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Interview

TAM – ein Gespräch über Machtmissbrauch in der Musikindustrie

"Der Job und die Unter­neh­men sind recht ego- wie umsatz­ge­trie­ben und kom­pe­ti­tiv. Man soll sich stän­dig bewei­sen und der Erwar­tungs­hal­tung gerecht wer­den." – TAM im Inter­view über Macht­miss­brauch vor und hin­ter den Kulis­sen der Musikindustrie.

Am 23. Febru­ar 2023 wur­de der einst erfolg­rei­che Film­pro­du­zent Har­vey Wein­stein auf­grund meh­re­rer Ver­ge­wal­ti­gun­gen und schwe­rer sexu­el­ler Nöti­gung zu 39 Jah­ren Haft ver­ur­teilt. Das war der vor­läu­fi­ge Höhe­punkt eines bereits sechs Jah­re dau­ern­den Pro­zes­ses: 2017 beschlos­sen eini­ge muti­ge Frau­en, der New York Times von ihren per­sön­lichs­ten Erfah­run­gen mit dem Straf­tä­ter zu erzäh­len. Seit­dem haben sich vie­le wei­te­re Opfer sexua­li­sier­ter Gewalt der -Bewe­gung ange­schlos­sen, die durch die Ankla­ge gegen den Medi­en­mo­gul den Mut geschöpft haben, ihre eige­nen Geschich­ten mit Män­nern, die ihre Macht­po­si­ti­on aus­nut­zen, zu erzäh­len. Sie bekämp­fen damit ein Sys­tem, wel­ches Män­nern wie Wein­stein bis dato Schutz gebo­ten hat. Auch in Deutsch­land gibt es immer wie­der Vor­wür­fe von Macht­miss­brauch im Show­busi­ness. Ein mut­maß­li­cher Fall wur­de gera­de öffent­lich, als wir die­ses Inter­view vor­be­rei­te­ten – es ist jedoch nur einer von vie­len, in denen Künst­ler über­grif­fig gewe­sen sein sollen.

MZEE​.com​: Wir wol­len heu­te über Macht­miss­brauch in der Musik­in­dus­trie spre­chen. Viel­leicht hilft es vor­ab, etwas mehr über dich zu erfah­ren ‒ stell dich doch kurz vor.

TAM: Ich hei­ße Tama­ra Güçlü, bin 33 Jah­re alt und seit fast zehn Jah­ren Musik­jour­na­lis­tin. Mei­ne Kar­rie­re habe ich zunächst in Stutt­gart durch ers­te redak­tio­nel­le Prak­ti­ka bei loka­len Stadt­ma­ga­zi­nen begon­nen und danach beim Musik­ex­press, also an der Axel-​Springer-​Akademie, 2014. (Anm. d. Red.: Der "Musik­ex­press" erscheint seit 2010 im Axel-​Springer-​Verlag, Redakteur:innen sind also bei der Axel Sprin­ger SE beschäf­tigt) Spä­ter hat­te ich mei­ne eige­ne Radio-​Sendung bei "BOOM​.FM" und durf­te von 2018 bis 2019 bei Red Bull als Artist Mana­ge­rin gro­ße Shows wie den "Sound­clash" betreu­en. Nach die­ser Zeit habe ich gemerkt, dass es kör­per­lich nicht mehr wei­ter­ging und muss­te ein Jahr Aus­zeit neh­men. Zurück­ge­kom­men bin ich mit dem Pod­cast "PULS Musik­ana­ly­se", den ich gemein­sam mit Fri­dl Ach­ten von 2020 bis 2022 mode­rie­ren durf­te. Die Musik­in­dus­trie – ob vor oder hin­ter den Kulis­sen – habe ich nach mei­nem kör­per­li­chen Break aber nie wie­der ver­las­sen. Ich bin inzwi­schen als A&R-Consultant und Mode­ra­to­rin tätig, Teil der Jury von "Initia­ti­ve Musik" und als TAM mitt­ler­wei­le auch selbst als Künst­le­rin unter­wegs. Dit bin ick, hallo!

