Wir schreiben den 11. März 2009. Ein 17-jähriger Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden tötet an diesem Tag 15 Menschen und sich selbst bei einem Amoklauf. Weniger als 30 Kilometer vom Tatort entfernt muss Sebastian Schweizer, Geschäftsführer von Chimperator, das Releasedatum von KAAS' Debütalbum wegen eines Produktionsfehlers um eine Woche nach hinten verschieben – zwei Tage zuvor erschien bereits die Debütsingle "Amokzahltag :D", die auch titelgebend für den Langspieler war. Das Album erscheint erst am 22. Mai 2009, über zwei Monate später, unter neuem Titel. In der Zwischenzeit muss Schweizer ganz anderen Problemen begegnen: Es wird über potenzielle Verbindungen zur Tat gesprochen, die "Verantwortung der Kunst" rückt in den Medienfokus und mit ihr das Label Chimperator, das bis dato eigentlich nur Szenekenner:innen ein Begriff war. Erstmals sieht man sich mit einem großen medialen Interesse konfrontiert und lernt auf die härteste Weise die daraus resultierende Verantwortung. Heute existiert das Label seit über 20 Jahren und stellte mit CRO einen der kommerziell erfolgreichsten Künstler des letzten Jahrzehnts. Höchste Zeit, zurückzuschauen: auf eine Plattenfirma, die häufig ungewöhnliche Wege zur Vermarktung geht. CROs erstes Mixtape als Free-Download anzubieten zum Beispiel – entgegen aller Szenetrends. Wir haben mit Sebastian Schweizer über die Marketingtrends im Rap und die Historie seiner Firma gesprochen – und warum sich Chimperator immer wieder dafür entscheidet, alles, was in der Branche gut zu funktionieren scheint, zu ignorieren und lieber den Weg des größten Widerstands zu gehen.
MZEE.com: Du bist einer der Gründer und Geschäftsführer von Chimperator Productions – heute möchten wir mit dir vor allem über Marketing in der Rap-Szene und eure Labelgeschichte sprechen. Bevor wir tiefer ins Detail gehen: Wie kam es zu der Entscheidung, ein Label zu gründen?
Sebastian Schweizer: Wir waren damals ein großer Freundeskreis aus Rappern, Sprühern, DJs – alle so 18, 19 Jahre alt und entweder am Anfang vom Zivi oder sogar noch mitten im Abi oder in der Ausbildung. Wir hatten gar nicht die Ambition einer Gründung oder so – anders als heutige 18-Jährige, die viel mehr Plan über Business haben als wir damals. (lacht) Wir haben uns einfach immer gegenseitig bei Auftritten unterstützt, sind auch zusammen dort hingefahren. Irgendwann kam das Bedürfnis dazu, unsere Musik zu veröffentlichen und mehr damit zu machen. Wir haben Demos verschickt, sogar mal mit einem A&R von Four Music gesprochen … (überlegt) Wobei ich mir rückblickend relativ sicher bin, dass der nie ein A&R war. (lacht) Wir haben aber nur Absagen bekommen. Natürlich waren wir darüber sauer und haben dann beschlossen, das selbst in die Hand zu nehmen. So doof das klingt: Als wir ein Logo hatten, waren wir für uns offiziell ein Label. Wir haben unsere Releases verbreitet, auch im Internet, was damals ja für die ganze Branche eine Katastrophe war. Als illegale Downloads immer verbreiteter wurden und Portale wie FettRap aus dem Boden sprießten, war das gleichbedeutend mit einer echten Krise physischer Verkäufe. Wir hingegen hielten es fast schon für eine Ehre, bei FettRap zu sein! Das war wie eine Modus Mio-Platzierung. Einige Jahre später hat sich unser Denken da natürlich auch geändert.
MZEE.com: Wie war die Weiterentwicklung über die nächsten Jahre? Wenn ihr aus einem Freundeskreis heraus entstanden seid, habt ihr dann zuerst auch nur Bekannte und Freunde gesignt?
