Jeder kennt sie und früher oder später trifft sie nahezu alle: die Trauer. Mal sind es nur kurze Augenblicke, mal lange Zeiträume, in denen sie Menschen begleitet. Manch einer kommt sehr gut damit klar, anderen fällt es eher schwer, mit der eigenen Trauer umzugehen. Zwei Begriffe stehen dabei stets in enger Verbindung zu diesem Gefühl: Verlust und Erinnerung. Der Verlust umfasst dabei verschiedenste Dinge. Zum Beispiel den Tod eines geliebten Menschen, das Verschwinden materieller Dinge mit Symbolcharakter oder die Veränderung beziehungsweise das Abhandenkommen sozialer Beziehungen. Bei der Erinnerung an diese Verluste tritt dann zumeist das Gefühl der Trauer auf. Nicht viele Menschen sind bereit dazu, offen über ihre traurigen Lebensmomente zu sprechen oder sich allgemein diesem Thema zu widmen. Umso mehr freut es uns, dass sich Curse die Zeit genommen hat, mit uns über diese Thematik zu sprechen.
MZEE.com: Trauer betrifft nahezu jeden mindestens einmal im Leben. Oft merkt man seinen Mitmenschen ihre Trauer im alltäglichen Leben aber gar nicht an. Erst mit der Zeit fällt auf, wie sehr sie sich verändert haben und sich immer mehr isolieren. Verluste und Trauer können zu Depressionen und anderen psychischen Krankheiten führen. Ab wann, denkst du, wird Trauer zur Krankheit?
Curse: Gute Frage. Ich habe darauf, glaube ich, weder eine klinische noch eine definitive Antwort, denn ich denke, dass das sehr individuell ist. Ich bin kein Psychiater, der ein klinisches Krankheitsbild definieren könnte. Deswegen kann ich nur bei mir selbst gucken und mich fragen: Wo wäre bei mir oder bei einem Bekannten der Punkt, an dem man sagen würde: "Jetzt muss man sich der Sache vielleicht mal ein bisschen anders widmen." Wenn ich versuche, mich der Sache anzunähern, würde ich wahrscheinlich sagen: Bist du für Zeitraum X – das ist wahrscheinlich auch individuell – mit einer so starken Intensität in der Trauer, dass dein Leben über einen längeren Zeitraum auf eine gewisse Art und Weise, die ebenfalls individuell zu definieren ist, so sehr eingeschränkt wird, dass es zu Schwierigkeiten kommt … Dann ist vermutlich der Punkt gekommen, an dem man das zwar nicht unbedingt als Krankheit betrachten, aber sich entscheiden muss, ob man sich Hilfe holt. Dadurch kann man diesen Zustand vielleicht anders verarbeiten, sodass er nicht mehr so einschränkend ist beziehungsweise zu einem integrierten Teil eines normalen Lebens werden kann.
MZEE.com: Es gibt sehr unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Manche sind der Meinung, dass es besonders heilsam ist, mit anderen über den Schmerz zu reden und andere, dass man vor allem viel Zeit mit sich selbst verbringen und in sich gehen sollte. Denkst du, dass eine von diesen beiden Varianten intrinsisch sinnvoller beziehungsweise hilfreicher ist?