MZEE​.com​: Du hast also als klas­si­sche Jour­na­lis­tin gestar­tet und erst eini­ge Jah­re spä­ter kam die Arbeit vor dem Mikro­fon statt hin­ter den Kulis­sen dazu. 

TAM: Genau. Ich könn­te mir vor­stel­len, dass vie­le Men­schen in ver­schie­de­nen Bran­chen erst ein­mal einen Traum haben und sich über sol­che Schrit­te ran­tas­ten. Ich woll­te immer mit Medi­en und Musik arbei­ten und habe gemerkt, dass ich gut schrei­ben und labern kann. Des­halb lag mein Fokus zuerst auch genau dar­auf. Erst durch mei­ne Arbeit bei Red Bull hing ich viel mehr in Stu­di­os ab und habe damit eine neue Schwel­le über­schrit­ten. Ich war bei Pro­zes­sen und Pro­duk­tio­nen von Künstler:innen viel näher dran und habe immer deut­li­cher gemerkt, dass ich dabei in der fal­schen Rol­le tätig bin. Ich woll­te immer wie­der Text­vor­schlä­ge ein­brin­gen oder krea­ti­ven Input zur Mucke selbst geben, habe den Künstler:innen in Wirk­lich­keit aber vor allem Drinks zur Ver­fü­gung gestellt oder erklärt, wie sie an Weed kom­men. (grinst) Das kann ganz nett sein, ver­fehlt aber das The­ma, wenn man eigent­lich an der Musik selbst inter­es­siert ist. Der Gedan­ke, des­halb selbst Musik zu machen, ist immer wei­ter gereift und in der Pan­de­mie kam mei­ne Freun­din Josi Mil­ler auf mich zu und hat gefragt, ob wir nicht einen gemein­sa­men Song machen wol­len. Da hat­te man bekannt­lich ja sowie­so ganz gut Zeit. (lacht) So ging das alles los. Selbst zu schrei­ben, mit coo­len Leu­ten con­nec­ten, selbst mit­spie­len, statt am Spiel­feld­rand zu ste­hen: Das war und ist eine wich­ti­ge und schö­ne Erfahrung.

MZEE​.com​: Du sprichst im "Dei­ne Homegirls"-Podcast auch genau von der eben genann­ten "Manager-​Rolle" und dass die Arbeit in der Musik­in­dus­trie teils undank­bar sein kann. Was genau meinst du damit und wie schützt du dich in sol­chen Momenten?

TAM: Ich glau­be, was ich damit mein­te, hat meh­re­re Ebe­nen: natür­lich die pro­fes­sio­nel­le, aber allen vor­an die per­sön­li­che Sei­te. Ich hat­te das Gefühl – viel­leicht auch der Uner­fah­ren­heit als Marketing- oder A&R-Person geschul­det –, dass Egos und Mei­nun­gen mei­ne eige­ne Per­son und mein Selbst­bild stark beein­fluss­ten. Ich kann­te auch die­se "Money"-Seite des Busi­ness' noch nicht beson­ders gut, bis dato hat­te ich die nur gestreift. Der Job und die Unter­neh­men sind recht ego- wie umsatz­ge­trie­ben und kom­pe­ti­tiv. Man soll sich stän­dig bewei­sen und der Erwar­tungs­hal­tung gerecht wer­den. Zusätz­lich wur­de Hip­Hop in mei­ner Anfangs­zeit auch immer mehr zum Schwer­punkt der Fir­ma. Dadurch arbei­te­te man mit Künst­lern, die … (über­legt) Anders: Es zeig­te sich immer wie­der, dass Tex­te von Künst­lern oft­mals stell­ver­tre­tend für das ste­hen, was sie auch sind. Die Men­schen, mit denen ich dadurch arbei­te­te, lös­ten in mir immer wie­der Unsi­cher­hei­ten und Ängs­te aus. Ängs­te davor, dass man doch kei­ne Ahnung hat und die eige­ne Mei­nung weni­ger wert ist. Davor, dass mein Wis­sen über die Musik weni­ger wich­tig ist als der Fak­tor, dass ich einem Groß­kon­zern Geld in die Kas­se spie­le. Ich bin von mei­nem Grund­na­tu­rell super empa­thisch und sen­si­bel und die­ses Natu­rell wur­de zu der Zeit auf nie dage­we­se­ne Wei­se auf die Pro­be gestellt. Am Ende die­ser Zeit war ich erschöpft, abge­fuckt ‒ vor allem von den männ­lich gele­se­nen Per­so­nen in mei­ner Umge­bung, aber auch ein wenig ent­täuscht von mir selbst.