Sebastian Schweizer: Genau. Wir hatten natürlich keine Marktanalysen oder haben geguckt, wer gerade "heiß" ist – wir haben nur uns selbst veröffentlicht. Irgendwann später meinte Eko Fresh im Interview mal sinngemäß: "Wenn man als Newcomer neu in die Szene kommt, hat man das Gefühl, alle großen Rapper sitzen an einem Tisch und lachen die ganzen Zeit über alle, die nicht reinkommen und Platz nehmen dürfen." (lacht) Das ist natürlich Quatsch, aber wir haben das komplett geglaubt – wir dachten, alle anderen akzeptieren nicht, wie gut wir sind und wollen uns unten halten. Daraus hat sich eine Art "Wut" entwickelt, die uns am Anfang sehr motiviert hat. Unsere ersten Releases haben wir dann aus dem Kofferraum heraus vor unseren Auftritten verkauft. Der nächste Schritt war dann, dass die WOM in Stuttgart (Anm. d. Red.: "World of Music", CD- und Plattenladen) uns zehn Vinyls abgekauft hat und ein paar davon in ihre anderen Filialen gebracht hat. Wir kannten den Einkäufer dort, der mochte uns einfach – aber das war das erste Mal, dass mir klar wurde, dass es sowas wie Vertrieb überhaupt gibt. Ich wusste nicht, dass es so einen Service gibt und ich das gar nicht alles selbst verkaufen muss. Das muss so um 1999, 2000 herum gewesen sein. Wir hatten uns später um einen Vertriebsdeal bemüht, aber durch die vorhin erwähnte Download-Krise keinen bekommen. Vom Gedanken, dass ich das Ganze wirklich beruflich machen kann, war ich noch weit entfernt.
MZEE.com: Wann kam die Erkenntnis? Schon wenige Jahre später hast du schließlich deine Diplomarbeit über die Gründung eines Labels geschrieben. Da muss es ja schon recht klar gewesen sein.
Sebastian Schweizer: (überlegt) 2001 habe ich Informationswirtschaft studiert, genau. Aus der Not heraus, irgendetwas studieren zu müssen, habe ich ausgerechnet das angefangen, was heute superinteressant ist. Da ging es auch um die These, dass Informationen mal ein wirtschaftliches Gut werden, was sie heute bekanntlich sind. Auf dem Papier also wirklich supernützlich – für mich war es aber nichts, weil … Es war halt keine Musik. (lacht) Als ich bemerkt habe, dass das gar nichts für mich ist, war ich aber schon zu tief im Studium, um noch aufzuhören. Deshalb wollte ich meinen Schwerpunkt mehr auf Musik legen, auch in meiner Diplomarbeit. Ich habe in der Arbeit versucht, wissenschaftlich zu analysieren, ob ich mit der "Gründung" von Chimperator alles richtig gemacht habe. Die hieß dann, glaube ich … (überlegt) "Businessplan eines Labels als …"
MZEE.com: "Die Gründung eines Labels in der Theorie und Praxis" war der Titel. Jetzt mal Hand aufs Herz: Welchen Aspekt einer Gründung hast du in der Theorie dort beschrieben, bei Chimperator aber niemals praktisch umgesetzt?
Sebastian Schweizer: Lustige Geschichte dazu: Bei unserem zwanzigjährigen Jubiläum habe ich in die Arbeit noch mal reingelesen und mich komplett fremdgeschämt, was ich da alles geschrieben habe. (lacht) Da waren ein paar richtige Cringe-Momente dabei. Was ich aber damals schon drinstehen hatte: 360 Grad-Konzepte, also nicht nur Label, sondern auch Booking-Agentur und so weiter zu sein beispielsweise. Ich hatte uns als Künstler sogar mit eigenen Profilen versehen und geschaut, welche Zielgruppen wir damit abdecken. So mache ich das natürlich nicht mehr, so wissenschaftlich. An sich aber eine gute Herangehensweise verpackt in sehr vielen, schwierigen Fremdwörtern. Ich hatte auch Glück: Mein Professor war cool und unterstützend, hatte aber mit der Musikindustrie nichts zu tun. Der hat eher darauf geachtet, ob ich da wissenschaftlich richtig gearbeitet habe.
