Der Balkan ist ein ominöses Gebiet, bei dem man gefühlt nicht genau weiß, wo er eigentlich anfängt und aufhört – irgendwo im Osten Europas halt. Um genau zu sein, beschreibt der Balkan den Südosten Europas und die Länder, aus denen er besteht, sind Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kroatien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Slowenien und der Kosovo. Eigentlich gehören Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Moldau und die Türkei ebenfalls dazu und Ungarn gefühlt ein bisschen, aber das war es dann auch. Unser aktuelles Interview dreht sich vor allem um die Staaten, die zu Jugoslawien gehörten. Ein Teil der Familie unseres Gastes Figub Brazlevič kommt nämlich aus Bosnien-Herzegowina, weswegen er einen großen Bezug zu der Kultur hat und sich lange mit den Kriegen, die dort von 1991 bis 2001 herrschten, auseinandersetzte. Um auf die Geschichte der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien einzugehen, muss man bei Tito anfangen. Tito, genauer Josep Broz Tito, war lange Staatschef der Volksrepublik und wurde sogar zum Präsidenten auf Lebenszeit berufen. Zu seinen größten Erfolgen zählte wohl, dass er sich gegen Stalin, die Sowjetunion und den Kommunismus stellte – für einen Sozialismus, der dem Volk zugutekam. Man konnte frei reisen, Arbeiter:innen durften ihre Vorgesetzten selbst wählen, da die Betriebe ihnen gehörten, und man war sozial abgesichert sowie vor Armut beschützt. So zumindest die Theorie. Die Praxis sah dann doch ein wenig anders aus. Hinter der Fassade des gefeierten Sozialismus fing es an zu bröckeln, Studentenbewegungen und das Wiederaufleben des Nationalismus mussten bekämpft werden. Spätestens mit Titos Tod 1980 war der Zerfall des Vielvölkerstaats sicher. Als Erstes wollten Kroatien und Slowenien im Jahr 1991 nicht mehr Teil der Volksrepublik Jugoslawien sein, was der Beginn eines Kriegs war, der bis 2001 anhielt. Über 200 000 Menschen starben, wobei es zusätzlich zu verheerenden Völkermorden und Kriegsverbrechen kam, welche vor allem von Serbien ausgingen. Mit Figub sprachen wir insbesondere darüber, wie sich dieser Krieg für die Bevölkerung bis heute auswirkt, welche Folgen er für ihn und seine Familie hatte, aber auch, was für wundervolle Aspekte die Kultur des Balkans sowie ihre kleine, aber besondere HipHop-Szene zu bieten hat.
In diesem Interview wird unter anderem ausführlich über Krieg und Kriegsverbrechen gesprochen und das aus nur einer Perspektive der Beteiligten. Trotz verschiedener Perspektiven gibt es Fakten, die indiskutabel und bewiesen sind, wie zum Beispiel der Völkermord an den Bosniak:innen.
MZEE.com: Lass uns mit Assoziationen anfangen: Wenn du an den Balkan denkst, was kommt dir als Erstes in den Kopf?