MZEE​.com​: Wenn du davon sprichst, dass die Bran­che auf dich "ego- und money-​driven" wirkt: Wie und in wel­chen Situa­tio­nen hat sich das kon­kret geäußert?

TAM: Das ist auch wie­der auf vie­len Ebe­nen pas­siert. (über­legt) Ich ver­su­che, es so diplo­ma­tisch wie mög­lich zu sagen: Ich den­ke, die Unter­neh­mens­kul­tur kapi­ta­lis­ti­scher Fir­men lebt als größ­tes Ziel vor allem Umsatz vor und daher kommt auch die Bereit­schaft von Manager:innen, vie­le Din­ge zu tun, um Geld zu machen. Das Empa­thi­sche rückt in den Hin­ter­grund. Man soll eher funk­tio­nie­ren. Im Nach­gang betrach­tet habe ich sei­tens Vor­ge­setz­ter und Kolleg:innen Rat­schlä­ge bekom­men, von denen ich heu­te den­ke, sie nie­mals wie­der in Betracht zie­hen zu wol­len. Rat­schlä­ge, die dar­auf fuß­ten, Geld zu ver­die­nen ‒ sel­ten, um mich zu för­dern oder nach vor­ne zu brin­gen. Natür­lich war ich selbst Teil des Sys­tems und habe ein Gehalt bekom­men, das ich durch jour­na­lis­ti­sche Arbeit nie so schnell bekom­men hät­te, und Events aus­ge­rich­tet, die der Kul­tur die­nen soll­ten. Am Ende dien­te mei­ne Arbeit aber eher dazu, Umsatz zu gene­rie­ren. Eini­ge Per­so­nen, mit denen ich dabei vor und hin­ter den Kulis­sen zu tun hat­te, erga­ben für mich eine ungu­te, toxi­sche Mischung, die mei­nen gesund­heit­li­chen Zustand noch mal ver­schlech­ter­te. Das alles hat mir gezeigt, mit wem, wo und wie ich nie mehr arbei­ten will.

MZEE​.com​: Dei­ne Schil­de­run­gen las­sen sich auch als eine Art Macht­miss­brauch defi­nie­ren: absicht­li­che Täu­schun­gen und ähn­li­che For­men psy­chi­scher Gewalt. Inwie­fern sahst du dich selbst mit ande­ren sol­cher Situa­tio­nen kon­fron­tiert? Wel­che For­men von Macht­miss­brauch hast du erlebt?