MZEE.com: Würdest du sagen, ihr hattet in dieser frühen Phase, auch bei der Gründung mit deiner Band, bereits Prinzipien oder Handlungsmaxime, die dich bis heute prägen?
Sebastian Schweizer: Unterbewusst, ja. Wir haben nie Leitlinien aufgestellt, aber einiges blieb einfach. Einerseits war lange Zeit diese Wut auf den Rest ein Antrieb, viele Dinge anders als alle anderen anzupacken. Das hat uns irgendwann ausgemacht. Genau wie unser Indie-Gedanke – die Idee, kein Major zu brauchen und komplett unabhängig agieren zu können. Wir haben auch immer Richtung Aggro Berlin geschaut. Wie sie Dinge umsetzen, Marketing-Kampagnen planen – da haben wir uns inspirieren lassen. Aggro war ja wahnsinnig krass darin, eigene "Erlebniswelten" um ihre Künstler zu bauen: Bushido hatte eine eigene Welt, Sido hatte eine, Fler hatte eine. Auf unsere Art wollten wir das genauso machen, ohne eine Kopie zu werden. Plötzlich stand bekanntlich auf jeder CD: "Blabla präsentiert …" und auf dem Cover sah man eine Panzerkette und einen Kampfhund. Das hat wahnsinnig gut funktioniert und der Zug rollte, aber es wäre komplett behämmert gewesen, wenn wir da einfach aufgesprungen wären. Wir wussten: Wir müssen den nächsten nehmen. Das hat uns geprägt – nicht mit dem Mainstream zu schwimmen, sondern zu gucken, was man vielleicht anders denken könnte.
MZEE.com: Ich würde gerne mit der Firmenchronologie brechen und sehr viel später einsetzen, weil dieser Indie-Gedanke am meisten bei der Geschichte von CRO versprüht wird. Damals habt ihr sein erstes Mixtape "Easy" umsonst auf eurer Website angeboten. In Anbetracht dessen, wie erfolgreich das Projekt danach wurde: Bereut ihr diese Entscheidung im Nachhinein?
Sebastian Schweizer: Zu dem Zeitpunkt war der Ansatz dahinter bereits gelernt. Wir hatten das schon häufiger gemacht, einfach weil wir nicht so viel Geld hatten. Für uns war die kostenlose Vertriebsform der beste Weg. Wir waren mit der Idee auch nicht die Ersten – was wir aber bewusst gemacht haben, ist der Umgang mit dem Free-Download. Wir behandelten das als "richtiges" Release: Wir klärten Interviews im Voraus, es gab Vorab-Videos, eine Release-Party. Bei "Easy" hat das alles natürlich herausragend funktioniert. Plötzlich haben die Radios sich bei uns gemeldet statt andersherum. Normalerweise werden die förmlich zugeschissen mit Einsendungen für zu wenig On-Air-Zeit. Rückblickend hätten wir also natürlich sehr viel Geld verdienen können, wenn wir für das Tape etwas verlangt hätten – wer weiß aber, ob dann alles so gekommen wäre? Von Bereuen kann da also keine Rede sein.
MZEE.com: Wann habt ihr euch erstmals als "richtiges" Label verstanden? Und habt ihr euch damals die Frage gestellt, wie ihr diesen Erfolg nun überhaupt toppen könnt?
Sebastian Schweizer: Als es mit "Easy" losging, gab es Chimperator schon zehn Jahre und wir haben in all der Zeit keinen Cent verdient. Alles, was reinkam, haben wir in das nächste Projekt investiert. Kurz vorher ging es auch mit den Orsons erstmals in die Richtung, dass wir von Verlagsseiten aus mit Vorschüssen rechnen und wir uns in Vollzeit dem Label widmen konnten – das war die Jahre davor für keinen von uns möglich. Kurz vor dem Mixtape ging es dann irgendwie. "Easy" war genau der richtige Moment für eine Initialzündung. Notgedrungen sind wir dann auch gewachsen – wir brauchten neue Mitarbeiter, größere Büroräume, all die Dinge, mit denen wir uns zuvor nie beschäftigen mussten. Damals dachte ich, ich wüsste ja schon alles, und als es dann um Plakatierung, TV-Werbung und Radio ging, habe ich gemerkt, ich weiß wirklich gar nichts. (lacht) Deswegen hatten wir gar nicht die Zeit, um darüber nachzudenken, das zu toppen. Wir wussten nur, dass es bescheuert wäre, nicht weiterzumachen. Wir haben dann im Prozess Entscheidungen getroffen, die auch bestimmt nicht immer richtig waren. Heute würde ich das anders angehen, geplanter. Damals war das, während wir mittendrin waren, nicht möglich.