Figub Brazlevič: Was mir als Erstes in den Kopf schießt? Probleme. Zwischen den Serben und Albanern gab es kürzlich wieder viele Konflikte, weil meinem Gefühl nach einiges nicht aufgearbeitet wurde. Man hat einfach weitergemacht. Der Bürgerkrieg, die Religionen, wo man herkommt – das alles spielt immer noch eine Rolle. In den 70ern und 80ern war der Balkan sehr interessant sowie fortschrittlich und Jugoslawien war ein sehr wichtiges Land, weil der damalige Präsident Tito mit so vielen Nationen zusammengearbeitet hat. (Anm. d. Redaktion: Die Nationen Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kroatien, Nordmazedonien, Montenegro, Slowenien und der Kosovo gehörten zu Jugoslawien.) Selbst welchen, die im Konflikt miteinander standen, wie zum Beispiel den USA und Russland. Wahrscheinlich hätte er sich für eine Seite entscheiden sollen. Durch die Blockfreien Staaten, die von Jugoslawien, Ägypten und Indien gegründet wurden und sich gegen den Kalten Krieg ausgesprochen haben, hatten sie auch eine gewisse Macht und wurden viele Jahre umworben. Als der Jugoslawienkrieg losging, stand aber niemand so wirklich auf ihrer Seite, weil sie nie richtige Verbündete hatten. Die Konflikte zwischen Muslimen, Orthodoxen und Christen sind damals sehr hochgekocht. Aktuell sehe ich das wieder ein bisschen mit Bedenken. Wenn man dort ist, hat man manchmal das Gefühl, nicht mehr in Europa zu sein. Es ist aber auch wahnsinnig schön und das Essen ist echt gut. Aufgrund der Minensituation ist die Natur unglaublich gewachsen, weil viele Orte immer noch nicht ganz bereinigt und dadurch verlassen sind. Einerseits ist es so naturbelassen und schön, andererseits gibt es keine Konjunktur und gute Wirtschaft. Gerade in Bosnien gibt es viel Korruption. Es läuft viel falsch. Der ganze Vibe dort ist sehr speziell und man hat hier wenig mitbekommen in den letzten Jahren, vor allem aus Bosnien. Inzwischen, sagt man, ist es eine Salafisten-Hochburg geworden und viele dieser Salafisten kritisieren die Bosnier dafür, dass sie eine moderate Haltung haben und in ihren Augen keine wirklichen Muslime sind. Das sorgt vor Ort natürlich für einen Clash und zeichnet sich durch verschieden geprägte Landstriche ab.
MZEE.com: Das ging jetzt direkt unerwartet tief in das Thema. Du hattest aber neben den Problemen, die omnipräsent sind und auf die wir später noch näher eingehen, auch angesprochen, dass die Natur und das Essen total bereichernd sind. Welche kulturellen Besonderheiten verbindest du mit dem Balkan?
Figub Brazlevič: Wenn man nach Sarajevo kommt, fühlt es sich ähnlich an wie in Jerusalem. Auf dem Baščaršija-Platz, also im Stadtkern, hast du mit der Begova-Moschee eine der ältesten Moscheen der Welt, aber auch die jüdisch-orthodoxe und die katholischen Kirchen. Das ist schon interessant und hat eine ähnliche Energie. Das Essen ist wundervoll und die Menschen sind interessant. Sport ist dort auch sehr groß und wichtig, vor allem Fußball und Basketball. Außerdem gibt es eine zwar kleine, aber auch tolle HipHop-Szene. Mit den meisten Leuten bin ich zum Glück sogar connectet. Zu Koolade aus Zagreb, der schon für Masta Ace produziert hat, habe ich zum Beispiel einen guten Draht. Die Szene ist auch unabhängig vom Land gut miteinander vernetzt. Es ist eine schwierige Situation, weil alles sehr westlich, aber trotzdem so heruntergewirtschaftet ist. Das ist nur mein Gefühl, aber ich kann sagen, dass die Kultur vor allem in den 70ern und 80ern sehr interessant war – man hat die Jugoslawen "die Amerikaner Europas" genannt. Die ganze Adria-Küste ist wunderschön. Es gibt wenige Hotels und Industrie am Meer, man ist mehr mit den Leuten vor Ort in Kontakt und bekommt viel mit. Die Leute verkaufen aus ihrem Garten heraus Schnaps, Gemüse und Öle – das haben die einfach drauf. Das ist schon der Wahnsinn. Was das angeht, finde ich es wunderschön unten.
MZEE.com: In welchen Punkten hat dich diese Kultur als Person beeinflusst?
