An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Simon mit politischen Songs und den diversen Zielgruppen, die sie ansprechen, auseinander.
Vergangenes Wochenende war endlich wieder Tapefabrik. An dieser Stelle zunächst noch einmal ein großes Dankeschön an alle, die organisiert, performt und gefeiert haben. Es war ein schönes Fest, das großen Spaß gemacht hat. Großen Dank an alle Organisator:innen, Artists und Gäste. Nach all der Lobhudelei muss es nun aber natürlich unweigerlich zum Meckern kommen, alles andere wäre ja langweilig. Dafür muss ich ein wenig ausholen. MZEE.com war natürlich auch auf der Tapefabrik vertreten. Neben der MZEE Stage gab es einen Quiz- und einen Verkaufsstand, an dem unter anderem Platten und Merchandise käuflich erworben werden konnten. Natürlich wird bei MZEE kein Profit aus solchen Aktionen geschlagen, sondern alles Eingenommene immer komplett gespendet. Dieses Mal gingen die gesamten Erlöse an "Reporter ohne Grenzen". Die Organisation "dokumentiert Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit weltweit und alarmiert die Öffentlichkeit, wenn Journalistinnen und deren Mitarbeitende in Gefahr sind". Zudem werden Reporter:innen, die Repressionen ausgesetzt sind, unterstützt. Damit die Leute auch wissen, wohin ihr Geld geht, hatten wir Flyer und Karten des Vereins an unseren Ständen ausgelegt. Leider bekamen wir im Laufe des Tages wiederholt Besuch von ein paar Verschwörungstheoretiker:innen, denen diese ausgelegten Materialien so gar nicht gefallen wollten. Mit steigendem Alkoholpegel wurden sie auch zunehmend unverschämter und mussten schließlich nachdrücklich von unseren Ständen verwiesen werden. So weit, so nervig. Es soll hier nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Ideologien gehen. Sicherlich ist auch eine Organisation wie "Reporter ohne Grenzen" nicht ohne Fehl und Tadel und bestimmt könnte man sich die vermeintlichen Argumente der erwähnten Personen anschauen und versuchen, sie zu widerlegen. Das passiert aber schon ausführlich an vielen anderen Stellen und wäre hier eher langweilig und wenig produktiv.
Was mich allerdings überrascht hat, war die Verwunderung, mit der wirklich alle Personen reagierten, mit denen über den Vorfall gesprochen wurde. Die einhellige Meinung war nämlich – neben Empörung –, dass es doch sehr überraschend sei, dass solche Personen den Weg zur Tapefabrik gefunden hätten. Ganz so, als wäre ein Stieber Twins- oder Morlockk Dilemma-Fan nicht des Schwurbelns fähig. Jetzt ist die Überraschung ja nicht völlig aus der Luft gegriffen. Natürlich gibt es andere Veranstaltungen und Artists, bei denen ein solches Publikum eher und in größerer Menge zu erwarten ist. Auch lassen sich die grundsätzlichen Ideen und Werte von HipHop im Allgemeinen und der Tapefabrik im Speziellen nicht ohne Weiteres mit verschwörungstheoretischen Erklärungsmustern in Einklang bringen. Wenn man beides eben entsprechend interpretiert. Genau das ist aber das Problem. Rap ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern transportiert in erster Linie Emotionen. Je allgemeiner und damit massentauglicher diese formuliert werden, desto offener sind sie für unterschiedliche Interpretationen. Das gilt insbesondere für vermeintlich politische Songs. Um mal einen konkreten Song zu nennen, der zwar nichts mit diesem Wochenende zu tun hat, aber exemplarisch für viele andere steht: Aus "All for One" von Kool Savas und Azad kann man problemlos sowohl den Ruf nach internationaler Solidarität im Kampf gegen den Klimawandel heraushören, als auch denken, dass es sich um den Soundtrack für die nächste Impfgegner:innen-Demo handelt. Besonders bei Artists der späten 90er und 2000er Jahre scheint dieser Trend beliebt (gewesen) zu sein. Es wurde viel von Freiheit, "One Love" und dem Kampf für eine gerechte Welt gerappt, ohne irgendwie genauer darauf einzugehen, was man denn damit meint und was nicht. Dadurch werden zwar viele Menschen eingeladen, sich in den Songs wiederzufinden, allerdings lädt man auch Leute ein, die man vielleicht überhaupt nicht dabeihaben möchte. Die Tracks lassen sich ja auch nicht konkret inhaltlich kritisieren oder loben, weil nichts Konkretes gesagt wird. Bei der Zeile "Es ist Zeit, dass sich einiges ändert hier" kann vom Nazi über den:die Grünen-Wähler:in bis zu Linksextremist:innen jede:r zustimmen. Inzwischen scheint aber, zumindest in Teilen der Szene, eine Abkehr von diesem Vorgehen stattgefunden zu haben. Viele eher neuere Artists, wie zum Beispiel Waving The Guns oder Pimf, vermeiden diese allgemeinen Aussagen. Stattdessen finden sich bei ihnen eher konkrete, inhaltlich kleinteiligere Punchlines. Darin können sich dann zwar weniger Hörer:innen wiederfinden, allerdings ist davon auszugehen, dass beispielsweise Menschen, die an Chemtrails glauben, zur so wegfallenden Zielgruppe dazugehören.
Natürlich ist es umgekehrt auch langweilig, wenn genau ausbuchstabiert wird, was ein Artist im Einzelnen alles gut und schlecht findet. So ganz ohne Interpretationsspielraum kann man auch einfach den nächsten MZEE.com Artikel lesen, anstatt Musik zu hören. Dennoch ist diese tendenzielle Entwicklung weg von Phrasen, die immer nur das große Ganze beschreiben, hin zu detaillierteren, inhaltlich ausdifferenzierten Songs begrüßenswert. Wenn das schon früher und umfassender passiert wäre, wären die oben erwähnten Schmocks vielleicht gar nicht erst erschienen. Um es frei nach Ilhan44 zu sagen: Alte Rapper, ihr seid an allem schuld. Aber lieb gemeint.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)