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Kommentar

Festival-​Crowds – warum haben wir kaum noch Ansprüche?

Nach rund zwei Jah­ren Pau­se kön­nen wir end­lich wie­der gemein­sam auf Fes­ti­vals fei­ern. Lei­der wird uns dort häu­fig zuneh­mend weni­ger Live-​Qualität gebo­ten – was den Groß­teil der Crowd aber auch nicht zu inter­es­sie­ren scheint. Über feh­len­de Live MCs und man­geln­de Ansprü­che des Publikums.

An die­ser Stel­le möch­ten wir Gedan­ken zu aktu­el­len Gescheh­nis­sen aus dem Deutschrap-​Kosmos zum Aus­druck brin­gen. Die jeweils dar­ge­stell­te Mei­nung ist die des:der Autor:in und ent­spricht nicht zwangs­läu­fig der der gesam­ten Redak­ti­on – den­noch möch­ten wir auch Ein­zel­stim­men Raum geben.

Im Fol­gen­den setzt sich unser Redak­teur Alec mit Fes­ti­vals und den mit­wir­ken­den Per­so­nen, die kaum Ansprü­che erhe­ben, auseinander.

 

Seit eini­gen Mona­ten befin­det sich die Ver­an­stal­tungs­bran­che mehr oder weni­ger in einer Art Post-​Pandemie-​Ära. Nahe­zu alle Ver­an­stal­tun­gen, unab­hän­gig der Grö­ße, kön­nen ohne nen­nens­wer­te Ein­schrän­kun­gen statt­fin­den. Im Nor­den sind klas­si­sche HipHop-​Festivals seit Län­ge­rem rar gesät. Des­halb freue ich mich seit Jah­ren über das Spek­trum in Ham­burg, das neben einer anspre­chen­den Loca­ti­on auch immer span­nen­de Acts zu bie­ten hat. Mit ent­spre­chen­der Vor­freu­de habe ich am ers­ten August-​Wochenende nach zwei Jah­ren Zwangs­pau­se das Fes­ti­val­ge­län­de betreten.

Was ich dort zu sehen bekam, hat mich teil­wei­se begeis­tert, oft­mals aber auch fra­gend zurück­ge­las­sen. Auf dem dies­jäh­ri­gen Spek­trum sind ins­ge­samt rund 30 Acts auf­ge­tre­ten. Davon lie­fer­ten wei­te Tei­le des Line-​Ups eine Full- oder Halb-​Playback-​Show ab, wie zum Bei­spiel Apsi­lon, Dis­ar­star, Gian­ni Sua­ve, Liz, Sym­ba oder Tom Hengst – unter teil­wei­se tosen­dem Applaus. Selbst­ver­ständ­lich soll­te nicht uner­wähnt blei­ben, dass dem­entspre­chend das rest­li­che Line-​Up, unter ande­rem Gold­ro­ger und Pimf, oft wirk­lich gran­dio­se Live-​Performances ablie­fer­te, damit aber lei­der eine Min­der­heit dar­stell­te. Lie­be Livemusik-Liebhaber:innen, haben wir wirk­lich kei­ne Ansprü­che mehr an Gigs, Kon­zer­te, Fes­ti­vals und vor allem uns selbst? Wäh­rend des Fes­ti­vals traf ich auf einen Bekann­ten, der mit ein paar Metal-​Fans vor Ort war. Die­se berich­te­ten, dass man bei Metal-​Veranstaltungen für sol­che Per­for­man­ces nach kur­zer Zeit "von der Büh­ne geprü­gelt" wer­den wür­de. Nun bin ich defi­ni­tiv kein Befür­wor­ter von Gewalt, konn­te den Frust über der­lei Auf­trit­te aller­dings kom­plett nach­voll­zie­hen. Auch aus einer HipHop-​puristischen Per­spek­ti­ve ist er sehr ver­ständ­lich: Was ist aus dem klas­si­schen Live MC gewor­den? Aus­ge­stor­ben ist er sicher­lich nicht, aber auf den grö­ße­ren und bekann­ten Rap-​Events ist er mitt­ler­wei­le defi­ni­tiv sel­te­ner anzu­tref­fen. Statt­des­sen fin­den wir ihn bei Stra­ßen­fes­ten, Demos und Gigs in zumeist eher klei­nen Loca­ti­ons, letzt­lich über­wie­gend im Underground.

Zum Glück gab es auch auf dem Spek­trum 2022 zumin­dest ein paar Live MCs zu sehen. Einer der Head­li­ner war OG Kee­mo. Er zähl­te zu den Acts, die auf Play­back ver­zich­te­ten und hat­te die Crowd im Griff. Der gesam­te Gig wirk­te durch­dacht und er pass­te sei­ne Set­list extra an die dies­jäh­ri­ge Fes­ti­valsai­son an. Absurd wur­de es aller­dings, als er begann, eine Rei­he von Spe­cial Guests auf die Büh­ne zu holen, unter ande­rem Gian­ni Sua­ve, Kwam.E und Tom Hengst. Die gemein­sam per­form­ten Tracks wur­den dann mit Play­back per­formt. Hier fra­ge ich mich wirk­lich, wo denn die soge­nann­te "Rapper:innen-Ehre" geblie­ben ist, wenn man bei jeman­dem auf der Büh­ne zu Gast ist, der bis dato alles live und ohne Play­back per­formt hat und sich trotz­dem selbst aufs Play­back ver­lässt. Aller­dings schien Kee­mo selbst hier auch kei­ne Ansprü­che an sei­ne Gäs­te zu haben. Sein eige­nes Fazit fiel dem­entspre­chend eher gemischt aus und das, obwohl er an die­sem Abend defi­ni­tiv zu den stärks­ten Live-Rapper:innen zähl­te: "Das war lei­der etwas holp­rig." Von einer gewis­sen Iro­nie war auch der Gast­auf­tritt von Tom Hengst bei Lug­at­ti & 9ine geprägt, der leicht ver­setzt zum eige­nen Play­back rapp­te: "Du willst rap­pen, aber triffst den Ton nicht."