Figub Brazlevič: Ich bin vor allem von meinem Vater geprägt, der 1971 mit 19 Jahren allein nach Deutschland gekommen ist, eine deutsche Frau geheiratet und irgendwann auch einen deutschen Pass bekommen hat. Er ist nicht religiös und ich durfte immer sehr frei leben. Ich habe auch nicht Bosnisch von ihm beigebracht bekommen. Alles, was ich kann, habe ich mir selbst beigebracht oder meine Freunde. Es war also präsent, aber ich musste kein Teil davon sein. Was ich aber sagen muss: Letztens war ich wieder unten und habe meine Tante besucht, die den ganzen Tag gekocht hat. Vor allem diese ganzen handgemachten Sachen wie Pita sind sehr viel Arbeit. Aber das habe ich zum Teil gelernt, als ich jünger war, und sowas taugt mir ohne Ende. Es gibt auch viel mehr familiäres Gefüge dort, während wir hier sehr individualistisch sind. Im Balkan ist es nach wie vor so, dass die meisten Menschen einen großen Bezug zu ihrer Familie haben und sie oft sehen.
MZEE.com: Und trotzdem hast du ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Teil deiner Herkunft, oder?
Figub Brazlevič: Es ist oft beklemmend, wenn man sich vor Augen führt, was passiert ist und dass man Familie dort hat. Ich habe im Nachhinein viel aufgearbeitet und mir das reingezogen, um auch Wissen darüber zu haben und keine Scheiße zu labern. Ich sehe mich aber nicht in der Verantwortung, mich zu positionieren. Klar, ich habe einen bosnischen Vater und Wurzeln in Bosnien, aber ich habe gerade jetzt auch wieder oft ein unwohles Gefühl, wenn ich über das Land nachdenke. Dieser Konflikt ist so absurd und die Leute können sich bis heute nicht einigen. Es gibt immer noch diesen Schmerz. Das Problem ist auch, dass die meisten den Serben nicht mehr trauen, weil vorgefallen ist, was vorgefallen ist. Alleine in Bosnien mit Mladić und Karadžić – die beiden bosnischen Serbenführer –, die für Genozid und Morde verantwortlich sind. Das kann man ja nicht leugnen, das haben wir alle im Fernsehen gesehen. Die Leute wurden in den Nachrichten interviewt und am nächsten Tag waren unzählige Menschen tot. (Anm. d. Red.: Hier ist die Rede vom Völkermord von Srebrenica, bei dem auf den darauffolgenden Tagen des 11. Juli 1995 unter Führung des Militärchefs Ratko Mladić mehr als 8 000 vor allem männliche Bosniak:innen ermordet wurden, nachdem das Gebiet von den Vereinten Nationen zur UNO-Sicherheitszone erklärt wurde, in der niederländische Truppen Sicherheit gewährleisten sollten. Radovan Karadžić war der politische Führer der bosnischen, nationalistischen Serben, die bald zwei Drittel Bosniens und Herzegowinas kontrollierten. Aus diesen Gebieten vertrieben sie Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Unterstützt wurden sie dabei von der serbischen Republik unter Präsident Slobodan Milošević.) Das sind Sachen, die man natürlich nicht einfach wieder vergisst, vor allem weil jede einzelne Familie davon betroffen war. Es gibt selbstverständlich viele tolle Menschen, die darüber hinwegsehen, woher man kommt. Mein Vater hat mir auch nicht beigebracht, dass die Serben alle scheiße sind. Aber das sind alles Dinge, die Probleme machen. Als ich das erste Mal in Kroatien war, hatte ich total Stress, weil ich erzählt habe, dass ich Sohn eines Bosniers bin und man automatisch annahm, dass mein Vater vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sei. Ich lasse mich von sowas nicht beeinflussen, aber solche Erfahrungen sind natürlich unangenehm. Man hat das Gefühl, dass dort alles total unberechenbar ist.