Curse: Ich glaube, da ist Mensch zu Mensch verschieden. Beides ist gut, wenn man es auf eine gesunde, proaktive und hilfreiche Art und Weise macht. Wenn ich mich viel mit anderen Menschen umgebe und mit ihnen spreche, kann mir das wahnsinnig dabei helfen, mich von einer Last zu befreien und mir Dinge von der Seele zu sprechen. Wenn ich das aber mache, um mich abzulenken und mich meinen Gefühlen nicht stellen zu müssen, ist es natürlich nicht sehr hilfreich. Die Frage ist daher nicht so leicht zu beantworten. Natürlich kann Ablenkung manchmal völlig in Ordnung sein. Man kann sich nicht 24 Stunden in bestimmten Gefühlen und Situationen aufhalten. Also, kann man schon, aber ist eben nicht immer optimal. Im Stillen ist es genauso. Natürlich ist es ganz wichtig, sich selbst gegenüber sensibel zu sein, Aufmerksamkeit zu entwickeln und auf die eigenen Gefühle zu schauen. Aber auch da kommt irgendwann ein Punkt, an dem man sich nicht nur in den eigenen Gefühlen drehen und immer wieder verstricken, sondern außerdem irgendeine Form von Transformation durchmachen und mit diesen Gefühlen arbeiten sollte. Ich glaube, es ist eine Kombination aus beidem und wahrscheinlich sehr individuell, was wem in welcher Phase besser hilft. Bei mir ist das zum Beispiel so: Ich bin kein Trauer-Experte, aber für mich war der Tod eines guten Freundes damals eine dreigleisige Geschichte. Auf der einen Seite war es meine ganz eigene innere Beschäftigung mit dem Verlust dieses Menschen. Damit zusammen hing auf der anderen Seite meine persönliche Beschäftigung mit Fragen wie: Was ist eigentlich der Tod und wie gehe ich damit um?, "Wie gehe ich mit Vergänglichkeit um? Wie gehe ich damit um, dass Sterben zum Leben und zur Existenz dazugehört? Was bedeutet es, dass es ein absolut unabwendbares Element ist und in welchem Verhältnis stehe ich dazu? Ich habe nachgeforscht, wie wachsam und bei mir selbst ich sein konnte. Wie fühlt sich das eigentlich an? Hab' ich so etwas wie einen Glauben, der mir einen Halt gibt? Oder hab' ich vielleicht überhaupt keinen Glauben? Und tut mir das gut oder nicht? Es ging darum, was das mit mir macht – grundsätzlich. Die zweite Ebene ist mein Verlust dieses Menschen in meinem Leben. Was hat diese Person für mich bedeutet? Was bedeutet es, dass die Person nicht mehr da ist? Die dritte Ebene ist die Frage danach, wie ich für diejenigen da sein kann, denen dieser Mensch noch näher stand. Was genau ist meine Rolle als ihr Freund? Gibt es eine oder gibt es keine? Kann ich seiner Familie oder seiner Partnerin Trost spenden oder einfach für sie da sein? Was ist mein Kompetenzbereich? Was ist okay und was nicht? Für mich hat sich auch die Frage danach gestellt, was genau es für uns als Freunde bedeutet hat – nicht nur in Bezug auf ihn, sondern darauf, wie wir miteinander umgehen. Das war sicherlich hilfreich und heilend für alle von uns im Freundeskreis. Wie wollen wir eigentlich miteinander sein, wenn wir merken, dass es absolut realistisch ist, dass jederzeit jemand von uns nicht mehr da sein könnte? Welche Bedeutung hat Streit und wie ehrlich sind wir untereinander mit dem, was uns bewegt? Wie oft nehmen wir uns mal in den Arm und sagen, dass wir uns lieben? Die Frage danach, was das dafür bedeutet, wie ich mein Leben leben möchte, hat mir bei meiner "eigenen" Trauer extrem geholfen. Was bedeutet dieser Verlust für mich in Bezug darauf, wie ich mit Menschen umgehe, wenn ich weiß, dass sie sterben könnten? Was ist wirklich wichtig und worauf kommt's an? Das hat mir sehr geholfen. Es hat mir nicht das Gefühl gegeben, dass es einen höheren Sinn hatte, dass er gestorben ist. So egoistisch habe ich das nicht gesehen. Aber dadurch, dass er gestorben ist, haben wir gemerkt, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Das hat in unserem Freundeskreis dafür gesorgt, dass wir näher zusammengerückt sind und mehr füreinander da waren – sowohl in Bezug auf die Trauer als auch auf unser ganzes Leben. Es war bereits ein paar Jahre vorher so, als ein anderer Freund von mir gestorben ist. Wir haben gemerkt, dass es nicht garantiert ist, dass es ewig so weitergeht, dass wir den Kleinscheiß überwinden und besser füreinander da sein wollen. Es sind leider nicht nur zwei Freunde von mir, sondern mehrere gestorben. Aber es hat jedes Mal diesen Effekt bei uns gehabt.
