An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Simon mit medialer Aufmerksamkeit und vermeintlicher Cancel Culture auseinander.
Bei MZEE.com über HipHop zu schreiben, ist manchmal ein großes Glück. Da kein Geld mit der Seite verdient wird, passiert alles, was hier inhaltlich geschieht, nur weil die entsprechenden Redakteur:innen Lust haben, über ein bestimmtes Thema mit bestimmten Worten zu schreiben. Kein Werbedeal entscheidet über den nächsten Artikel. Redaktionsintern werden Themenvorschläge natürlich dennoch besprochen, das Für und Wider abgewogen. Hatten wir über den Artist nicht vor Kurzem erst in einem ähnlichen Zusammenhang geschrieben? Soll nicht nächste Woche eine ähnliche Reportage kommen, mit der dann vieles redundant wirken würde? Und auch: Wollen wir uns mit dieser Person überhaupt befassen? Wenn ja, gibt es kritische Punkte, die besprochen gehören? Bieten wir damit problematischen Inhalten eine Bühne?
In fast allen Bereichen, in denen es irgendwie um mediale Aufmerksamkeit geht, sind vor allem diese letztgenannten Aspekte weiter in den Vordergrund gerückt. Egal, ob es um die Besetzung der Runde bei Markus Lanz geht oder wer dieses Jahr beim splash! spielen darf: Wer welches öffentliche Spotlight bekommen soll, wird immer expliziter auch von moralischen Standpunkten aus diskutiert. In der Regel bewegt sich die Diskussion dabei zwischen zwei argumentativen Polen: Auf der einen Seite soll Rassismus, Sexismus et cetera keine Bühne geboten werden. Auf der anderen Seite wird mit Kunst- beziehungsweise Meinungsfreiheit argumentiert. Wenn es dir nicht gefällt, hör es dir halt nicht an – aber erteile kein Auftrittsverbot. So oder so ähnlich klingen häufig die entsprechenden Argumente. Wer es richtig wissen will, spricht gleich von der bösen Cancel Culture. Wie so häufig bei derart aufgeheizten öffentlichen Debatten wird dabei inhaltlich viel durcheinander geworfen und löbliche Ansätze verlieren sich im empörten Klein-Klein.
Fakt ist: Es kann von niemandem erwartet werden, nicht zu protestieren, wenn diskriminierende, menschenfeindliche Inhalte geäußert werden. Wenn ein Artist rassistische Lines rappt, warum sollte ich als betroffene oder antirassistisch eingestellte Person dazu schweigen? Kritik ist da richtig und wichtig und der Wunsch nach weniger problematischen, verletzenden Inhalten legitim. Zum einen scheint hier aber eine gewisse Beliebigkeit Einzug zu halten. Wie problematisch Inhalte oder bestimmtes Verhalten gewertet werden und wie groß der entsprechende Aufschrei in digitaler und analoger Öffentlichkeit ist, scheint von vielen Faktoren abzuhängen, die weit über den jeweiligen Inhalt beziehungsweise das Verhalten hinausgehen. Warum genau scheint Haftbefehl so viel weniger vom Feuilleton problematisiert zu werden als Kollegah? Wieso entsteht erst bei "Layla" eine große Diskussion über sexistische Schlager und nicht schon bei den hunderten Gelegenheiten zuvor? Diese scheinbare Willkür, mit der solche Proteste entstehen, nimmt den allgemein schlüssigen Argumenten im speziellen Fall einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit. Zum anderen werden Forderungen nach Ausschlüssen von Konzerten, Plattformen oder Ähnlichem aber häufig mit einer Attitüde gestellt, die suggeriert, dass das Geforderte sonnenklar und objektiv das einzig Logische sei. Das kann in einer Diskussion schnell arrogant wirken. Überspitzt formuliert: Wer mit den Schultern zuckt, wenn Gzuz auf einem Festival auftritt, ist im besten Fall zu dumm zu verstehen, warum das nicht in Ordnung ist. Oder selbst misogyner Frauenschläger.
Auch die vermeintlichen Verfechter:innen der Kunstfreiheit bekleckern sich in derartigen Debatten selten mit Ruhm. Abgesehen von den Ewiggestrigen, die das bereits erwähnte "Layla" einfach für einen klasse Song halten und auf der Feier vom Hessischen Rundfunk gerne mal so richtig aufdrehen, um wem auch immer zu zeigen, wo es langgeht: Der Impuls, erst mal "Warum der jetzt schon wieder?" bei der nächsten Empörungswelle zu fragen, ist nachvollziehbar. In aller Regel wird es aber im Anschluss an diesen Impuls eher abstrus. Wer als Rapmedium nicht allen Lieblingsrapper:innen gemäß des eigenen Relevanzempfindens ausreichend Plattform bietet, ist verdächtig, die Karriere dieser Lieblingsrapper:innen sabotieren zu wollen. Wird dann noch ein solcher Artist für ein Festival nicht gebucht, muss es schon mindestens eine Verschwörung zur Zerstörung der HipHop-Kultur sein, die sich gerade vollzieht. Dass dafür ja andere Artists diese Plattformen und Buchungen bekommen, die sie vielleicht viel mehr verdient haben, wird erst gar nicht in Betracht gezogen. Dabei ist natürlich richtig, dass sich beispielsweise Portale und Festivals dazu entschließen können, bestimmten Artists keine Plattform mehr zu bieten. Gerade in Bezug auf Deutschrap hat das jedoch nichts mit der bösen Cancel Culture zu tun, die angeblich überall am Werkeln sein soll. Musikmedien haben schon längst keine Gatekeeper-Funktion mehr. Ob MZEE.com keine Lust mehr darauf hat, Interviews mit Kool Savas zu führen oder nicht, hat absolut keine Auswirkungen auf den weiteren Verlauf seiner Karriere. Ganz davon abgesehen, dass Rapmedien ganz sicher keinen Auftrag zu einer ausgeglichenen Meinungsbildung wie die Öffentlich-Rechtlichen haben.
Gebucht und interviewt wird, wenn beide Seiten Bock darauf haben und denken, dass es Sinn ergibt. Es gibt natürlich Leute, die so fernab jeglicher gesellschaftlicher Moralvorstellungen agieren, dass ohnehin niemand mit ihnen arbeiten möchte. Alles andere ist ein dynamischer Prozess von öffentlicher und interner Debatte, subjektivem Empfinden und Popularität, der darüber entscheidet, wer wann welche Plattformen bekommt. Es gibt keine eindeutige Definition, ab wann Artists und Inhalte so problematisch werden, dass sie nicht mehr nur kritisiert, sondern ganz ausgeschlossen gehören. Diese Grenze verläuft von Label zu Label, von Magazin zu Magazin, von Fan zu Fan unterschiedlich. Diese Uneindeutigkeit und die damit verbundenen Widersprüche muss man nicht gut finden, es hilft aber sicher, sie anzuerkennen.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)