Die Diskussion über Realness ist fast so alt wie HipHop selbst. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland ging es im Rap zunächst darum, die eigenen Lebensumstände musikalisch zu verpacken und wiederzugeben. Der 1997 veröffentlichte Song "Schlüsselkind" von Cora E. macht genau das: Er ist autobiographisch und erzählt vom Strugglen eines Scheidungskinds der deutschen Mittelschicht im Teenager-Alter. Dass sich viele mit dieser Geschichte identifizieren konnten, zeigt der Erfolg des Tracks. Außerdem unterstreicht er eine der größten Stärken von Cora E.: ihre ehrliche und mitreißende Art. Genau diese Emotionen und das Leuchten in ihren Augen durfte ich miterleben, als ich sie auf der Tapefabrik traf, um mit ihr über 30 Jahre HipHop-Kultur in Deutschland zu sprechen. Enthusiastisch erzählte die Rapperin Anekdoten von damals – und nahm dabei auf eine Zeitreise durch ihre musikalische Karriere mit.
In diesem Interview wird im Zuge einer Antwort Afrika Bambaataa aufgegriffen, der die Zulu Nation gründete und innerhalb der internationalen HipHop-Szene jahrelang einen entsprechenden Legendenstatus innehielt. An dieser Stelle möchten wir uns ganz klar von ihm distanzieren und auf unsere Reportage aufmerksam machen, die sich kritisch mit ihm und noch immer existierenden Missbrauchsvorwürfen auseinandersetzt.
MZEE.com: Ich würde gerne mit einem Zitat starten, das ein ehemaliges Label über dich verfasst hat: "HipHop ist für sie […] eine ganz eigene, von der Industrie noch nicht komplett vereinnahmte Kultur." – Mittlerweile hat sich die Industrie stark gewandelt. Wie hat sich deine eigene Definition von dem Begriff "HipHop-Kultur" in den letzten 30 Jahren verändert?
Cora E: Ich kann eigentlich nur bis zum Jahr 2005 sprechen. Da habe ich Kinder bekommen und danach bin ich raus, was rumfahren und neue Leute kennenlernen angeht. Ich glaube, dass junge Menschen das heute noch genauso fühlen. Außerdem ist es echter und mehr Straße als jemals zuvor. Wir haben unsere Texte wie Gedichte geschrieben, eher in Richtung "Studentenrapper", obwohl ich das nie war. Die Inhalte haben heute vielleicht nicht mehr so viel mit HipHop zu tun. Wir haben immer über HipHop gesprochen. Aber wenn du siehst, wo das alles ursprünglich herkommt, haben die Leute mehr geredet, weil ihnen mehr auf der Seele brannte. Wir hatten keine existenziellen Probleme. Uns brannte eigentlich nichts auf der Seele außer diese HipHop-Kultur. Und darüber haben wir geredet. Ich habe einen 17-jährigen Sohn und der hört Zeug von heute. Dadurch höre ich viel, was heute läuft. Das ist eher so "Bäm!" aus dem Herzen raus ganz schnell gemacht. Wir haben das mehr inszeniert.
MZEE.com: Mit "echt" meinst du, dass sie Geschichten aus ihrem Leben erzählen?
Cora E: Nein, echter zum Ursprung hin. Es geht um die eigenen Probleme und darum, dass man nichts hat außer Rap. Das war bei uns anders. Wir hatten schon unseren familiären Rückhalt. Kids, die heute rappen, haben wirklich nichts. Das hat aber alles nicht viel mit HipHop zu tun. Das darf man nicht vermischen. Dieses HipHop-Ding, was wir damals zelebriert haben, hat sich verändert. Es ist weder besser noch schlechter, es ist einfach anders geworden.
MZEE.com: Und was macht der Begriff "HipHop" für dich aus?
Cora E: Das war meine Jugend. Ich weiß nicht, ob es das heute noch so gibt. Ich will darüber auch nichts sagen, denn für manche Leute ist es immer noch ein Heiligtum. Das will ich niemandem absprechen. Wir waren halt eine kleine Community und haben uns alle gegenseitig gekannt. Wir waren connectet. Heute ist es so weitreichend in Deutschland. Die Leute kennen sich nicht, aber machen trotzdem dieselben Sachen. Ich habe damals zum Beispiel einen Weggefährten, der an der Bushaltestelle saß, daran erkannt, wie er aussah. Der sah so aus wie ich zu der Zeit, das war dann Swift (Anm. d. Red.: Boris "Swift Rock" Leptin, Co-Founder der B-Boy-Crew "Battle Squad"). Es war so klein und heimisch – jetzt ist es nicht mehr so. Aber ich meine das nicht wertend. Es ist anders.
