TikTok ist eines der am schnellsten wachsenden sozialen Netzwerke und verfügt mittlerweile über mehr als eine Milliarde Nutzer:innen weltweit. Ein zentrales Element der Kurzvideo-Plattform ist Musik, die in Form von Sounds über die Beiträge gelegt werden kann. Dass daraus Trends entstehen können, die sich später in den Musikcharts niederschlagen, ließ sich bereits in mehreren Fällen beobachten. Ein populäres Beispiel ist die Rapperin Domiziana. Quasi aus dem Nichts landete die Berlinerin Anfang 2022 mit "Ohne Benzin" einen Streaming-Hit, nachdem der Song auf TikTok viral gegangen war. Für viele Nutzer:innen scheint die Plattform die erste Anlaufstelle geworden zu sein, um neue Künstler:innen oder Songs zu entdecken. Dessen ist man sich längst auch in der Rapszene und der dazugehörigen Musikindustrie bewusst, in der TikTok zunehmend als Marketingtool von Rapper:innen und Labels auf der Jagd nach dem nächsten viralen Hit eingesetzt wird. Einer, der genau weiß, in welchen Bereichen TikTok dabei Einfluss auf die Entstehungs- und Vermarktungsprozesse von Musik ausübt, ist Michael Kümmerle. Vom Major Label Warner Music kommend bekleidete er bei TikTok zunächst ab 2021 die Position Head of Music Operations Germany, ehe er im Oktober 2022 die neu geschaffene Rolle Global Music Operations Business Development Lead übernahm. Dabei will sich Kümmerle unter anderem dem Aufbau von weltweiten Partnerschaften mit Künstler:innen widmen und TikTok noch stärker als Akteur in der Musikindustrie etablieren. Im Interview sprachen wir über Musikmarketing auf TikTok, die Rolle von HipHop auf der Plattform und Kritikpunkte aus Sicht von Künstler:innen, wie etwa die ausbaufähige finanzielle Beteiligung oder den vermeintlichen Zwang zur Produktion von TikTok-Content.
MZEE.com: Rap kommt auf TikTok gut an, was zum Teil sicher an der sich überschneidenden Zielgruppe liegt. Das Genre wird vorrangig in jüngeren Altersgruppen konsumiert, die auch bei TikTok die meisten Nutzer:innen ausmachen. Gibt es aus deiner Sicht noch andere Gründe dafür, dass Rap so häufig auf der Plattform stattfindet?
Michael Kümmerle: HipHop war im vergangenen Jahr auf TikTok das beliebteste Genre. Das hängt sicherlich mit der erwähnten Überschneidung der Zielgruppen zusammen. Allerdings verzeichnen wir mittlerweile einen starken Zuwachs bei den über 25-Jährigen. TikTok wird zudem nicht primär dazu genutzt, Musik zu hören, sondern vor allem wegen der Lifestyle-, Lern- und Entertainment-Inhalte. Dennoch sind wir eine Sound On-Plattform und damit ist jeglicher Inhalt auch mit Musik verknüpft. Durch die dominante Zielgruppenüberschneidung wird das Genre Rap deshalb gerne als Sound verwendet. Hinzukommt, dass die HipHop-Kultur zunehmend auch andere Bereiche beeinflusst und viele Künstler:innen Eigenmarken betreiben. TikTok ist eine gut funktionierende Marketingplattform, um die Zielgruppen der jeweiligen Produkte und Fanartikel anzusprechen. Die Künstler:innen produzieren dafür viel Content, der zwar im Kern nicht mehr um ihre Musik geht, aber trotzdem mit Songs unterlegt wird. Der Grund, warum HipHop auf TikTok so intensiv genutzt wird, ist also die Kombination von Zielgruppen, Kulturrelevanz und Marketing.
MZEE.com: TikTok scheint tatsächlich auch das Songwriting und die Musikproduktion zu beeinflussen. Im Internet finden sich zahlreiche Guides für Musiker:innen, um mit Songs auf TikTok viral zu gehen. So sollen sie beispielsweise mit der Hook beginnen oder eher laute, verzerrte 808s statt tiefe Drums für einen besseren Klang auf dem Handy verwenden. Geht dadurch nicht die musikalische Vielfalt verloren?