MZEE.com: Auf so einem konfliktreichen Boden fruchten natürlich auch Ideologien und Nationalismus, was aktuell die Situation der geflüchteten Menschen im Balkan zum Beispiel auch sehr schwierig gestaltet. Es gibt jede Menge illegale Push-Backs und Flüchtende werden aggressiv von der Grenzpolizei angegangen. Die zu Teilen negative und kritische Einstellung der Bevölkerung dort den Flüchtenden gegenüber ist vielleicht ein Stück weit insofern erklärbar: Wer selbst wenig hat, teilt nur ungern. Kann gut sein, dass die Lage bald wieder mehr eskaliert.
Figub Brazlevič: Ja, voll. Es ist auf jeden Fall so, wie du es beschreibst. Dadurch, dass in den letzten Jahren vermehrt Geflüchtete, vor allem muslimischer Herkunft, gekommen sind, war das für viele eine Herausforderung. Die Leute haben selbst nicht viel. Man bekommt ja mit, dass das alles schwierige Zonen sind und es gibt für die flüchtenden Menschen nicht mal eine Garantie, dass sie lebend durchkommen. Ich finde das schrecklich, meine Familie hat ja selbst Fluchterfahrung. Meine deutschen Großeltern haben im Zweiten Weltkrieg alles verloren und aufgeben müssen. Und von meiner bosnischen Familie leben nur noch wenige dort, die anderen sind vor allem in die USA ausgewandert. Mein leider bereits verstorbener Onkel hat sich in seinem Heimatdorf sein Haus wiederaufgebaut, nachdem er Kronzeuge in Den Haag war. (Anm. d. Red.: In Den Haag wurde im Mai 1998 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ins Leben gerufen, um gegen die Kriegsverbrechen vorzugehen. Auch die Prozesse gegen Ratko Mladić, Slobodan Milošević und Radovan Karadžić wurden dort geführt – insgesamt waren es 161 Angeklagte, fast 11 000 Prozesstage, über 4 000 Zeugen und sechs Mal die Höchststrafe: lebenslang.) Er war also richtig tief drinnen und ist selber in einem KZ gefangen gehalten und ausgehungert worden, bis er fliehen konnte. Er war wirklich gezeichnet von den Folterungen. Er konnte zuerst nach Deutschland flüchten und ist später in die USA gegangen. Danach war er sehr verbittert und ist nirgendwo mehr richtig heimisch geworden. Als ich ein bisschen älter wurde, habe ich realisiert, dass mein Vater, als das alles passiert ist, viel jünger als ich jetzt war. Er half seinen Geschwistern, nahm sie bei uns auf und musste große Verantwortung tragen. Damit gab es auch familiären Stress. Meine Mutter hat sich natürlich auch sehr gesorgt und jeden Abend kamen Anrufe. Man bekommt als Kind selbstverständlich mit, dass etwas nicht stimmt. Deswegen ergreift mich das Leid dieser Menschen auch sehr. Man hat da vielleicht ein anderes Gerechtigkeitsempfinden. Viele Leute können gar nicht begreifen, wie gut ihr Leben eigentlich ist. Kurz bevor der Krieg losging, bin ich in den Sommerferien noch mit meinem Onkel nach Jugoslawien gefahren und dann hieß es plötzlich, dass ich zurück muss. Ein Jahr später sind die ersten Schüsse gefallen. (Anm. d. Red.: 1991 begannen die Balkankriege. Nachdem Slowenien und Kroatien im Juni ihre Unabhängigkeit ausriefen, kam es zum zehntägigen Krieg zwischen slowenischen Einheiten und der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), der mit dem Abzug der letzteren endete. In Kroatien brach der Krieg zwischen der entstehenden kroatischen Armee und lokalen bewaffneten Serben aus, die von der zerfallenden JNA unterstützt wurden.) Das weiß ich alles noch. Ein halbes Jahr, bevor der Krieg endete, stand plötzlich der 14-jährige Cousin meines Vater an Silvester vor der Tür und hat erzählt, dass er durch den bekannten Tunnel am Flughafen in Sarajevo geflohen ist. (Anm. d. Red.: Während des Bosnienkriegs verband ein Tunnel den von serbischen Truppen belagerten Teil von Sarajevo mit dem von der bosnischen Armee kontrollierten Stadtteil Butmir. Am 29. Februar 1996 endete die Belagerung der bosnischen Hauptstadt nach 1 425 Tagen.) Der hat teilweise in Bäumen geschlafen und ist über einen sehr langwierigen Weg zu uns gekommen. Wenn man sich das mal vorstellt … Mit meiner damaligen Freundin habe ich eine Doku gedreht, als wir unten waren, in der er sehr viel darüber erzählt. Es gibt in Deutschland viele Regeln, aber wir können sehr froh sein, hier zu leben.