TAM: Beim The­ma "Macht­miss­brauch" den­ken alle sofort an die här­tes­ten, medi­al bekann­ten Eska­la­ti­ons­stu­fen, obwohl es oft im Klei­nen los­geht: Wenn jün­ge­re Men­schen Emp­feh­lun­gen von älte­ren Kolleg:innen bekom­men, deren Inten­ti­on nicht pri­mär dar­in liegt, dir zu hel­fen, son­dern eher dar­in, ihre eige­nen Inter­es­sen zu stüt­zen. Man­che die­ser Emp­feh­lun­gen haben auch fal­sche Glau­bens­sät­ze in mir aus­ge­löst. Dass man sich demü­ti­gen las­sen darf, Din­ge hin­neh­men muss und man selbst eine dicke­re Haut ent­wi­ckeln soll­te, um das Fehl­ver­hal­ten ande­rer Per­so­nen kom­pen­sie­ren zu kön­nen. Alles ande­re wäre schwach. Alles ande­re ist nicht gedul­det. Mit dem heu­ti­gen Wis­sen wür­de ich das alles nicht mehr akzep­tie­ren, aber die­se Erkennt­nis kam erst nach Jah­ren. Ich war damals auch noch viel nai­ver und kann­te mich selbst nicht ansatz­wei­se so gut wie heu­te. Außer­dem habe ich die Erfah­rung gemacht, dass ech­te "Alli­ances" – also Unter­stüt­zung von Frau­en für Frau­en – ab einer gewis­sen Posi­ti­on kaum mehr vor­han­den sind. In Räu­men mit vie­len Män­nern herr­schen Dyna­mi­ken, die Frau­en oft­mals dazu ver­an­las­sen, Ver­hal­tens­mus­ter ihrer männ­lich gele­se­nen Kol­le­gen zu adap­tie­ren, um selbst vor­an­zu­kom­men und zu über­le­ben. Frau­en in ihren 40ern oder 50ern, die das­sel­be Mind­set ent­wi­ckel­ten wie Män­ner im Unter­neh­men und mir Rat­schlä­ge gaben wie "Bad press is good press too!", nach­dem eine Schlä­ge­rei auf einem mei­ner Events aus­ge­bro­chen war. Das lös­te in mir einen Druck auf­grund der Empa­thie­lo­sig­keit aus, was mich nur noch müde mach­te. Und am Ende stan­den Fra­gen: "Bin ich wirk­lich schwach? Habe ich über­haupt das Zeug, in die­ser Bran­che zu bestehen und mir Respekt zu ver­die­nen für mei­ne Arbeit, wenn ich sowas psy­chisch nicht ver­kraf­te, obwohl ande­re Frau­en dar­in gar kein Pro­blem sehen?"

MZEE​.com​: Das geht ja auch oft mit einem struk­tu­rel­len Pro­blem ein­her – ob von Män­nern in höhe­ren Posi­tio­nen oder von Frau­en, die patri­ar­cha­le Struk­tu­ren über­nom­men haben. Was braucht es, um sol­che Struk­tu­ren ent­spre­chend auf­zu­bre­chen? Wie bil­det man sol­che "Alli­ances", wie du sie nennst?

TAM: Der ers­te Schritt ist ver­bun­den mit Fra­gen, die zum Glück immer rele­van­ter wer­den: Wie vie­le Frau­en und wie vie­le ande­re Kul­tu­ren oder Denk­wei­sen sit­zen denn in unse­rem Vor­stand? Wie kann eine Ent­schei­dung zuguns­ten einer dis­kri­mi­nier­ten Per­son getrof­fen wer­den, wenn kei­ner der Entscheider:innen auch nur im Ansatz vom Pro­blem betrof­fen ist? Schau­en wir uns doch die Räu­me an, in denen sol­che Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den, auch auf poli­ti­scher oder jour­na­lis­ti­scher Ebe­ne. Solan­ge die Blick­win­kel von jour­na­lis­ti­schen Redak­tio­nen bei­spiels­wei­se über­wie­gend männ­lich und Weiß blei­ben, kann das mit kei­ner grö­ße­ren Ände­rung ein­her­ge­hen. Es müs­sen mehr empa­thi­sche Ent­schei­dun­gen getrof­fen und Men­schen befragt wer­den, die in irgend­ei­ner Wei­se mit den Sach­ver­hal­ten bereits kon­fron­tiert waren. Per­so­nen, die nur wenig oder gar kei­ne Erfah­run­gen mit Dis­kri­mi­nie­rung gemacht haben, müs­sen durch Coa­chings, Semi­na­re und Work­shops wei­ter­ge­bil­det wer­den, um bes­ser mit ent­spre­chen­den Situa­tio­nen umzu­ge­hen. Außer­dem müs­sen sich Män­ner dahin­ge­hend öfter selbst hin­ter­fra­gen: "Wie oft habe ich sol­che Situa­tio­nen erlebt und eben nichts gesagt? War kei­ne schüt­zen­de Per­son? Wie oft habe ich mich nicht bei der nächst­hö­he­ren Stel­le über mei­nen Chef beschwert, obwohl ich wuss­te, was für ein Wich­ser er war?" Das müs­sen nicht immer Frau­en machen! Nicht immer müs­sen Min­der­hei­ten Bünd­nis­se schlie­ßen, um einen Fort­schritt zu bewe­gen. Es kann sich nichts ändern, wenn die Men­schen, die bis­her Macht aus­ge­übt haben, nie­mals die Men­schen tref­fen, die bis dato unter ihren Ent­schei­dun­gen gelit­ten haben. Und wenn es dazu Quo­ten braucht, dann machen wir halt Quo­ten! Das geht auch raus an alle, die sich fra­gen, ob wir wirk­lich eine Frau­en­quo­te brau­chen. Ja! Ich bin lie­ber als Migran­tin und Frau mit leich­ter Behin­de­rung dank einer Quo­te in einer Posi­ti­on, in der ich etwas ändern kann, als es schluss­end­lich nicht zu sein. Dann neh­me ich das lie­ber in Kauf und kann tat­säch­lich etwas ändern.