MZEE.com: Welche Entscheidungen betrachtest du im Nachhinein als Fehler?
Sebastian Schweizer: Im Peak des CRO-Hypes haben wir zum Beispiel ein weiteres Label gegründet – Chimperator Department zusammen mit Sony Music. Arbeiten mit einem Major: Da haben wir schon die ersten Prinzipien über den Haufen geworfen. Das Label sollte alle anderen Musikgenres außerhalb von Rap rausbringen. Ich mag natürlich Musik generell. Ich bin nicht so Rap-engstirnig, dass ich keine andere Musik höre, Tua oder Maeckes waren ja auch nie "nur" klassische Rapper. Rückblickend muss ich aber sagen, dass ich beispielsweise von Rock überhaupt keine Ahnung habe. Ich kann nur sagen, ob mir ein Song etwas gibt, aber nicht wieso, was bei Rap der Fall ist. Damals dachten wir offenbar, wir wären die Kings, und wenn wir das erste Label gut gemacht haben, machen wir eben einfach noch eins auf. Das hat für mich und uns überhaupt nicht geklappt. Wenn du nicht im Thema bist und die Musik nicht richtig fühlst, kommt auch nichts Gescheites dabei raus. Wir haben da ein Stück unseres Fokus verloren.
MZEE.com: Ist dieses Gefühl, das Rap dir gibt, noch heute das Hauptargument für ein Signing?
Sebastian Schweizer: Auf jeden Fall. Wir schauen auch, ob wir menschlich zueinander passen. Und natürlich gucken wir mittlerweile mehr auf die Kennzahlen. Das haben wir damals schon versucht, aber heute sind die Möglichkeiten viel größer. Im ersten Moment zählt allerdings immer noch, ob mich der Künstler irgendwo anzeckt und etwas in mir auslöst. Erst danach gucke ich auf die Zahlen bei Instagram und Spotify – ach, und ob er eventuell schon gesignt ist. Dann muss ich mir die Arbeit nicht machen. (lacht)
MZEE.com: Ihr habt schon früher auf Zahlen geachtet? Auf welche Zahlen habt ihr denn beim Signing von Maeckes und Plan B geschaut? (lacht)
Sebastian Schweizer: Ja, gut, da gab es natürlich keine Zahlen. Wobei – da gab es Zahlen aus der echten Welt! Wir wussten, wenn Freestyle-Cypher ist und Maeckes auf die Bühne steppt, ist der Laden plötzlich voll. Ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Orsons gefunden haben, war das bewusster. Da waren alle anderen auf dem Gangsterfilm und wir haben im gesamten Marketing bewusst auf Schaukeln, Liebe und ganz viel rosa gesetzt. Gefühlt sind alle – natürlich immer noch in einem winzigen Rahmen – in den Kommentaren komplett darauf abgegangen und fragten sich, was denn hier los sei. Das waren dann die ersten Zahlen, an denen man merkte, dass sich etwas bewegt. Mehr als sonst.
MZEE.com: Da klingt auch so eine gewisse antizyklische Grundhaltung heraus. "Alle sind Gangster, dann sind wir jetzt pink."
Sebastian Schweizer: Antizyklisch ist schon ein bisschen unser Ding. Das ist vielleicht eine weitere Leitlinie von uns. Bei den Orsons war es ein Mix aus vielen Sachen. Ich möchte mich hier vor allem auch nicht als den Erfinder der Orsons hinstellen, vieles kommt von den Jungs selbst. Die sind vier Charaktere, denen ich dann gesagt habe, dass wir das doch auch noch visuell komplett überdrehen können, aber die Musik war schon fertig. Als Label haben wir da ein Stück weit von Aggro gelernt und gemeinsam die Erlebniswelt der Orsons entwickelt.