MZEE.com: Da muss ich an die Geschichte von Akim Walta denken, der sich an den Bahnhof gesetzt hat und geschaut hat, ob Leute Farbspritzer auf den Schuhen hatten, um potenzielle Sprüher zu erkennen.
Cora E.: Genau sowas. Wir haben all so verrückte Sachen gemacht. Wir haben unsere eigenen Name Belts (Anm. d. Red.: Gürtelschnallen mit dem eigenen Namen) in Ton ausgestochen, im Ofen gebrannt und dann gold angesprüht. Denn die konnte man nicht kaufen. Wir haben auch die Spiders auf die Turnschuhe gemalt, sodass wir Superstars hatten. Die gab es hier nicht. Und ich rede von 1987, 1988, wo es das echt nicht gab. Wir kannten das nur von Fotos. GrandMixer D.ST hing als Poster über meinem Bett, der sah so aus und so wollte ich auch aussehen. Ich habe versucht, mich so zu kleiden, aber kaufen konntest du das nicht. Wir haben Fat Laces aus Tüchern ausgeschnitten. Das war, glaube ich, das Besondere: Es war so schwer zu bekommen. Das hat die Sachen besonders wertvoll gemacht. Du konntest nichts bestellen, du musstest dich drum kümmern. Ich habe mich in den späten 80er Jahren mal mit Gawki von der FBI-Crew getroffen. Das war ein Sprüher aus Paris. Wir haben eine Goose-Jacke gegen Superstars getauscht. Ich habe ihm meine Jacke gegeben, weil ich endlich diese Schuhe haben wollte. Die waren mir drei Nummern zu groß und ich musste mich mit den Zehen festkrallen, damit ich sie nicht verliere, aber ich hatte meine Superstars.
MZEE.com: Falk Schacht greift diese Thematik in einem Tweet auch auf: "Der Generationskonflikt im Deutschrap basiert auf folgendem Unterschied. Die Frage Deutschraps der 90s war: Wie geht das? Die Frage Deutschraps der 20er ist: Was ist deine Geschichte? Beziehungsweise: Was mache ich damit?" – Was denkst du darüber?
Cora E.: Wir waren uns völlig sicher, wie das funktioniert.
MZEE.com: Aber ihr musstet euch das mehr selbst erarbeiten als heute, oder?
Cora E.: Ja, das stimmt. Trotz alledem dachten wir, dass wir der Scheiß sind in dem, was wir machen. Also, es war nirgendwo ein Fragezeichen bei uns. Es war uns völlig bewusst, was wir da tun. Rückblickend haben wir die Amis kopiert. Das ist keine Frage. Das hätte ich vielleicht damals nie gewagt, zu sagen, aber es war einfach so. Es war für uns cool und das ist der Unterschied. Heute ist es ein eigenes Ding. Keiner guckt mehr nach Amerika, was da läuft. Wenn junge Leute heute anfangen zu rappen, dann orientieren die sich an anderen deutschen Rappern und nicht mehr an M. O. P. oder so. Ich spreche jetzt von Rap. Bei Graffiti und Breakdance ist das 'ne ganz andere Geschichte.
MZEE.com: Welche Lehren aus der Kultur haben dein Leben am meisten geprägt?
Cora E.: Ich bin froh, dass es damals so ein Anti-Drogen-Ding war. Diese Zulu Nation hat sich gegen Drogenkonsum positioniert. Das habe ich auch gepredigt. Darüber bin ich froh, muss ich mal ganz ehrlich sagen. Sonst wäre ich sicher selbst arg damit in Kontakt gekommen und das wäre nicht gut für mich gewesen. Über zwei Jahrzehnte hinweg war es für mich normal, dass Drogen nicht zu HipHop gehören. Ich habe erst spät gemerkt, dass andere Leute das anders handhaben. Ich mein', die Leute sind aus dem Backstage rausgegangen, wenn ich drinnen war, um zu kiffen. Das hat mir Samy Deluxe mal erzählt. Das ist Wahnsinn. Aber das ist eine große Lehre, die ich damals für mich draus gezogen hab'.
MZEE.com: Hat die Zulu Nation dir geholfen, dich davon abzugrenzen?
