht jede Berufsgruppe eine Bühne und daraus ergibt sich etwas, das man im Kleinen machen kann. Wenn du als Musiker:in in einen Skandal verwickelt bist, besteht immer die Frage, wer dich jetzt noch für eine Show bucht. Wer möchte, dass du in seiner Venue auftrittst? Wer verkauft die Tickets, die das Narrativ eines Täters stärken? Da kann und muss man lernen, Nein zu sagen. Und dann reichen gewisse Übergriffe für mich, um zu sagen: "Mach dein Ding aus der Psychatrie raus, sprich gern mit den Wärter:innen im Knast, aber halt dich von den öffentlichen Bühnen fern." Bitte hört auf, nur weil ihr Geld generieren müsst, solchen Menschen Bühnen anzubieten. Aus kapitalistischer und unternehmerischer Sicht gibt es andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Es müssen nur konsequentere Entscheidungen getroffen werden. Labels können solche Menschen zur Persona non grata machen, sie auf die Blacklist setzen und ihre Alben nicht mehr veröffentlichen. Das wäre eine mutige Entscheidung. Es gäbe genug Hebel. Wenn sich jemand derart an Menschen vergreift, sollte es für mich keine zweite Chance geben. Solange aber nicht alle Parteien auf derselben Seite stehen, wird es immer wieder irgendeine Comeback-Tour geben. Genreübergreifend.
MZEE.com: Um Machtmissbrauch künftig zu verhindern, braucht es neue Strukturen, die große Machtgefälle aktiv unterbinden – hast du konkrete Ansätze, wie dies geschehen kann? Wie können solche Machtpositionen künftig verhindert werden und was kann jede:r von uns dafür tun?
TAM: Wir alle haben verschiedene Ansichten darüber, was wir tolerabel finden. Was ich mir aber wünschen würde ist, dass jede:r etwas sagt oder macht, wenn man sieht, wie eine Grenze überschritten wird, die gesellschaftlich besteht. Da kann jede Person, egal welchen Geschlechts, sensibler werden. Wenn komische, beleidigende oder übergriffige Worte fallen, wenn degradierende Handlungen passieren, dann gibt es immer jemanden, der ein fishy Gefühl hat. Es gibt immer eine Person, die denkt, man müsste etwas sagen. Um jetzt zum Beispiel über Sex mit Groupies zu sprechen: Wenn die Girls, die in den Backstage-Bereich kommen, zu jung und unsicher sind, muss es jemanden geben, der zu den entsprechenden Künstlern sagt: "Dann fahrt halt bitte in den Puff." Wenn jemand unbedingt seinen Kink ausleben muss, dann nimm dir doch bitte jemanden, der oder die das auch als Gewerbe betreibt, so dumm es klingt. Es gibt Menschen, die das gegen Geld anbieten, also nimm dir dafür keine Frauen, deren Willen du wissentlich brichst. Ich würde mir wünschen, dass jede:r sowas anspricht und man keine Angst vor Entlassung haben muss oder nicht unterstützt zu werden, wenn man den Mund aufmacht. Wir sind – zumindest hoffe ich das – mehr Menschen, die sich neue Strukturen wünschen. Fans, die solche Musiker verteidigen, sind häufig nur lauter auf den entsprechenden Kanälen. Warum gibt es keine Telegram-Gruppen für Leute, die neue Strukturen fordern? Es muss normal werden, etwas gegen Machtmissbrauch tun zu wollen.
(Anna Melmann & Sven Aumiller)
(Fotos von Jaqui Dresen)