MZEE.com: Leider kann sich nicht jeder so glücklich schätzen, einen gefestigten Freundeskreis zu haben. Oft hat man das Gefühl, Menschen, die kürzlich jemanden verloren haben, nicht zu nahe treten zu wollen und scheut deshalb ein Gespräch über das Thema. Wie gehst du als Außenstehender mit einer solchen Situation um?
Curse: Ich finde es total nachvollziehbar, dass man vor dieser Situation einen Heidenrespekt hat. Man bemerkt die eigene Unzulänglichkeit. Nach dem Motto: "Ach du Scheiße, was soll ich zu der Person sagen? Wie soll ich damit umgehen? Ich will nichts Falsches machen und sage deswegen lieber gar nichts." Ich finde das zunächst mal verständlich. Auf der anderen Seite kann man sich sagen: "Meine Unsicherheit ist in dieser Situation nicht so wichtig wie das, was der andere fühlt und braucht." Was man immer machen kann – und auch das erfordert schon Mut – ist, zu dem Betroffenen zu sagen: "Es tut mir leid, das zu hören. Ich bin komplett verunsichert und weiß nicht, was ich machen soll. Ich möchte dir aber gerne helfen. Gibt es etwas, das du brauchst? Möchtest du reden oder lieber deine Ruhe haben?" Vielleicht sagt diese Person dann: "Ey, danke, dass du fragst. Ja, ich würde wirklich gerne reden." Oder: "Danke, dass du fragst, ich bin aber überhaupt nicht in der Lage, darüber zu reden." Das ist eine Möglichkeit. Die andere besteht darin, den Leuten durch kleine Gesten zu vermitteln, dass man für sie da ist. Man kann zum Beispiel sagen: "Hey, ich bin morgen bei dir in der Nachbarschaft. Ich hab' Pasta gemacht und wenn du möchtest, bringe ich dir einen Pott vorbei." Oder: "Ich bin eh bei dir in der Nähe und hätte morgen zwei, drei Stunden Zeit. Ich weiß nicht, ob du Stress hast, aber wenn du willst, komme ich mal vorbei und räume deine Küche auf." Als vor vielen Jahren die Mutter eines Freundes verstorben ist, sind wir zu Hause bei denen vorbei. Ein paar Jungs haben PlayStation gespielt und zwei, drei von uns haben völlig unauffällig seine Wohnung aufgeräumt, die Küche und die Wäsche gemacht. Einfach, um ihn ein bisschen zu entlasten. Ich bin kein Experte, was das Thema angeht und kann nur aus meiner persönlichen Erfahrung sprechen. Ich glaube, wenn so etwas jetzt bei mir im Freundeskreis passieren würde und eine Person trauern würde, würde ich sie wahrscheinlich fragen, ob sie etwas braucht, ohne ihr die Verantwortung zu geben. Das ist auch so eine Sache, zu sagen: "Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Sag du mir doch, was ich machen soll." Das ist natürlich schwierig. Viel besser ist es, zu fragen, ob derjenige etwas braucht, ob man etwas für ihn tun kann und zu sagen, dass man für ihn da ist. Manchmal benötigt es vielleicht einfach nur die Offenheit, für denjenigen da zu sein und sich nicht der Situation zu entziehen, weil man sich zu sehr seiner eigenen Angst hingibt.
MZEE.com: Spielt das Thema "Trauer" in deiner Tätigkeit als Coach mitunter eine Rolle?