Michael Kümmerle: Ich glaube, das Songwriting hat sich durch digitale Medien massiv verändert. Nutzer:innen nehmen sich nicht mehr die Zeit, einen Song oder gar ein Album komplett anzuhören, sondern skippen schnell durch die Playlists. Dass deshalb der Refrain schnell kommen muss, hat erst mal nichts mit TikTok zu tun. Das ist ein klassisches Phänomen aus dem Streamingbereich, welches ich bis heute nicht toll finde. Die von dir aufgezählten Tipps kommen nicht von uns. Wir bei TikTok wüssten nicht, dass das funktioniert und es einen Reißbrettplan gibt, wie ein Song geschrieben sein muss, um auf der Plattform erfolgreich zu sein. Ich glaube schon, dass Künstler:innen mittlerweile an TikTok denken, wenn sie Songs schreiben. Aber wenn du die TikTok Viral Charts anschaust, findest du dort oft verschiedene Ausschnitte eines Songs. In Videos werden die Passagen genutzt, die catchy sind und hängen bleiben. Das kann auch eine normale Textzeile sein und muss nicht der Refrain sein. Wir wollen nicht die musikalische Vielfalt einschränken, sondern die Musikproduktion demokratisieren.
MZEE.com: Es scheint heute so einfach wie nie zu sein, selbst Musik zu produzieren und zu veröffentlichen. Mit TikTok ist es möglich, ohne Major-Label im Rücken Bekanntheit zu erlangen und erste Hörer:innen zu finden. Dies geht auf Streamingdiensten oft nur mit Labels und entsprechenden Playlist-Positionierungen. Ist das der Demokratisierungsprozess, den ihr euch vorstellt?
Michael Kümmerle: Ja, ich glaube, dass wir so zur Demokratisierung beitragen. Eine klassische Musikkarriere beginnt fast immer mit einem Charthit beziehungsweise Top-Track. Wir als Plattform bieten die Möglichkeit, von Tag eins an und ohne große Followerschaft oder Marketingbudget Gehör in einer Community zu finden, da jedes TikTok viral gehen kann. Wir haben unzählige Male bewiesen, dass wir die Basis von Trends sowie ein wichtiges A&R-Tool für die Musikindustrie sind.
MZEE.com: Glaubst du, dass TikTok die Position von Musiker:innen in der Industrie stärkt?
Michael Kümmerle: Was wir noch nicht bewiesen haben, ist, dass wir nachhaltig und nur auf der Basis von TikTok Künstler:innenkarrieren aufbauen können. Was passiert für gewöhnlich, wenn du einen Trend auf TikTok hast und einen Hit landest? Du wirst gesignet. Gerade im HipHop-Bereich ist das A&R-Game überhitzt und es ist Wahnsinn, wie teuer Künstler:innen gehandelt werden. Um noch mal auf das Thema Demokratisierung zurückzukommen: Labels sind extrem wichtig. Wenn du in deiner Entwicklung als Künstler:in in die Breite gehen möchtest und in verschiedenen Bereichen Fans ansprechen willst, können Labels einen großen Mehrwert bieten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die klassische Künstler:innenkarriere ein harter Job ist. Von 365 Tagen stehst du an 100 auf der Bühne. Zusätzlich brauchst du einen klaren Kopf zum Songs schreiben, musst diese aufnehmen, Interviews geben und dich damit auseinandersetzen, was du für die verschiedenen Plattformen unternimmst. Da man das allein nicht bewerkstelligen kann, machen Labels einen wichtigen Job für die Künstler:innen.
MZEE.com: Andererseits sind nicht alle Künstler:innen durchweg glücklich damit, von ihren Labels regelmäßig dazu aufgefordert zu werden, aus Marketingzwecken TikToks zu veröffentlichen. Kürzlich schilderte der Rapper Ahzumjot seinen Frust in einem Statement. Es raube ihm den Spaß an der Musik, mehr mit der Contentproduktion beschäftigt zu sein als mit dem Musikmachen: "Dein Song ist gut? Schön für dich […]. Dein Song ist beschissen, aber du hast ne geile Idee damit für TikTok? Geil, lass hören." – Müssen Musiker:innen heute zwangsweise auch Content Creator sein, um Karriere zu machen?