MZEE.com: Weil du gerade das mit der Doku erzählst: Ist dir eine künstlerische Connection zum Balkan wichtig?
Figub Brazlevič: Ja, ich arbeite auch schon mit vielen Musikern von dort zusammen. Und darauf, dass so jemand wie Koolade bei uns veröffentlicht, bin ich sehr stolz. Er ist wirklich krass und hat sowohl in Amerika als auch in Deutschland, unter anderem für Samy Deluxe und Max Herre, produziert. Auf dem ASD-Album war er beispielsweise gemeinsam mit Dash vertreten. In Osteuropa war das Studio halt auch viel billiger. Als ich angefangen habe, gab es diese Connection also schon, und als ich dann begonnen habe, mit Koolade zu arbeiten, habe ich viele Geschichten erzählt bekommen.
MZEE.com: Im ehemaligen Jugoslawien gab es schon in den 80ern die ersten HipHop-Gehversuche und das Genre hat sich quasi zeitgleich mit dem Bürgerkrieg entwickelt. Zumindest in Europa gibt es das so sonst nicht. Was macht das wohl mit der Musik? Hast du dich mal damit auseinandergesetzt?
Figub Brazlevič: Es gab schon vor dem Krieg Labels wie Jugoton, die sehr krasse Musik produziert haben. Die meisten Bläsersätze, die in den Staaten produziert wurden, sind von Duško Gojković und solchen Leuten abgeschaut. Dieser Eastern Jazz war ja wahnsinnig populär damals. Da gibt es tolle Musiker, die wirklich kranke Musik gemacht haben. Das lege ich inzwischen sehr gerne auf, auch wenn das kein Schwanz kennt. Damals gab es aber nicht nur Jazz, es gab Rock, Pop, HipHop, alles. Das ist total spannend und daraus hat sich natürlich vieles entwickelt. Rockmusik ist auch ein großes Thema, vor allem in Kroatien. Und im Rap gibt es zum Beispiel Smoke Mardeljano – kommt aus Belgrad, sieht aus wie ein Hooligan, ist aber ein krasser Rapper, der nur auf Boom bap-Beats rappt. Es gibt nach wie vor sehr viel puristische Musik, das finde ich spannend. Ich kann nicht beurteilen, was der Krieg genau mit den Texten und der Musik dort gemacht hat, aber es ist auf jeden Fall etwas passiert. "Obecana Rijec" von Edo Maajka mag ich auch sehr gerne. Er war einer der ersten Rapper vom Balkan, die ich entdeckt habe, und ich war direkt hin und weg. Der Text ist wahnsinnig und das Video hat viel von "La Haine". In dem Video wird er in ein leerstehendes Haus gerufen und diskutiert mit jemandem über die Zeit während des Kriegs. Der Typ ist sichtlich angefasst und will nicht darüber sprechen. Es ist so hoffnungslos und beschreibt, wie junge mit alten Jugoslawen sprechen. Am Ende läuft er runter und erschießt sich. Das ist total krass gemacht, auch wenn die Qualität nicht die beste ist. Also, es gibt auf jeden Fall Musik, die diese Themen inhaltlich aufgreift, es wird aber auch viel verdrängt und die entsprechende Musik dazu gemacht. Und dann gibt es auch noch eine internationale Community, die das aufgreift und sich vernetzt.