MZEE​.com​: Du sprichst sehr viel von der Eigen­ver­ant­wor­tung aller, aber soll­ten nicht auch Unter­neh­men selbst poli­tisch in die Ver­ant­wor­tung genom­men wer­den, um bei­spiels­wei­se Safer Spaces im Arbeits­um­feld zu schaffen?

TAM: Ich glau­be, poli­ti­sche Hand­ha­be kann hier eini­ges bedin­gen. Wenn es aber zum Bei­spiel alle Unter­neh­men schaf­fen wür­den, statt einer coo­len Pla­kat­kam­pa­gne mit ein paar BPoCs, ein paar Frau­en und ein paar Kin­dern mal eine Workshop-​Reihe anzu­bie­ten und zu schau­en, wie man Betrof­fe­nen wirk­lich hilft, wäre schon eine Men­ge getan. Und die­je­ni­ge, die den Work­shop hält, ist idea­ler­wei­se kei­ne Wei­ße Per­son, die ande­ren etwas über Ras­sis­mus erklärt. Denn das wäre gar nicht mal so auf­schluss­reich. (lacht) Ein­fach mal den Leu­ten Geld geben, die wirk­lich Exper­ti­se haben und die Work­shops für alle Eta­gen ver­pflich­tend auf­set­zen. Es hilft ja auch nichts, wenn nur die Chefs etwas gelernt haben und ihr Wis­sen dann wei­ter­ge­ben. Statt einer neu­en Tisch­ten­nis­plat­te im Büro auch mal Antirassismus- und Antisexismus-​Kampagnen star­ten, viel­leicht sogar gesetz­lich ver­pflich­tend für alle. Damit wäre wahr­schein­lich mehr Leu­ten geholfen.

MZEE​.com​: Vom Macht­miss­brauch hin­ter den Kulis­sen zurück ins Ram­pen­licht: Wer­den Vor­wür­fe gegen Künst­ler laut, stellt sich oft her­aus, dass die­se mut­maß­li­chen Über­grif­fe schon seit Jah­ren oder Jahr­zehn­ten statt­fin­den sol­len. Wie erklärst du dir das Still­schwei­gen der Musik­sze­ne rund um die­se Vor­fäl­le in den letz­ten Jahren? 

TAM: Ich glau­be, das ist ziem­lich deckungs­gleich mit dem, was wir bis­her bespro­chen haben. Wenn ein Unter­neh­men wie Uni­ver­sal mit Wei­ßen Män­nern an der Spit­ze durch ein Kon­strukt aus ande­ren Wei­ßen Män­nern Geld ver­dient, dann wun­dert es mich null, dass sol­che Struk­tu­ren immer wei­ter rei­fen kön­nen. Der "Boys Club" der etwas ande­ren Art. Das Geschäfts­kon­zept und die Boni sind die­sen Leu­ten womög­lich wich­ti­ger als der Fakt, dass da viel­leicht die ein oder ande­re Frau ein biss­chen lei­den muss. Das wun­dert mich lei­der über­haupt nicht, so trau­rig es klingt. Und dann wird eine Frau inter­viewt, die sagt, dass mit dem jewei­li­gen Künst­ler nie was pas­siert sei und für alle Fans ist das Beweis genug, dass die ande­ren 80 Frau­en mit ihren Berich­ten lügen. Haupt­sa­che, die Pat­te fließt wei­ter und man muss nichts hin­ter­fra­gen, ne? Macht mich müde. Macht mich ein­fach müde. Nein, es ist fast arm­se­lig. Natür­lich gilt rein juris­tisch gese­hen erst­mal die Unschulds­ver­mu­tung für poten­ti­el­le Täter:innen, aber ich habe in die­sen Debat­ten oft den Ein­druck, dass sie eben nicht für die poten­ti­el­len Opfer gilt. Das ver­ste­he ich nicht und das müss­te sich ändern.