Curse: Im Grunde genommen sind Coaching, Counseling und gewisse Therapieformen offene Felder. Die Menschen wollen über Problematiken sprechen, brauchen Inspiration oder was auch immer. Das heißt, es gibt kein Thema, das ausgeschlossen wäre. Natürlich begegnet mir dort auch das Thema "Trauer". Aber Trauer ist wahnsinnig individuell, so wie sie mir begegnet. Wenn fünf Leute kommen, die über einen Trauerfall sprechen wollen, entwickeln sich die Gespräche vermutlich innerhalb von zwei Minuten in völlig unterschiedliche Richtungen. Es gibt da keine Schablone. Es ist jedes Mal so, dass man sich fragen muss: "Was ist mit dem Menschen, der gerade vor mir sitzt? Wie geht es der Person damit? Wie wirkt sich das in diesem Moment auf diese Person aus? Was spürt diese Person gerade und über welche Aspekte möchte sie sprechen?" Das ist so individuell. Manche Leute denken zum Beispiel darüber nach, was sie dem Verstorbenen nicht sagen konnten und haben Schuldgefühle. Dann bewegt sich das Gespräch in diese Richtung. Andere stellen ihr eigenes Leben grundsätzlich in Frage und sind sehr mit ihrer eigenen Vergänglichkeit beschäftigt. Dann bewegt sich das Gespräch dahin. Wieder andere bekommen Angst um ihre anderen Freunde oder ihre Familie. Vielleicht sagt jemand: "Als ich 15 war, hatte ich einen Trauerfall. Heute bin ich 35, aber das hat mich nachhaltig geprägt. Ich trauere zwar nicht mehr um diesen Menschen, aber die Konsequenzen, die das für mich hatte, begleiten mich bis heute." Es muss nicht immer etwas sein, das vor Kurzem passiert ist. Nach einem einschneidenden Erlebnis können sich gewisse Verhaltensmuster oder Denkstrukturen festsetzen. Wir sprechen ja gerade gar nicht so sehr von Trauer, sondern vom Tod. Aber Trauer ist auch der Verlust einer Freundschaft oder einer Verbindung. Wir können trauern, wenn wir einen Teil von uns selbst verlieren: unsere Unbedarftheit, unsere Unschuld, was auch immer es ist. Traurigkeit, Trauer und Trauerarbeit hängt nicht nur mit dem Tod zusammen, sondern ebenso mit dem Verlust von anderen Dingen.
MZEE.com: Wenn man über emotionalen Schmerz spricht, fällt oft der Spruch: "Die Zeit heilt alle Wunden." Manche Menschen glauben aber auch, dass mentale Wunden niemals komplett verheilen und man sich nur an den Schmerz gewöhnt. Was, denkst du, führt dazu, dass manche niemals darüber hinwegzukommen scheinen?
Curse: Wir müssen darauf achten, wie wir darüber reden. Wir sagen gerade: "Da ist eine Wunde und entweder muss die verheilen oder man muss sich an den Schmerz gewöhnen." Aber ich glaube, wir sehen es zu eng, wenn wir so darüber reden. Es gibt nicht nur diese zwei Optionen. Es kann auch sein, dass über der Wunde eine gewisse Schicht vorhanden ist oder dass sie noch existiert, aber nicht mehr schmerzt. Oder aber die Wunde ist verheilt und es schmerzt immer noch. Es gibt viele Möglichkeiten. Ich benutze ja oft das Wort "Heilung". Aber das bedeutet in diesem Fall nicht, dass irgendetwas verschwindet. Nehmen wir beispielsweise ein traumatisches, einschneidendes Erlebnis – es kann auch etwas aus der Kindheit sein. Das ist ja passiert. Das heißt: Es geht nie weg. Denn dieses Erlebnis ist immer Teil deiner Biografie. Es kann also gar nicht darum gehen, irgendetwas loszuwerden. Stattdessen geht es immer darum, welche Bedeutung man der Sache gibt. Und nicht "Bedeutung" im Sinne von "Wichtigkeit auf einer Skala von eins bis zehn", sondern die Konsequenz dieses Erlebnisses für mein Leben. Das kann sich verändern, transformieren und erweitern. Es kann sein, dass man ein traumatisches Erlebnis hat, das der absolute Horror für einen ist. Da geht es manchmal vielleicht gar nicht darum, zu sagen: "Wie schaff' ich es, dass das nicht mehr der Horror ist?" Sondern: "Kann das zusätzlich noch mehr sein als absoluter Horror? Kann es etwas anderes sein? Ja, es ist scheiße. Es ist der absolute Horror. Aber darf es auch mehr sein?" Beim