MZEE.com: Die Jugoslawienkriege finden aus meiner Erfahrung heraus im deutschen Schulunterricht eigentlich gar keinen Platz, obwohl es genügend Kinder und Jugendliche gibt, deren Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen und auch oft aufgrund dieses Kriegs fliehen mussten. Hast du das während deiner Schulzeit genauso wahrgenommen?
Figub Brazlevič: Klar, volle Kanne. Man hatte ja schon während des Kriegs das Gefühl, dass die Konflikte als zu kompliziert wahrgenommen werden und die das mit sich alleine ausmachen sollen. Und daraus resultiert dann auch die weitere Aufarbeitung. Jedes Land in Europa muss sich einen gewissen Vorwurf machen. Zumindest die, die in irgendeiner Form beteiligt waren. Es gibt ja auch ganz tolle Filme, die das alles erklären könnten. Zum Beispiel "Underground", der schon während des Kriegs von Emir Kusturica gedreht wurde. Oder auch "Black Cat, White Cat" von ihm. Das ist Balkan. Er zeigt den typischen Jugoslawen in seinem Alltag. Und der krasseste, am ehesten zum Nachdenken bringende Film ist "No Man's Land" von Danis Tanović. Der ganze Film spielt hauptsächlich in einem einzigen Schützengraben, in dem ein alter Bosniake der Bürgerwehr und ein junger serbischer Soldat symbolisch diesen Konflikt austragen. Es werden aber auch alle außenstehenden Parteien sowie Gemeinsamkeiten dabei aufgegriffen. Das lässt einen verstehen und weckt das Interesse nachzuforschen. Sowas finde ich total spannend und hat mich auch sehr darin beeinflusst, mehr wissen zu wollen. Davor habe ich immer nur Dinge aufgeschnappt. Zum Beispiel habe ich mit Serben Fußball gespielt und mal einen dummen Spruch gedrückt bekommen und solche Sachen. Auf sowas habe ich mich aber nie eingelassen. Und das ist auch gut so.
MZEE.com: Ich kann mich auch an genug Streitereien auf dem Schulhof zwischen Bosnier:innen und Serbo-Kroat:innen erinnern – was vermutlich ganz normal ist, da die jahrelangen Konflikte nach wie vor nicht richtig aufgearbeitet wurden. Aber vielleicht könnte eine unemotionale, faktenbasierte Darstellung von Seiten der Schulen ihren Beitrag dazu leisten, das Verhältnis jüngerer Generationen zu verbessern.
Figub Brazlevič: Das ist ein Problem, das es, glaube ich, in ganz vielen Ländern gibt. Das es gibt, sobald Bürgerkriege oder Konflikte innerhalb eines Landes entstehen. Wenn sich bestimmte Gebiete und Provinzen, die benachteiligt sind, gegen die eigene Regierung wenden und Repräsentanten die Macht für ihr Gebiet übernehmen wollen. Das ist schwer zu erklären. Viele junge Menschen haben ja gar keinen Bock auf diese Spannungen. Aber es gibt immer noch viele, auch junge Leute, die erfahren, was los war, und Dinge zu bemängeln haben. Aber alle Regierungschefs sind befleckt und haben Dreck am Stecken. Und es wird schwierig sein, die Leute von diesen Vorurteilen zu lösen. Denn es gibt immer noch die eine Seite, die sich Jugoslawien zurückwünscht, und die andere Seite, die das niemals wieder möchte. Viele Serben finden das nicht gut, weil es durch den Verlust des Bündnisses auch einen Machtverlust gab. Es ging ihnen verdammt gut, es gab eine große Industrie und es wurde dort viel produziert. Schlussendlich hat sich Slowenien als erstes von Jugoslawien getrennt, Kroatien hat ihnen das nachgemacht und Bosnien sollte daraufhin aufgeteilt werden. Auch der damalige kroatische Parteivorsitzende Tuđman war bekennender Nationalist und kein Heilsbringer. Der hat nur darauf geachtet, dass Kroatien nicht zu viel abbekommt. Aus bosnischer Sicht ist das verdammt schwierig, weil sie niemanden angegriffen haben. Weil die bosnischen Serben ihr Gebiet wieder zu serbischem machen wollten, ist es eskaliert. Die Serben hatten nämlich die jugoslawische Armee hinter ihrem Rücken, da es ja nur einen Präsidenten der verschiedenen Republiken gab. In Deutschland gibt es natürlich auch Aufarbeitung und Menschen, die Ahnung haben, aber die meisten Leute in meinem Alter haben keinen blassen Schimmer. Die könnten vermutlich nicht mal die Länder auf der Weltkarte auseinanderhalten.
