Wie werden wir zu dem, der wir sind? Den größten Einfluss darauf hat wohl unsere direkte Umgebung: der Ort, an dem wir aufwachsen und die Menschen, die uns auf unserem Lebensweg begleiten. Doz9 beschreibt seinen Weg und das Aufwachsen in der Kleinstadt Templin in Brandenburg auf dem neuen T9-Album "90/10" so klar wie selten zuvor. Grund genug für uns, mit dem Rapper darüber zu sprechen, welche Umstände, Menschen und Entwicklungen ihn sozialisiert und geprägt haben: Dazu zählen eine Kindheit ohne Vater in Templin, Auseinandersetzungen mit Nazis in der Jugend und eine HipHop-Sozialisation aus dem Lehrbuch.
MZEE.com: Auf "Form 1" rappst du: "Ich wuchs wie jeder andere auf – bis zur Wende, dann sah das anders aus." – Du sprichst in dem Song unter anderem über das Aufwachsen und deine frühe Sozialisation in Brandenburg. Wie hast du deine Kindheit dort erlebt?
Doz9: Es war nach der Wende schon deutlich spürbar, dass viele Menschen Probleme damit hatten, ihre Jobs zu behalten oder neue zu finden. Da fand ein struktureller Wandel statt. Das war ein einschneidender Moment, der in meinem Familienumfeld einen Abschnitt mit neuen Herausforderungen eingeleitet hat. Die "Form"-Songs lassen sich wie ein Zeitstrahl interpretieren, der die einzelnen Phasen auf meinem Lebensweg abhandelt. Der erste beschäftigt sich mit krassen und negativen Momenten, die mich geprägt haben und aus denen ich gelernt habe. Der zweite zeigt, was mich in der gleichen Zeit positiv, insbesondere kulturell, beeinflusst hat.
MZEE.com: Du erzählst auf dem ersten Song, dass du sehr früh als "Mann im Haus" Verantwortung übernommen hast, weil dein Vater von Zuhause wegging und deine Mutter viel arbeiten musste. Konntest du trotzdem eine "normale" Kindheit erleben?
Doz9: Ich hab' früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Aber meine Mutter hat ihr Möglichstes getan, um mir eine coole Kindheit zu ermöglichen. Das hat sie auch geschafft. Aber natürlich ist es sowohl als alleinerziehende Mutter als auch als Sohn ohne erziehenden Vater hart. Du wächst anders auf als in der "klassischen" Familie.
MZEE.com: Inwiefern hat dich das Fehlen einer Vaterfigur beeinflusst?
Doz9: Meine Mum hat nach einiger Zeit einen neuen Partner gefunden, der probiert hat, als Stiefvater für mich da zu sein. Der hat mir auf jeden Fall sehr viel mit auf den Weg gegeben und ich bin ihm für vieles dankbar. Vor allem dafür, dass er da ist.
MZEE.com: Kannst du bestimmte Werte und Verhaltensweisen, die du heute an den Tag legst, auf die Umstände in deiner Kindheit zurückführen?
Doz9: Eine bestimmte Form von Resilienz auf jeden Fall. Meine ganze Attitüde ist lebowskiesk (Anm. d. Red.: Anspielung auf den "Dude" aus der Komödie "The Big Lebowski"), könnte man sagen. Es gibt diese Szene, in der der Dude mit dem anderen Lebowski in der Limousine sitzt und ziemlichen Stress hat, sich darüber aber nicht den Kopf zerbrechen will. Es ist eine Lebenseinstellung, manche Dinge einfach zu akzeptieren. Jeder, wirklich jeder Mensch hat sein Paket zu tragen. Niemand bleibt verschont davon. Auch bei "Pretty White Germany"-Familien, wie ich sie jetzt mal nenne, ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Überall ist Dreck, etwas Schlimmes oder Trauriges unter der Fassade. Früher oder später begegnet einem die Tragik des Lebens und jeder muss irgendwie damit umgehen. Wir alle werden einmal unsere Eltern verlieren. Das gehört zu den Prüfungen des Lebens. Ich glaube, dass ich einen guten Weg gefunden habe, nicht verrückt zu werden.