Thema "Tod" ist es bei manchen Leuten sicherlich gar nicht gewünscht, das zu vergessen oder nicht mehr dran zu denken, da viele sagen: "Dieser Mensch war mir so wichtig. Wenn ich anfangen würde, ihn zu vergessen, würde ich mir das selbst niemals verzeihen." Da geht es nicht so sehr darum, zu vergessen und sich gedanklich abzulenken. Stattdessen fragt man sich: "Wie kann man diesen Menschen, diesen Tod oder diese Sache ehren? Wie kann man das Bedürfnis, nicht zu vergessen, erfüllen und gleichzeitig sein Leben weitergestalten?" Da geht es nicht darum, dass der Schmerz nie vorbeigehen und immer gleich bleiben wird oder die Wunde zu vergessen, nachdem sie verheilt ist. Das ist zu schwarz-weiß. Eigentlich will ich damit leben und einen positiven Umgang damit finden, der all meine Bedürfnisse erfüllt und nicht nur meine Bedürfnisse danach, nicht zu vergessen oder die Person beziehungsweise die Erinnerung an diese zu ehren. Stattdessen muss man einen Umgang finden, mit dem man trotz allem glücklich, gesund und lebensfroh sein kann. Diese Dinge müssen sich nicht unbedingt gegenseitig im Weg stehen. Die können durchaus gleichzeitig existieren und sind miteinander vereinbar. Das ist auch ein Ansatz. Der ist natürlich wieder völlig individuell. Denn man weiß nicht, wer einem gegenüber sitzt. Aber ich glaube, dass es niemanden gibt, bei dem da grundsätzlich die Hoffnung verloren ist. Oder Menschen, bei denen man sagt: "Du wirst die nächsten 30, 40 Jahre immer denselben Schmerz erleiden, wenn es um dieses Thema geht und da wird nie Platz für etwas anderes sein." Das ist kein Urteil für immer, sondern eine Phase und das ist dein bisheriger Umgang damit. Der ist auch in Ordnung. Denn das ist die Strategie, die du erschaffen hast, um mit dieser schwierigen Situation umzugehen. Das war das Bestmögliche, das dir zu dem Zeitpunkt zur Verfügung stand. Du hast gesagt: "Dieses traumatische Erlebnis ist passiert und ich muss jetzt irgendwie damit umgehen." Dann hast du dein Wertesystem und deine persönlichen Eigenschaften genutzt, um erst mal deine eigene Strategie dafür zu finden. Und das ist gut, denn das ist ein intelligenter Umgang mit einer herausfordernden Situation. Das Problem entsteht erst dann, wenn du irgendwann merkst, dass diese Strategie in dem Moment zwar das beste war, das dir zur Verfügung stand und genau richtig war, dir aber nach ein paar Wochen, Monaten, Jahren oder Jahrzehnten in anderen Lebensbereichen im Weg steht und andere Bedürfnisse nicht erfüllen kann. Dann kann man sagen: "Diese Strategie ist wahnsinnig gut und intelligent, aber jetzt haben sich meine Bedürfnisse verändert." Und dann kann man sich überlegen, ob eine neue Strategie Sinn macht, die die neuen Bedürfnisse erfüllt – ohne, dass die alte schlecht ist und man sie loswerden muss. Man kann sich dann fragen: "Gibt es etwas, das beides oder alles berücksichtigt? Gibt es ein Learning, das man dadurch erlangt?" Beim Ressourcen-orientierten Arbeiten ist es so, dass man eben nicht sagt: "Der Umgang damit ist falsch. Das ist schlecht und für immer." Auch bei Traurigkeit oder "schlechtem" Umgang mit Situationen kann man immer sagen, dass es im Kern eigentlich intelligente Strategien sind, die man in der Vergangenheit zur Problemlösung aufgestellt hat. Wenn man sich das unter dem Aspekt anschaut, sollte man sich sagen: "Gut, du kannst also intelligente Strategien und hast das auch schon getan. Du hast da Ressourcen und bist smart. Wie kann man darauf aufbauen?"
MZEE.com: Du hast bereits erwähnt, dass es durchaus Strategien gibt, die zunächst hilfreich sind, auf lange Sicht aber nicht den gewünschten Zweck erfüllen. Viele Menschen versuchen, sich bewusst von ihren intensiven Gefühlen abzulenken, quasi vor ihnen zu fliehen, während andere sich nahezu darin verlieren. Beides kann dazu führen, dass man sich das eigene Leben zur Hölle macht. Was, denkst du, führt zu diesen Extremen?