MZEE.com: Aber ist es nicht aktuell – vor allem mit einem Serbien, das sehr "freundschaftlich" mit Putin agiert – umso wichtiger, dass die deutsche Bevölkerung ein geschichtliches Grundwissen dahingehend mitbringt und Zusammenhänge erkennen kann?
Figub Brazlevič: Genau aus solchen Gründen sollte man da ein bisschen Plan haben. Dass man weiß, dass der Russe schon lange ein Freund der Bulgaren und Serben ist. Als der Krieg in der Ukraine losging, hat Vučić ja quasi eine Parade gefeiert. (Anm. d. Red.: Aleksandar Vučić ist der amtierende Präsident Serbiens.) Die Warnzeichen dafür müssten wir schon lange vorher gesehen haben. Ich bin halt der Meinung, dass wir generell eine viel zu wenig europäische Gemeinschaft haben und wenig europäisch denken. Das, was die EU vor fast 30 Jahren umgesetzt hat, ist für die meisten von uns eine wunderbare Sache. Ich habe keinen Bock, in jedem Nachbarland mit anderem Geld zahlen zu müssen und ich habe viel Respekt vor der Idee. Ich finde es schlimm, dass Leute dieses ganze System als gescheitert ansehen. Ja, viele Deutsche meinen, darunter gelitten zu haben, weil wir angeblich immer die Probleme lösen müssen. Aber wir nehmen doch gar nicht wahr, was um uns herum los ist. Wenn wir als Europa auftreten würden, hätten wir auch mehr Macht. Wir leben in dem Glauben, dass wir in Frieden leben, aber wir könnten uns nicht mal richtig verteidigen.
MZEE.com: In der GERMANIA-Ausgabe, in der du zu Gast warst, hast du gesagt, dass Identität und Heimat nicht dasselbe für dich sind. Die Aussage wird aber leider nicht mehr erläutert. Inwiefern unterscheidet sich das für dich?
Figub Brazlevič: Heimat ist für mich der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist. Jetzt lebe ich gerade in der Schweiz und lerne Schweizerdeutsch, weil es mir wichtig ist, dass ich meine Heimat nicht mit herbringe und das akzeptiert werden muss. Durch eine andere Kultur oder Gegend kann sich meine Identität verändern. Meine Identität ist dabei zu lernen, meine Heimat ist eine gegebene Sache. Mit diesem Ort ist man auf eine spezielle Art und Weise verbunden, egal wie weit man weggeht, die Heimat vermisst man manchmal. Die Identität ist für mich die Entwicklung aus der Herkunft heraus. Das fängt an, wenn man das Zuhause verlässt. Ich weiß, was ich an meiner Vergangenheit gut finde, aber damit identifiziere ich mich nicht. Ich bin nicht "Schaffe, schaffe, Häusle baue". Theoretisch könnte ich sogar eine falsche Identität annehmen.
MZEE.com: Was lässt dich am meisten zu Hause fühlen?
Figub Brazlevič: Familie … Heimat bedeutet Familie und Freunde. Und vielleicht auch vergangene Erfolge.
(Yasmina Rossmeisl)
(Fotos von Marcus Hartelt und Yann Cressent)