MZEE​.com​: Du hast schon einen ande­ren wich­ti­gen Punkt auf­ge­bracht: Inwie­fern haben Men­schen, die bei­spiels­wei­se die Musik sol­cher Künst­ler ver­mark­ten oder deren Tou­ren pla­nen, eine Teil­schuld an den vor­ge­wor­fe­nen Taten? 

TAM: Natür­lich muss man sie mit in die Ver­ant­wor­tung neh­men. Unter­neh­men sind lei­der ger­ne bequem und Künstler:innen wer­den kei­nem Kor­rek­tiv unter­zo­gen, solan­ge die Koh­le fließt. Dabei obliegt es wie­der­um der unter­neh­me­ri­schen Moral, ob man die­sen Men­schen frist­los kün­digt oder – auf dumm gesagt – "Reso­zia­li­sie­rungs­ar­beit" mit ihnen betreibt. Mei­ner Mei­nung nach wäre es wich­tig, dass Leu­te, die sol­che Ent­schei­dun­gen tref­fen, auch durch­aus mal ihren Job ver­lie­ren dür­fen ‒ selbst wenn es zu Ver­bit­te­rung oder einer höhe­ren Arbeits­lo­sig­keit führt. Das wäre des­halb so wich­tig, damit ande­re nach­rü­cken kön­nen, die bes­ten­falls nicht nur als Token ein­ge­setzt wer­den, son­dern als ernst­zu­neh­men­der, geeig­ne­te­rer Ersatz gel­ten und mit ihrer Ver­ant­wor­tung einen Umbruch ein­lei­ten. Wenn den rich­ti­gen Men­schen Ver­ant­wor­tung gege­ben wird, kann man auch sehen, dass sich ein Ort maß­geb­lich ver­än­dern kann. Das habe ich selbst auch schon erlebt. Jede Per­son soll­te sich letzt­end­lich selbst fra­gen, wo ihre Gren­zen lie­gen und wie viel man mit­ma­chen muss, bis man beschließt, dar­über zu spre­chen. Aus­zu­spre­chen, dass irgend­was fishy wirkt und das nicht unter den Tep­pich zu keh­ren ist. Denn aus Angst, sei­nen Job zu ver­lie­ren, ein­fach alle Struk­tu­ren zu erdul­den, haben wir lang genug gemacht. Oder es damit zu ent­schul­di­gen, dass Rap oder Rock 'n' Roll nun mal so sei­en. Nein, kein Gen­re ist für immer so! Wir kön­nen jede Woche und jeden Tag neu dar­über debat­tie­ren, wie es eigent­lich sein soll­te, und ich hof­fe, das wird jetzt end­lich mehr gemacht.

MZEE​.com​: In Debat­ten wie die­sen ist "Victim-​Blaming" trau­ri­ger Usus. Was wür­dest du Frau­en mit auf den Weg geben, die ähn­li­che Erfah­run­gen gemacht haben und selbst als Betrof­fe­ne noch Schuld­zu­wei­sun­gen erdul­den müssen? 