Cora E.: Ich hatte nie die Versuchung, mich davon nicht abzugrenzen. Wie ich zur Zulu Nation gekommen bin, war eher ein Zufall. Ich war in New York und Afrika Bambaataa war da und sagte mir: "Du bist Zulu-Queen." Und damit war ich es. Das hat sich so ergeben. Es war nicht so, dass ich das werden wollte. Er hat es festgelegt und damit war es so. Ja, ich mochte die Werte. Denn die waren gut. Ich habe das auch auf meiner Platte stehen und habe mal ein T-Shirt gemacht. Es war halt die ganze Positivität. Nach dem Prinzip, das Negative in was Positives umzuwandeln. Ich muss schon sagen, dass das was Starkes, Krasses war.
MZEE.com: Drogen waren damals für dich also eine ganz klare Grenze. Wie siehst du das heute?
Cora E.: Heute sehe ich das anders. Ich bin froh, wenn meine Kinder keine Drogen nehmen. Ich bin froh, dass ich meine Zeit ohne hatte. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Kann sein, dass mittlerweile Koks im Backstage gezogen wird, aber ich weiß es nicht.
MZEE.com: Und wann hat sich deine Einstellung dazu geändert?
Cora E.: Es ist ein Wachsen der Persönlichkeit. Nur weil ich irgendwas predige, heißt es ja nicht, dass ich damit was Gutes bei anderen erreiche. Ich bin mit 17 Jahren nach New York geflogen – der Plan war eigentlich, dort zu bleiben, deshalb hatte ich nur ein One-Way-Ticket. Meine Mutter stand am Flughafen und hat geheult. Aber ich musste meine eigenen Erfahrungen machen. Und das muss jeder tun. Ich hoffe nur, dass die Leute einen Halt haben. Und das hatte ich zum Beispiel durch HipHop. Ich hatte immer was zu tun. Drogen zu nehmen, ist auch etwas, was Leute aus Langeweile tun. Wenn sie nichts mit sich anzufangen wissen und sich besser fühlen wollen. Das habe ich ja gar nicht gebraucht.
MZEE.com: Damals standest du ja sehr im Rampenlicht. Wolltest du mit deiner Reichweite dahingehend auch etwas bewirken?
Cora E.: Ja, aber das war mir damals noch gar nicht bewusst. Das ist alles unbewusst passiert. Ich sehe heute erst, was für einen Einfluss ich hatte. Zum Glück! Sonst hätte ich es damals vielleicht gelenkt und das habe ich nicht. Trotzdem habe ich das gemacht, was ich gemacht hab', und anscheinend hat es ja Gutes bewirkt. Aber das war unbedacht und aus der Intuition heraus.
MZEE.com: In dem Film "Will einmal bis zur Sonne geh'n" aus dem Jahr 2022 werden du, Brixx und Pyranja porträtiert. Es geht um Frauen im Rap. Schon da wurden dieselben Missstände angesprochen, die heute teilweise noch aktuell sind. Beispielsweise die problematische Aussage "Du rappst gut für 'ne Frau". Es ist weiterhin oft Thema, dass Frauen auf ihr Äußeres reduziert werden und darüber mehr gesprochen wird als über die Musik. Hat sich aus deiner Perspektive etwas verändert im Vergleich zu damals?
Cora E.: Also das, was du gerade sagst, habe ich nie erlebt. Ich war angezogen wie ein Junge und alle Jungs waren meine Homeboys. Ich habe mich dem sehr angepasst und das war mir auch wichtig. Bei Pyranja war es ähnlich. Ich habe es nie verstanden, dass ein Mädchen es schwerer haben sollte. Das ist heute bestimmt anders. Aber wenn du damals als Mädchen eine von den Jungs warst, warst du eine von ihnen. Du setzt dich anders hin oder bewegst dich anders. Ich war immer genau wie die. Mir ging es darum, Skills zu haben. Ich wollte nicht die beste Rapperin sein, ich wollte der beste Rapper sein. Ohne da ein Geschlecht reinzubringen. Zu heute kann ich keinen Vergleich stellen. Ich habe auf Insta mal ein Foto gepostet. Darauf sind Queen Latifah, MC Lyte und Heather B. zu sehen, und darunter dann Foxy Brown, Queen Pen und Lil Kim. Und das war der Schnitt. Guck dir die oberen drei an, wie sie in ihren fetten Jacken dastehen und rappen. Und die anderen sitzen ganz anders. Das war der Unterschied. Ich bin vorher gewesen und wir haben uns da keine Gedanken drum gemacht. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen.