MZEE.com: Wenn wir schon bei der Band sind, muss ich auch über KAAS' Debütalbum sprechen. Im März 2009 sollte "Amokzahltag :D" erscheinen – zwei Tage nach dem Amoklauf in Winnenden. Ihr habt euch gegen eine Veröffentlichung entschieden, auch der Titelsong wurde aus dem Internet entfernt. Würdet ihr mit eurer heutigen Erfahrung alle Entscheidungen von damals genauso treffen?
Sebastian Schweizer: Wahrscheinlich schon. Ich denke, wir hätten sehr viel länger über das Video zum Titelsong diskutiert und es eventuell nicht veröffentlicht. Im Video und im Song geht es um einen Amoklauf an einer Schule. Inklusive SEK-Einsatz und allem. Das ist damals vor Winnenden erschienen. Ich bin sensibler für solche Themen geworden. Bevor diese Tat geschehen ist, habe ich nicht darüber nachgedacht. Ich war dahingehend im Thema, dass KAAS selbst Mobbing in der Schule erlebt hat und zur Aufarbeitung diesen Song geschrieben hatte. Er wollte, dass Menschen ihre Gefühle in Kunst aufarbeiten, so wie er es mit "Amokzahltag" selbst gemacht hat. Eigentlich etwas Gutes: Du wandelst diese negativen Gefühle um, machst etwas Produktives daraus und erhebst dich sogar ein Stück weit damit. Was dann über uns eingebrochen ist, haben wir so natürlich noch nie erlebt. Plötzlich steht die BILD-Zeitung – die wir sowieso doof fanden und mit denen wir nie arbeiten wollten – vor der Tür und war richtig auf Krawall gebürstet. Die meinten zu uns, sie würden morgen mit dem Übertragungswagen vor dem Haus unserer Eltern aufschlagen, wenn wir nicht mit ihnen sprechen. Für ein paar Tage war das wirklich der Horror. Und das, wo der Amoklauf auch so schon sehr nah an uns dran war. Winnenden ist nur ein paar Kilometer von Stuttgart entfernt. Mein Partner Niko (Anm. d. Red.: Niko Papadopoulus, Co-Geschäftsführer von Chimperator Productions) kommt aus der Nachbarstadt und hat Integrationsworkshops an besagter Schule gegeben. Er kannte Menschen, die damals dort umgekommen sind. Für uns war dieses Thema daher schon unglaublich unangenehm. Zusätzlich dazu diese Gedanken: Vielleicht hat der Typ wirklich unser Video vorher gesehen? Man wusste es nicht. Dazu kommen dann die BILD-Haie und machen dir Druck. Bei dieser Talkshow "Hart aber fair" saß ein CDU-Politiker und meinte, KAAS müsse zur Verantwortung gezogen werden. Irre! Er wurde danach auch angezeigt. Zu der Zeit haben wir zum Glück unseren Anwalt kennengelernt, der uns bis heute vertritt. Der war selbst Rapper bei der Crew DCS und er hat uns hervorragend beraten. Das macht die Situation aber nicht besser. KAAS ist auch erst mal abgetaucht, nachdem auf ihn noch mehr einprasselte als auf uns. Abschließend: Man sagt ja immer, auch schlechte Promo sei gute Promo. Aber in keinem Fall sind wir auf die Idee gekommen, das Album zwei Tage nach der Tat zu veröffentlichen. Das würden wir auch bis heute niemals machen.
MZEE.com: Der Fakt, dass Winnenden keine 50 Kilometer entfernt von euch liegt in Kombination mit dem öffentlichen Druck, würde mich irre machen. Wie seid ihr damit umgegangen?