TAM: "Lasst euren Selbst­wert nicht min­dern durch die zu lau­ten Stim­men, die immer noch den Tätern glau­ben", wür­de ich ihnen sagen. All­ge­mein gespro­chen will ich noch mit­ge­ben, dass Pri­vat­per­so­nen sowie Men­schen des öffent­li­chen Lebens die Mög­lich­keit haben, sich für Opfer zu posi­tio­nie­ren und für sie zu pos­ten. Auch ihr als Maga­zin könnt einen Blick­win­kel dazu geben, denn nichts ist neu­tral auf die­ser Welt. Wir haben die Mög­lich­keit, unse­re Über­zeu­gun­gen aus­zu­spre­chen und Frau­en bei­zu­ste­hen, ihnen eine Büh­ne zu geben. Wenn jetzt in irgend­wel­chen Talk­shows Expert:innen dazu befragt wer­den, soll­ten es auch weib­lich gele­se­ne, betrof­fe­ne Per­so­nen sein, um ihren Mei­nun­gen mehr Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Im pri­va­ten Rah­men wie­der­um wer­den wir alle auf Men­schen tref­fen, die wei­ter­hin zu sol­chen Künst­lern ste­hen. Und da soll­te jede:r von uns den Mut auf­brin­gen, zu fra­gen, war­um man die­sen Män­nern noch glaubt. Ich weiß, das sind unbe­que­me Debat­ten. Wenn wir alle aber immer nur zu müde sind und kei­ne Ener­gie auf­brin­gen, dar­über zu spre­chen, dann sit­zen wir in zehn Jah­ren wie­der hier und kön­nen uns die glei­chen Fra­gen stel­len und die glei­chen Ant­wor­ten geben. Ein Per­pe­tu­um Mobi­le aus Schei­ße und ich wün­sche mir, dass die nächs­te Gene­ra­ti­on schon mit einem ganz ande­ren Ver­ständ­nis für Rich­tig und Falsch auf­wächst, damit es nicht immer so wei­ter geht. Klar, man kann immer sagen: Stars und ihr Ver­hält­nis zu Grou­pies, das ist doch das ältes­te Kli­schee der Musik­in­dus­trie. Aber viel­leicht soll­ten wir alle mal an unse­rer Wahr­neh­mung von sol­chen The­men arbei­ten. Nur, weil vie­les davon, aber ganz bestimmt nicht alles, legal oder legi­tim ist, heißt das für mich noch lan­ge nicht, dass es als nor­mal gel­ten muss. Vor allem, wenn wir uns bei der Ein­ver­nehm­lich­keit und der Augen­hö­he nicht sicher sind.

MZEE​.com​: Glo­bal betrach­tet wur­den des­we­gen im Rah­men der -Bewe­gung eini­ge mäch­ti­ge Men­schen vor und hin­ter den Kulis­sen ihrer Ämter ent­ho­ben. Inwie­fern hältst du das für einen rich­ti­gen Schritt und glaubst du, wenn Täter ihre Ver­ge­hen bereu­en, an eine zwei­te Chan­ce für ebenjene? 