Michael Kümmerle: Das glaube ich nicht. Ich kann das Statement allerdings verstehen. Sicherlich ist der Einfluss von großen Plattformen in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Ich glaube aber auch, dass Fankommunikation schlichtweg fester Bestandteil einer Künstler:innenkarriere ist und dir das niemand abnehmen kann. Es ist immer noch möglich, ohne Online-Plattformen den großen Hit zu schaffen. Dann musst du andere Plattformen bedienen und dir wie früher in jedem Club die Finger wund spielen. Du musst als Künstler:in den richtigen Weg finden, wie du deine Fans ansprichst, und entscheiden, welche Kanäle du bedienen möchtest. Man muss sagen, dass im Angesicht der möglichen Viralität und Fanansprache kein:e Künstler:in heutzutage gut beraten wäre, keinen Content für TikTok zu produzieren. Das sollte jedoch auch Spaß machen. Was wir bei TikTok sehr kritisch sehen, ist, dass Labels ihre Künstler:innen dazu drängen, TikToks zu veröffentlichen. In den USA gibt es mit Halsey ein prominentes Beispiel dazu. (Anm. d. Red.: Die Sängerin Halsey wandte sich im Mai 2022 an die Öffentlichkeit, nachdem ihr Label ihr untersagt hatte, einen neuen Song inklusive Musikvideo zu veröffentlichen, bevor sie damit einen viralen Moment auf TikTok hatte.) Ich finde diesen Fall schlimm. Wer geht denn in einer Label-Künstler:in-Beziehung so mit seinem:seiner Künstler:in um? Musiker:innen sollten in jeder Entscheidung frei sein. Das ist die Basis, um künstlerisch tätig zu sein. Wir berücksichtigen das auch in Ratschlägen, die wir Künstler:innen geben, mit denen wir direkt zusammenarbeiten. Du musst nicht jahrelang Content produzieren und eine große Followerschaft aufbauen. Du musst auch nicht fünf Mal pro Woche etwas posten. Aber natürlich kannst du nicht auf TikTok viral gehen, wenn du keine TikToks machst.
MZEE.com: Was macht den TikTok-Algorithmus überhaupt zu einem so gut funktionierenden Marketingtool?
Michael Kümmerle: Der Fakt, dass bei TikTok die Community entscheidet, was gut ankommt. Am einfachsten erklärbar ist es, wenn man den Unterschied zwischen einem sozialen Medium und einer Content-Plattform, wie TikTok es ist, versteht. Soziale Medien wie Facebook oder Instagram haben einen Social Graph. Wenn wir uns dort gegenseitig folgen und ich mir ein Video ansehe, wird der Algorithmus versuchen, es auch dir auszuspielen, weil unterlegt wird, dass wir ähnliche Interessen haben. TikTok hat einen Content Graph, das heißt, es zählen nur die Inhalte. Es kann also auch ein:e Künstler:in ohne Follower mit seinem:ihrem ersten Video durch die Decke gehen. Ich kann nicht im Detail sagen, wie der Algorithmus funktioniert, aber ein Beispiel nennen: Nehmen wir an, in einem Video wird ein Marmorkuchen gebacken und es liegt ein HipHop-Track darunter. Wenn das Video in der Marmorkuchen-Community gut läuft und das am Kuchen liegt, wird der Algorithmus versuchen, es in der Sahnetorten-Community und später in weiteren Communitys auszuspielen. So funktioniert ein Trend auf einer Content-Plattform. Daraus kann, wie wir bereits oft beobachten konnten, folgen, dass ein Song nachgelagert in die Charts aufsteigt. Ein gutes Beispiel dafür, welche Art von Videos bei der Community gut ankommt, ist Nina Chuba mit ihrem Song "Wildberry Lillet". Sie hatte bereits mehrere Videos damit gepostet, doch richtig zum Trend wurde er erst, als sie nach einigen Tagen losgelassen hat und die TikToks authentischer wurden. Sie hat dann im Wohnzimmer performt und den Text nicht einmal mehr vollständig mitgesungen. Diese Videos sind dann durch die Decke gegangen. Daran erkennt man, dass die Plattform für authentischen Content steht.
MZEE.com: Bringt eine hohe Follower:innenschaft größeren Künstler:innen auf TikTok also gar nichts?
Michael Kümmerle: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Nutzer:innen haben bei TikTok neben der Für dich-Page noch den Ich folge-Feed. Dort bekommen sie nur Videos von Kanälen ausgespielt, denen sie folgen. TikTok hat also auch ein soziales Feature. Der Marketingnutzen liegt aber im Kern in der Für dich-Page, wo die Community die Trends bestimmt. Als große:r Künstler:in kann es dir passieren, dass du drei Mal hintereinander mehrere Millionen Views auf deine TikToks hast und das Nächste nur noch ein paar Tausend erreicht. Dann kam das Video eben nicht gut bei der Community an.