Curse: Diese Strategien sind eben meistens in dem Moment die bestmöglichen, die einem zur Verfügung stehen. Wenn du nicht die Ressourcen hast, dich der Sache anders zu widmen, und anfängst, jeden Tag acht Bier zu trinken, ist das natürlich von außen betrachtet absolut nicht gesund. Aber in dem Moment ist es für dich vielleicht das Bestmögliche, das dir zur Verfügung steht. Wenn man anerkennt, dass dieses Verhalten in dem Moment für etwas gut war, findet man eine ganz andere Herangehensweise. Dann denkt man sich nicht: "Jetzt bin ich ein schlechter Mensch, weil ich es nicht hingekriegt habe, richtig mit meinem Schmerz umzugehen. Dafür muss ich mich auch noch verteufeln. Jetzt kommt das nächste Problem und der nächste Schmerz." Man sollte besser sagen: "Das ist der Umgang, den du damit hast. Das ist das Beste, das dir zur Verfügung stand. Lass uns doch mal gucken, ob das wirklich so ist oder ob es nicht noch andere Dinge gibt, die dir zusätzlich zur Verfügung stehen und sich da miteinbinden lassen." Genauso ist es, wenn man sich total in einen Schmerz hineinbegibt.
MZEE.com: Kommen wir noch mal etwas eingehender auf deine Professionen zu sprechen. Du hast einen Podcast, bei dem es unter anderem um Meditation geht. Die hat ja erwiesenermaßen sehr viele positive Effekte auf diejenigen, die sie praktizieren. Denkst du, dass sie auch in einer Trauerphase hilfreich sein kann?
Curse: Ja und nein. Auch hier gibt es keine pauschale Lösung. Meditation ist erst mal dafür da, die Funktion des eigenen Geistes zu erkennen. Sie ist quasi die Medizin dafür. Darüber hinaus hat Meditation noch ganz viele positive Nebenwirkungen, wie zum Beispiel ein bisschen mehr Klarheit und Ausgeglichenheit. Es gibt eine ganze Reihe von Effekten, die klinisch bewiesen sind. Aber es ist nicht so, dass man sagen kann: "Wenn du das und das hast, dann mach mal diese Meditation." Denn auch Meditation – wie du und dein Geist sich in einem Moment verhalten – ist extrem individuell. Es gibt Momente und Zustände, bei denen ich nicht pauschal sagen würde: "Setz dich einfach mal hin und meditiere!" Denn eine Meditation, die dich ja ganz nah an deine Gefühle und Gedanken bringt, kann in einer schwierigen Situation Dinge erst mal intensivieren. Deswegen gibt es sicherlich Momente, in denen man nicht pauschal sagen kann, dass eine halbstündige Meditation weiterhilft – vor allem bei Menschen, die nicht seit Jahren meditieren, sehr geübt darin sind und diese Zustände kennen. Meditation ist erst mal das Erkennen des eigenen Geistes, der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt und des eigenen Selbst. Das ist immer gut und hilfreich, da es generell dabei helfen kann, mit schwierigen Situationen besser umzugehen und mehr Ausgeglichenheit, Klarheit und Schärfe in Sachen hineinzubringen. Natürlich würde ich es jedem empfehlen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und zu meditieren. Aber in akuten Situationen kann es auch sein, dass vorerst etwas ganz anderes wichtig ist oder viel besser helfen würde, als sich irgendwo still hinzusetzen und sich mit dem eigenen Geist zu beschäftigen. Prinzipiell ist Meditation immer etwas Großartiges und fantastisch. Aber in ganz speziellen und spezifischen Situationen gibt es oft andere Dinge, die wichtiger sind und eine Grundlage dafür schaffen, dass man zu sich kommt und nach einer traumatischen Situation ruhiger wird. Anschließend kann man dann Meditation nutzen, um herauszufinden, wie man grundsätzlich ist und wie man sich seine Welt konstruiert.
MZEE.com: Musik spricht man eine sehr heilsame Rolle zu. Welche Rolle spielt Musik für dich in der Bewältigung von schwierigen Lebensphasen?