MZEE.com: Aber dennoch ist es ein männerdominierter Bereich. Es gibt einfach viel mehr Männer, die das machen.
Cora E.: Kommt drauf an, wie gut du bist.
MZEE.com: Die Tapefabrik hat sich zum Ziel gesetzt, ein Line-Up mit 50 Prozent Frauen zu machen. Allein, dass sie das tun, zeigt ja, dass es ein Ungleichgewicht gibt.
Cora E.: Aber es liegt ja an den Frauen. Es tut mir leid. Ich bin immer der Meinung, wenn man was will und das richtig fokussiert, kann man es mindestens genauso gut machen wie Männer. Das sage ich auf "Der MC ist weiblich". Genau das habe ich immer gesagt. Frag die Frauen, die Probleme haben. Ich kann euch diese Frage nicht beantworten. Ich hatte die Probleme nie.
MZEE.com: Ich denke, dass es heutzutage nicht nur um Skills geht, sondern beispielsweise auch um die Vermarktung und die Reichweite. Mittlerweile ändert es sich zwar durch solche Aktionen wie von der Tapefabrik, aber lange Zeit war die Szene stark männerdominiert. Als Frau war man unterrepräsentiert.
Cora E.: Aber mal ganz ehrlich, ist nicht jede aktive Szene männerdominiert? Skateboard fahren. Heavy Metal. Alles ist doch männerdominiert.
MZEE.com: Es gibt da draußen richtig gute Rapperinnen, aber das allein reicht nicht, um wahrgenommen zu werden.
Cora E.: Ich wollte gar nicht wahrgenommen werden. Ich wollte ja rappen. Das ist der Punkt gewesen.
MZEE.com: Damals war es vielleicht anders. Da war es sehr skillbasiert. Irgendwann gab es eine Verschiebung. Es ging nicht mehr nur um Skills, sondern eben auch um Medienpräsenz.
Cora E.: Ich habe meine Platten aus dem Auto raus verkauft. Es kamen immer Jungs und das Mädel stand nebendran. Der Junge kam und wollte die Platte kaufen. Und ich dachte immer: Wieso kauft das Mädel die Platte nicht? Jeder Typ würde es gut finden, wenn seine Freundin das macht. Es liegt an denen selbst, rauszutreten. Ich glaube nicht, dass die Tür zugehalten wird für irgendeine Frau. Ich glaube, man muss nur die Kraft haben, sie aufzumachen, und es ist nicht schwerer als für einen Mann. Also das ist meine Meinung. Ich bin da wenig Feministin vielleicht.
MZEE.com: Es gab eine Zeit, in der du dich vom aktiven Bühnengeschehen abgewendet hast. Wie hast du es geschafft, dich glücklich und würdevoll zurückzuziehen?
Cora E.: Ich habe mich nicht bewusst zurückgezogen. Als ich schwanger wurde, hatten andere Dinge Priorität. Auf einmal gab es keinen Schlaf mehr und dann hast du keinen Bock mehr, zu rappen, weil du andere Dinge zu tun hast. Mein Schreibprozess sieht normalerweise so aus: Ich fahre drei Stunden Bus oder Auto, um zu texten. Ich gehe schwanger mit meinen Songs und brüte die aus. Als die Kinder so klein waren, konnte ich keine Texte mehr schreiben. Das war also keine bewusste Entscheidung.
MZEE.com: Wie siehst du rückblickend dein musikalisches Schaffen, wenn du deine eigene bisherige Rap-Karriere reflektierst?
Cora E.: Mager.
MZEE.com: Wieso denn das? Du hast doch immer noch eine Pionierrolle.
Cora E.: Ja, die habe ich. Die werde ich auch immer haben. Und ich habe auch einen Stand, der unantastbar ist. Das, was ich geschrieben habe, bleibt – und es bleibt für immer. Ich weiß nicht, ob ich ein neues Album machen würde, denn ich könnte viel kaputt machen. Ich mache nur noch Sachen, bei denen ich denke: "Boah, das muss ich jetzt machen."
MZEE.com: So wie "BLEIB BITTE" mit Moses Pelham letztes Jahr.
Cora E.: Genau. Das musste ich jetzt noch machen. Oder diesen Verse mit Too Strong. Das ist einfach just for fun, weil es passt und irgendwie Bock macht.
(Malin Teegen)
(Foto von Vanessa Seifert)