MZEE.com: In deinem Beispiel vom Kuchenbacken hast du bereits ein für TikTok typisches Phänomen beschrieben: Musik wird in Form von Sounds von jeglichen Nutzer:innen dazu verwendet, Videos zu unterlegen. Vollwertige Musik-Streaming-Dienste verfügen über Vergütungsmodelle, die sich an der Anzahl von Streams orientieren. Marktführer Spotify zahlt etwa 0,3 Cent pro Stream. Hat TikTok auch ein System, das Musiker:innen direkt finanziell an der Nutzung ihrer Songs in Videos beteiligt?
Michael Kümmerle: Wir haben Verträge mit allen Rechteinhabern wie Labels oder Verwertungsgesellschaften weltweit, aber die Berechnungsgrundlage ist vermutlich eine andere. Wir zahlen mehrere hundert Millionen Euro pro Jahr, was in Anbetracht unserer jungen Entwicklungsstufe und der wenigen Jahre am Markt in meinen Augen viel Geld ist. Dennoch sehen wir, dass der Druck zur direkten Monetarisierung von Künstler:innen und Labels wächst. Gerade unsere Wettbewerber gehen mit den Summen, die sie an die Musikindustrie ausschütten, sehr proaktiv um. Einige Dinge darf man aber nicht vergessen: Als Marketingplattform Nummer eins treiben wir viel Geld in der Musikindustrie, das Künstler:innen und Labels dann nachgelagert auf Musik- oder Videostreaming-Plattformen bekommen. Zudem entwickeln sich unsere Formate und werden immer länger. Bei TikTok können Videos inzwischen eine Länge von bis zu 10 Minuten haben. Dementsprechend werden sich sicherlich in Zukunft auch unsere Verträge mit Rechteinhabern von Musik verändern, was eine normale Entwicklung ist. Außerdem werden wir in den kommenden Jahren den Bereich E-Commerce weiterentwickeln. Wir testen bereits erfolgreich in den USA, dass Musiker:innen Konzerttickets direkt über ihre TikTok-Kanäle verkaufen. Auch mit Shopify haben wir bereits erste Versuche gemacht. In Zukunft werden wir also die direkte Monetarisierung ausbauen. Als letzten Punkt möchte ich ergänzen, dass TikTok immer additiv ist und keiner anderen Plattform Umsätze wegnimmt. Wenn du ein Premium-Abo bei YouTube hast, brauchst du im Zweifel Spotify nicht mehr. Dann hast du den Service gewechselt und die Geldausschüttung an die Industrie bleibt gleich. TikTok nimmt in keinem Bereich etwas weg und erhöht so die Monetarisierung der Musikindustrie. Dennoch verstehe ich die Kritikpunkte und halte sie für richtig. Wir wachsen weiter und werden uns in diesem Bereich sicher auch weiterentwickeln.
MZEE.com: TikTok verdient bisher vorrangig Geld mit Werbung. Ole Obermann, Global Head of Music, brachte die Idee ins Spiel, das Unternehmen als Mittler für Nutzungsrechte an Musikstücken zu etablieren und somit bei deren Verkauf an andere Firmen Geld zu verdienen. Sind diese Pläne mittlerweile weiter fortgeschritten?
Michael Kümmerle: Ja, das wird in Zukunft einen großen Platz bei uns einnehmen. Wir wollen das klassische Sync-Geschäft aufbrechen und auch hier Künstler:innen eine direkte Vergütung ermöglichen. Wenn eine Marke Werbung produziert, werden oft Wochen oder Monate benötigt, um die Rechte an Musik von allen Inhabern zusammenzubekommen. Wir wollen einen einfachen Weg etablieren, bei dem die Marke den Song in unserer kommerziellen Musikbibliothek kauft und dann automatisch im Hintergrund die Splits an alle Rechteinhaber laufen. Ein Beispiel, wie Künstler:innen dabei profitieren können, ist Nicky Youre aus den USA. Er hat seinen Song "Sunroof" in unsere kommerzielle Musikbibliothek gestellt, sodass Marken diesen nutzen konnten. Nachdem Foodtrucks aus der San Francisco Bay Area mit dem Song in TikToks ihre Tacos beworben hatten, ging der Song viral und Nicky Youre verdiente innerhalb weniger Monate mehrere hunderttausend US-Dollar. In diesem Bereich wollen wir zukünftig viel stärker mit Künstler:innen und Labels zusammenarbeiten.
(Enrico Gerharth & Laila Drewes)
(Fotos von Viktor Strasser)