TAM: Eigent­lich kann die­se Fra­ge viel bes­ser von pro­fes­sio­nel­len Psycholog:innen beant­wor­tet wer­den, als von uns als Gesell­schaft. Am Ende ist es eine per­sön­li­che Ent­schei­dung. Wir haben alle so unter­schied­li­che Wert­vor­stel­lun­gen, dass ich glau­be, die Gesell­schaft kann über­haupt nicht dar­über ent­schei­den, wer wirk­lich gecan­celt wird. So hart es klingt, wird es auch immer Men­schen geben, die Hit­ler gut fin­den. Es wird immer Men­schen geben, die sich auf die extremst mög­li­che Mei­nung eini­gen, so wur­de auch ein Donald Trump Prä­si­dent. Ich weiß also nicht, ob die Gesell­schaft die fina­le Macht dar­über haben soll­te. Aller­dings braucht jede Berufs­grup­pe eine Büh­ne und dar­aus ergibt sich etwas, das man im Klei­nen machen kann. Wenn du als Musiker:in in einen Skan­dal ver­wi­ckelt bist, besteht immer die Fra­ge, wer dich jetzt noch für eine Show bucht. Wer möch­te, dass du in sei­ner Venue auf­trittst? Wer ver­kauft die Tickets, die das Nar­ra­tiv eines Täters stär­ken? Da kann und muss man ler­nen, Nein zu sagen. Und dann rei­chen gewis­se Über­grif­fe für mich, um zu sagen: "Mach dein Ding aus der Psy­cha­trie raus, sprich gern mit den Wärter:innen im Knast, aber halt dich von den öffent­li­chen Büh­nen fern." Bit­te hört auf, nur weil ihr Geld gene­rie­ren müsst, sol­chen Men­schen Büh­nen anzu­bie­ten. Aus kapi­ta­lis­ti­scher und unter­neh­me­ri­scher Sicht gibt es ande­re Mög­lich­kei­ten, Geld zu ver­die­nen. Es müs­sen nur kon­se­quen­te­re Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den. Labels kön­nen sol­che Men­schen zur Per­so­na non gra­ta machen, sie auf die Black­list set­zen und ihre Alben nicht mehr ver­öf­fent­li­chen. Das wäre eine muti­ge Ent­schei­dung. Es gäbe genug Hebel. Wenn sich jemand der­art an Men­schen ver­greift, soll­te es für mich kei­ne zwei­te Chan­ce geben. Solan­ge aber nicht alle Par­tei­en auf der­sel­ben Sei­te ste­hen, wird es immer wie­der irgend­ei­ne Comeback-​Tour geben. Genreübergreifend.

MZEE​.com​: Um Macht­miss­brauch künf­tig zu ver­hin­dern, braucht es neue Struk­tu­ren, die gro­ße Macht­ge­fäl­le aktiv unter­bin­den – hast du kon­kre­te Ansät­ze, wie dies gesche­hen kann? Wie kön­nen sol­che Macht­po­si­tio­nen künf­tig ver­hin­dert wer­den und was kann jede:r von uns dafür tun?

TAM: Wir alle haben ver­schie­de­ne Ansich­ten dar­über, was wir tole­ra­bel fin­den. Was ich mir aber wün­schen wür­de ist, dass jede:r etwas sagt oder macht, wenn man sieht, wie eine Gren­ze über­schrit­ten wird, die gesell­schaft­lich besteht. Da kann jede Per­son, egal wel­chen Geschlechts, sen­si­bler wer­den. Wenn komi­sche, belei­di­gen­de oder über­grif­fi­ge Wor­te fal­len, wenn degra­die­ren­de Hand­lun­gen pas­sie­ren, dann gibt es immer jeman­den, der ein fishy Gefühl hat. Es gibt immer eine Per­son, die denkt, man müss­te etwas sagen. Um jetzt zum Bei­spiel über Sex mit Grou­pies zu spre­chen: Wenn die Girls, die in den Backstage-​Bereich kom­men, zu jung und unsi­cher sind, muss es jeman­den geben, der zu den ent­spre­chen­den Künst­lern sagt: "Dann fahrt halt bit­te in den Puff." Wenn jemand unbe­dingt sei­nen Kink aus­le­ben muss, dann nimm dir doch bit­te jeman­den, der oder die das auch als Gewer­be betreibt, so dumm es klingt. Es gibt Men­schen, die das gegen Geld anbie­ten, also nimm dir dafür kei­ne Frau­en, deren Wil­len du wis­sent­lich brichst. Ich wür­de mir wün­schen, dass jede:r sowas anspricht und man kei­ne Angst vor Ent­las­sung haben muss oder nicht unter­stützt zu wer­den, wenn man den Mund auf­macht. Wir sind – zumin­dest hof­fe ich das – mehr Men­schen, die sich neue Struk­tu­ren wün­schen. Fans, die sol­che Musi­ker ver­tei­di­gen, sind häu­fig nur lau­ter auf den ent­spre­chen­den Kanä­len. War­um gibt es kei­ne Telegram-​Gruppen für Leu­te, die neue Struk­tu­ren for­dern? Es muss nor­mal wer­den, etwas gegen Macht­miss­brauch tun zu wollen.

(Anna Mel­mann & Sven Aumiller)
(Fotos von Jaqui Dresen)