Sebastian Schweizer: Irre trifft es. Was man dabei fühlt, ist zuerst einmal Angst. Könnte ich wirklich mitschuldig sein? Bei KAAS noch viel mehr, bei mir aber auch. Nachher kam raus, dass der Täter sehr viel Klassik und Ähnliches gehört hat, das Video zu KAAS' Single wurde nie bei ihm gefunden, aber in dem Moment weißt du das natürlich nicht. Ekelhaftes Gefühl, einfach ekelhaft. Plötzlich haben sich auch noch andere Rapper gemeldet und haben uns erzählt, wie wir uns zu verhalten hätten und dass wir eine Lanze für Rap brechen müssten. Es war einfach zu viel. Auch da wieder vielen Dank an unseren Anwalt Sebastian Möllmann, der uns echt viel, auch in solchen Fragen, geholfen und beraten hat. Ein Rezept habe ich immer noch nicht für so eine Situation.
MZEE.com: Aus moralischer Sicht habt ihr damals sicher richtig gehandelt. Ich möchte auf keinen Fall einen Zusammenhang zu der Tat und anderen Rapper:innen herausarbeiten, mir scheinen moralische Grenzen im Rap allgemein aber immer häufiger zu verschwimmen. Promobeef bis zu echten Schlägereien oder Blut als Zugabe in Deluxeboxen sind nur zwei Beispiele von vielen. Wie bewertest du diese Entwicklung? Was hat dazu beigetragen, dass solche Marketing-Aktionen immer extremer werden?
Sebastian Schweizer: Ich würde das als gesellschaftliches, fast als globales Problem sehen. Die Grenzen, was okay zu tun und zu sagen ist, verschieben sich schon seit Jahren in eine Richtung, die einfach nicht geil ist und nur der Aufmerksamkeit um jeden Preis dient. Das hat einerseits sicherlich auch mit Typen wie Trump zu tun, der Lügen erzählt und behauptet, diese wären real. Wenn so jemand dann auch noch Präsident mit riesigem Einfluss ist, dann macht das etwas mit uns als Gesellschaft. Das passiert aber nicht nur auf so großer Ebene, sondern dann auch im Kleinen in der Musik. Auf der anderen Seite hat das auch mit unserem Medienkonsum zu tun – unserer eigenen Abstumpfung durch zu viel und immer zugespitzteren Konsum. Mir passiert das selbst manchmal: Da klickst du auf TikTok oder Reddit von einem Thema zum nächsten und plötzlich bist du bei einer Schlägerei, dann bei einer weiteren, plötzlich bekommt jemand ein Messer ins Bein und so geht es weiter – das gab es früher natürlich nicht. Dass man immer Extremeres braucht, um entertaint zu werden.
MZEE.com: Wie zieht ihr da persönlich eure Grenzen? Was würde niemals unter dem Label Chimperator passieren?
Sebastian Schweizer: (überlegt) Wir haben das nie im Grundsatz so aufgeschrieben, das ist, glaube ich, auch nicht nötig. Wir machen nichts, was in irgendeiner Art jemand anderen verletzen könnte. Sobald du in einen Bereich kommst, in dem du einer anderen Person, ob physisch oder nicht, wehtust, ist es nicht mehr cool. Über Nazi-Scheiße, Rassismus, Homophobie und sonst was brauchen wir gar nicht erst reden. Wir haben das aber nirgends aufgeschrieben, das transformiert sich. Wir selbst machen ja auch Fehler. Was Frauenbilder angeht, gibt es mit Sicherheit Videos von uns von vor ein paar Jahren, die wir so nicht mehr machen würden. Rollenbilder, die nicht cool sind. Wir versuchen jeden Tag, besser zu werden.
MZEE.com: Inwieweit trägt das Label eine Verantwortung für grenzwertige Aktionen eines bei euch unter Vertrag stehenden Rappers?