Curse: Eine riesige. Musik ist für mich wie eine Art Gefühlsbeschleuniger. Bestimmte Musik wirkt auf mich wahnsinnig beruhigend, andere wiederum aufputschend. In manchen Situationen, in denen es mir nicht gut geht, will ich mich ablenken oder hochpushen. Dann weiß ich genau, welche Platte ich auflegen werde. In anderen Situationen möchte ich vielleicht zu mir selbst finden und brauche Ruhe, Wärme, Sicherheit oder ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit. Da weiß ich ebenfalls, welche Platte ich auflegen muss. Musik ist wunderschön und eine riesige Hilfe bei intensiven emotionalen Zuständen. Wir sprechen gerade viel über Gedanken und Strategien. Aber auch körperliche Bewegung ist wahnsinnig hilfreich. Bei mir ist es zum Beispiel so, dass die Kombination aus Musik und dem Körperlichen Wunder bewirkt. Manchmal leg' ich mich hin und spüre in meinen Körper hinein, ob es vielleicht eine Stelle gibt, die total verspannt ist. Dann massier' ich mir beispielsweise die Schultern und versuche, Kontakt mit dem Körper aufzunehmen. Oder ich mach' mir Mucke an und beweg' mich einfach ein bisschen und tanze. Ich mach' die Jalousien runter – dann sieht mich keiner und erklärt mich für komplett bescheuert. (schmunzelt) Dabei kann ich super den Frust rauslassen. Über Körper und Musik kann ganz viel passieren. Und das steht uns jederzeit zur Verfügung. Wir alle kennen das. Du läufst durch die Straßen, hast Kopfhörer auf und auf einmal verändert sich die ganze Welt. Das ist wie ein Film-Soundtrack. Dann hast du ein Album laufen, das dir ein ganz bestimmtes Gefühl gibt. Musik ist superhilfreich dabei, die eigenen Gefühle zu managen. Megagut!
MZEE.com: Das kann ich so absolut unterschreiben! Zum Schluss noch eine recht persönliche Frage: Ist es schon mal vorgekommen, dass dir jemand erzählt hat, dass deine Musik ihr oder ihm in einer Trauerphase geholfen hat? Wenn ja, was macht das mit dir?
Curse: Das passiert tatsächlich häufiger. Was das mit mir macht? (überlegt) Das ist immer eine Mischung aus Freude und Demut. Ich weiß, was Musik mit mir selbst macht und in welchen krassen Krisensituationen sie mir schon geholfen hat – auch Bücher und Kunst allgemein. Dann reflektiert zu bekommen, dass das, was ich mache – mit all den Filmen, die ich mir fahre, wie "das ist nicht gut genug …" und "hier hab' ich nicht cool genug eingerappt" und bla bla bla – anderen Menschen geholfen hat, lässt meinen eigenen Stress, den ich mir mache, völlig überflüssig erscheinen. Da merk' ich, dass ich gar nicht so wichtig bin und das find' ich echt gut! Das meine ich mit "Demut". Da geht's unterm Strich eben nicht um mich, sondern um die Mucke und um das, was durch sie hindurchfließt. Denn ich hab' den Song ja nicht über die spezifische Situation der anderen Person geschrieben, sodass ich mir denke: "Ich hab' den Song korrekt geschrieben, dass er genau da hilft!" Ich hab' einfach Mucke gemacht und jemand anderes hört das zum richtigen Zeitpunkt im Leben, befindet sich am richtigen Ort und es passiert etwas. Da geht's nicht um mich und ob ich jetzt ein cooler Typ bin oder so, sondern um die Kraft von Musik, von Melodien und Worten. Das bringt mich immer wieder dazu, mir zu sagen: "Ganz ehrlich, nimm dich nicht so wichtig. Mach einfach!" Und zum anderen eben diese Freude. Das Schönste, das Musik mir geben kann – nämlich Unterstützung in meinem Leben – kann meine Musik anscheinend auch anderen Menschen geben. Und das ist für mich das schönste Kompliment und die größte Freude am Musikmachen. Es ist ganz schwer, diese Mischung zu beschreiben. Es ist Freude darüber, dass ich in meinem Zimmer etwas gemacht habe, das so eine Emotion bei jemand anderem auslöst. Und es ist das Wissen, dass es nicht daran liegt, dass ich das so geil gemacht habe und voll der krasse Typ bin, sondern weil es mit Musik einfach so passiert.
(Steffen Bauer)
(Fotos von Kreuzberger Kind)