Ein wei­te­res Kopf­schüt­teln mei­ner­seits wur­de durch Ansa­gen wie "Bro, ich weiß gar nicht, was wir als nächs­tes spie­len" oder "Was wollt ihr hören?", wie zum Bei­spiel von Gian­ni Sua­ve, aus­ge­löst. Ja, etwas Ver­peilt­heit ist tat­säch­lich immer sym­pa­thisch und ech­te Spon­ta­nei­tät auf der Büh­ne zeugt auch von gewis­sen Live MC-​Qualitäten. In den meis­ten Fäl­len wir­ken die­se Ansa­gen aller­dings eher wie ein Beweis für die man­geln­de Vor­be­rei­tung eines Auf­tritts. Bekann­ter­wei­se sind Fes­ti­vals­lots in der Regel kurz und eng getak­tet. Wozu also die weni­ge Zeit mit eige­ner Plan­lo­sig­keit ver­schwen­den? Spe­zi­ell, wenn ein Groß­teil der Crowd sowie­so den Ein­druck erweckt, nicht zu wis­sen, wer da über­haupt auf der Büh­ne steht.

Das unvor­be­rei­te­te Auf­tre­ten vie­ler Acts in Kom­bi­na­ti­on mit dem Playback-​Soundbrei scheint den Groß­teil der Crowd nicht zu stö­ren, schließ­lich stimmt der Vibe ja trotz­dem. Mosh­pits sind ein tol­les Ele­ment von Live­kon­zer­ten und brin­gen Spaß, auch wenn nicht jede:r damit etwas anfan­gen kann. Die Fra­ge ist doch aber, ob wir wirk­lich bei jedem Song einen "Kreis auf­ma­chen" müs­sen, unab­hän­gig von Tem­po, Stim­mung oder Inhalt des Tracks. In manch ande­rer Musik­rich­tung müs­sen Künstler:innen ihre Crowd übri­gens auch nicht expli­zit bei jedem Song dar­um bit­ten, "zu mos­hen", da pas­siert das bei den pas­sen­den Songs qua­si ganz von selbst.

Doch bekle­ckert sich die Crowd auch abseits der Live­auf­trit­te nicht gera­de mit Ruhm. Obwohl das Spektrum-​Festival sich ein­deu­tig gegen jeg­li­che Form von Dis­kri­mi­nie­rung und ins­be­son­de­re Sexis­mus ein­setzt, das Line-​Up in die­sem Jahr aus über 50 Pro­zent nicht cis-​männlichen Acts bestand und vie­le ent­spre­chend anti­dis­kri­mi­nie­ren­de Tracks per­form­ten, waren vie­le Festival-Besucher:innen nicht fähig, auf dis­kri­mi­nie­ren­de und ins­be­son­de­re miso­gy­ne Aus­sa­gen zu ver­zich­ten. Par­al­lel dazu fan­den eini­ge Besu­cher dann auch noch etwas Zeit, mög­lichst über­grif­fig ver­mehrt weib­lich gele­se­ne Per­so­nen zum Fei­ern und Tan­zen auf­zu­for­dern. Sol­che Ver­hal­tens­wei­sen zei­gen, dass Fes­ti­vals nicht nur auf, son­dern auch vor der Büh­ne noch eini­ges an Arbeit vor sich haben. Und spe­zi­ell in die­sem Fall sind nicht nur Veranstalter:innen und Künstler:innen gefragt, son­dern auch wir – das Publi­kum. Die eige­nen Ansprü­che soll­ten sich nicht nur auf Büh­nen­per­for­man­ces bezie­hen, son­dern auf das gesam­te Fes­ti­val­er­leb­nis. Und dazu zählt nun mal auch das Ver­hal­ten fern­ab der Musik vor Dixi-​Klos oder an Essensständen.

Selbst­ver­ständ­lich sind all die­se Pro­ble­me kei­ne Rap-​Interna, son­dern auf nahe­zu allen Groß­ver­an­stal­tun­gen zu beob­ach­ten. Trotz­dem wün­sche ich mir, dass wir als HipHop-​Publikum – ins­be­son­de­re nach einer zwei­jäh­ri­gen Zwangs­pau­se – unse­re Ansprü­che an uns selbst und an Live­auf­trit­te etwas anhe­ben. Der:die Live-Rapper:in ist nicht aus­ge­stor­ben, wir müs­sen die­se Acts aber zu wür­di­gen wis­sen und dafür sor­gen, dass ent­spre­chen­de Per­so­nen auch auf Rap-​Großveranstaltungen statt­fin­den kön­nen. Seit Jah­ren zeigt zum Bei­spiel das Line-​Up der Tape­fa­brik, dass sowas mög­lich ist. Ja, manch eine:r ist sogar dazu bereit, alles für eine gute Live­show zu tun und sein:ihr Leben auf der Büh­ne zu las­sen: "Gol­die, der Ers­te. Dich­ter­fürst – sterb' auf der Büh­ne ganz à la Moliè­re."

(Alec Weber)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)