Sebastian Schweizer: Wir sind definitiv in der Verantwortung, allerdings mehr den Fans gegenüber. Wir veröffentlichen etwas, die Fans konsumieren es und die sind meistens jünger als wir. Da bist du automatisch in der Position, mitdenken zu müssen. Du musst dir im Klaren darüber sein, was du Leuten anbietest und was nicht. Aber auch gegenüber den Künstlern. Wenn ein Künstler zu uns kommt und sagt: "Hey, ich habe hier meinen neuen Track, da wird jemand umgebracht, weil so und so", dann bin ich in der Verantwortung zu sagen, dass ich das nicht gut finde und nicht möchte. Gleichzeitig wollen wir natürlich unseren Künstlern nicht vorschreiben, was in der Kunst passiert. In "Blanko" zum Beispiel lassen Keemo und Kwam.E ein paar Leichen verschwinden und in dem Song finde ich das auch völlig okay. Aber im Grunde achten wir da bereits beim Signing drauf. Wir hatten in über 20 Jahren keinen einzigen Fall, wo wir einschreiten mussten. Deshalb ist es so wichtig, schon beim Start der Zusammenarbeit darauf zu achten, dass es auch menschlich passt – so kommst du gar nicht erst in eine solche Bredouille. Das weiß man natürlich nie sicher.
MZEE.com: OG Keemo hat nach knapp zwei Jahren Arbeit ein Konzeptalbum veröffentlicht. Auf Twitter schreibt ihr zur Ankündigung von "Mann beißt Hund": "Wie wirtschaftlich ist ein Release, an dem man zwei Jahre lang arbeitet?" – Wie versucht ihr, die Balance zwischen echter Kunst und wirtschaftlicher Rentabilität zu halten?
Sebastian Schweizer: Das ist vielleicht noch eine Maxime von uns. Ich muss mir das nachher aufschreiben! (lacht) Wir versuchen, dem Künstler so viel Freiraum zu lassen, wie er braucht. Musik ist eben nichts, was du planen kannst. Du kannst nicht sagen: "Ihr geht jetzt ins Studio, dann habt ihr noch mal drei Wochen und dann ist das Ding fertig." So funktioniert das nicht beziehungsweise ist das keine Musik, die wir gut finden – oder zumindest nur in den seltensten Fällen. Musik ist etwas Emotionales, Musik kannst du nicht rechnen. Das hat etwas mit Gefühlen zu tun und die passen nicht in Einsen und Nullen. Auf der anderen Seite sind wir eine Firma, die Mitarbeiter und Büroräume bezahlen muss, die gucken muss, dass der Laden weiterläuft. Das machst du über eine Vorausplanung, in der du überlegst, dass gegen Ende des Jahres eine Keemo-Platte kommt, und über die Jahre zuvor errechnest du, wie viel Umsatz das ergeben könnte. Jetzt ganz stumpf heruntergebrochen. Wenn ein Album dann aber ganze zwei Jahre später kommt, merkst du das irgendwann. Da gab es auch Streit mit Frankie und Keemo, klar. Wir haben irgendwann gesagt: "Jungs, ihr wisst, wir wollen euch keinen Stress machen und geben euch den Freiraum, aber …" und die sind natürlich an die Decke gegangen. (lacht) Es ging ihnen damals schon überhaupt nicht gut, die wollten die Platte natürlich selbst unbedingt fertig machen. Sie haben uns auch gesagt, sie fühlen sich schon schlecht, weil sie das Album nicht final bekommen, und jetzt kommen auch noch wir an und "drohen"! Wir wollten aber nie drohen. Wir hatten nur wirklich irgendwann einen Zeitdruck, auch wegen laufender Studiokosten. Das ist immer ein Drahtseilakt. Wie man da die Balance hält, weiß ich auch nach all den Jahren nicht. Ich weiß nur, dass wir mehr Geduld haben als beispielsweise Major Labels … Ohne sie immer als die Bösen hinstellen zu wollen, aber nach zwei Jahren hätten viele die Studiokosten vermutlich nicht mehr getragen. In dem Fall war es gut, ihnen die Zeit zu lassen.
MZEE.com: Na gut, mit Künstlern, die zu lange für ein Album brauchen, habt ihr echt genug Erfahrung. (beide lachen) Es ist mit Sicherheit förderlich, aber auch mutig, den Künstlern so viel Freiraum zu schaffen. Woher kommt die Sicherheit, dass ein solch antizyklisches Release wie das Konzeptalbum von OG Keemo tatsächlich Erfolg bringt?
Sebastian Schweizer: Ich mache zum Glück nicht das Geld bei uns! Das macht alles der Niko. Ich persönlich bin da immer optimistischer. Ich glaube, das habe ich von meinem Vater oder so. Ich denke immer, dass das schon irgendwie klappen wird. Dass ich ins Grübeln komme und alles schlechtrede, passiert eigentlich selten. Niko ist da viel realistischer und guckt mehr auf die Zahlen, was superwichtig für uns ist, sonst würde das gar nicht funktionieren. Der muss erst mal zwei Zigaretten rauchen, bevor er aufs Konto guckt. (lacht) Du hast keine Sicherheit. In der Musikindustrie hast du sie aber eigentlich nie. Nicht einmal, wenn das erste Album super lief. Dann weißt du trotzdem nicht, ob der Erfolg bei Nummer zwei nicht doch ausbleibt. Die Sicherheit ist eine Mischung aus Hoffnung, Fantasie und ein paar groben Kennzahlen.
MZEE.com: Das Label wird von dir, Niko und Kodimey "Kody" Awokou geleitet. Das Gründer-Trio von Chimperator war aber ein anderes: Christian "Skully" Schädle und Steffen Wendelstein, deine damaligen Partner, haben Chimperator längst verlassen. Gab es bei dir auch mal einen Punkt, an dem du das Label verlassen wolltest?
Sebastian Schweizer: Kody ist auch Gründungsmitglied, der ist von Anfang an mit dabei gewesen. Niko war damals DJ von Maeckes und Plan B und dadurch quasi auch schon immer am Start. Und ja, klar, vor allem in den ersten zehn Jahren gab es den Moment öfter mal. Du musst dir überlegen, etwas eine Dekade lang zu tun, jeden Tag, und kein Geld damit zu machen. Natürlich gab es nur Stress und man fragt sich, warum man das alles eigentlich macht. Auch Selbstzweifel, ob die anderen nicht besser sind und warum man selbst nie das JUICE-Cover ziert, spielen eine Rolle. Unser Glück war, dass diese Momente nie zeitgleich bei allen erreicht wurden. Unter uns dreien gab es immer mindestens einen, der weitermachen wollte, wenn die anderen beiden keinen Bock mehr hatten. Damals haben uns die kleinen Erfolgserlebnisse auch schnell wieder aufgebaut: "Ein Interview in der JUICE? Boah, krass, jetzt geht es ab!" Dann kam Carlo, das war der riesigste Boost, aber auch bei der Trennung von CRO haderte man wieder mit sich, ob das alles weitergeht. Selbst heute, wenn man sich über so was wie das Keemo-Album streitet. Ich finde Streit superdoof, das macht keiner Seite Spaß. Da denkst du dir auch, ob man inzwischen nicht zu alt für den Scheiß ist. Was aber bleibt, ist das Gefühl, nach 20 Jahren einen großen Katalog zu haben. Zu wissen, dass regelmäßig Geld reinkommt und es geregelt weitergehen kann.
MZEE.com: Zum Abschluss vielleicht noch mal genau nachgehakt: Welche Beweggründe treiben dich dazu an, seit über 20 Jahren dabeizubleiben?
Sebastian Schweizer: Wir leben inzwischen in verschiedenen Städten, haben alle eine Familie. Aber natürlich schaut man regelmäßig zurück, telefoniert täglich und erinnert sich, was man alles gemeinsam erlebt hat. Dass man sich aufeinander verlassen kann. Das ist das Hauptgefühl. Es geht immer weiter, schon seit unseren ersten gemeinsamen Auftritten. Auch wenn das jetzt wie der klassische HipHop-Opa klingt, aber ganz ehrlich: Wie krass ist HipHop als Kultur? Was man schaffen und erreichen kann? Ich will HipHop irgendwie etwas zurückgeben, diese Mucke hat so viel für mich getan.
MZEE.com: Die einzige Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss?
Sebastian Schweizer: Genau. (lacht) Das ist das Gefühl. Seit über 20 Jahren.
(Sven Aumiller)
(Fotos von Delia Baum)