MZEE.com: Ohne die Situation romantisieren zu wollen: Meinst du, dass sich diese Resilienz eher ausprägt, wenn die Umstände in der Kindheit nicht so leicht sind?
Doz9: Ja, im Endeffekt kann man das als Abhärtung bezeichnen. Ich würde aber nicht alles von der finanziellen Situation abhängig machen. Wir hatten nicht megaviel Kohle, aber uns ging es auch nicht superschlecht. Da findest du ganz andere Orte auf der Welt, an denen es dir finanziell wirklich schlecht geht. Uns ging es den Umständen entsprechend – wie es eben ist, wenn eine alleinerziehende Mutter alles regelt. Das hat aber nie meine Lebensqualität beeinträchtigt. Wir haben direkt am Wald gewohnt, es gab überall Seen und so weiter. So gesehen hatte ich eine ziemlich geile Jugend.
MZEE.com: Wie wurdest du im Umgang mit Geld sozialisiert?
Doz9: Das Einzige, was ich mir tatsächlich gönne, sind Platten. Ich konsumiere sonst nicht viel, ich kaufe ab und zu mal ein paar Klamotten und eben Vinyl. Die meiste Zeit meines Lebens war ich mehr oder weniger broke, Geld war immer limitiert. Jetzt mit Familie musst du einfach einen anderen Weg gehen und einen Geldfluss erzeugen. Aber ich bin nicht so der Horter. Geld muss in Bewegung bleiben. Bei den aktuellen Zinsen ist es fast das Schlechteste, zu sparen, finde ich. Du hast auf jeden Fall mehr davon, dein Geld in irgendetwas zu investieren. Eigentlich müsste man Kredite aufnehmen.
MZEE.com: Du arbeitest ja auch weiterhin und lebst nicht nur von der Musik.
Doz9: Ich brauch' das. Zum einen, um in Bewegung zu bleiben und Input zu bekommen und zum anderen natürlich auch als Absicherung. Sieh dir die aktuelle Situation an: Vielen meiner Musiker- und Künstlerkollegen bricht gerade alles weg. Ich bin froh, ein zweites Standbein zu haben. Da bin ich zwar auch in Kurzarbeit, aber es geht klar. Ich muss keine vierzig Stunden in der Woche arbeiten, aber ich brauche zwischendurch eine seriöse Beschäftigung.
MZEE.com: Daran schließt der Song "Funktionieren" an. Er handelt vom Leben in einer Leistungsgesellschaft, in der jeder etwas von einem möchte. Belastet dich das oder kannst du damit gut umgehen?
Doz9: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits brauche ich das irgendwie. Du musst einfach funktionieren, wenn du Familienvater bist, normal arbeitest und nebenbei noch Mucke machst. Da bleibt wenig Zeit für Schlaf übrig. Ich stehe jeden Tag um halb sieben auf, am Sonntag manchmal noch früher. Ausgerechnet am Sonntag. Ich hab' immer Programm. Andererseits beschwere ich mich auf dem Song natürlich ein bisschen. Wir leben eben in einer flüchtigen Gesellschaft, in der alles nur auf Druck, Leistung und Output getrimmt ist. Im Endeffekt müssen wir funktionieren, wenn alles funktionieren soll.
MZEE.com: Denkst du, dass dir das Funktionieren leichter fällt, weil du schon früh Verantwortung übernehmen musstest? Wird es über die Jahre immer anstrengender?
Doz9: Ich glaube, meine Einstellung rührt daher, dass ich manche Sachen anders als mein Vater machen möchte. Viele fordern von dir, ein Mann zu sein. Aber was definiert einen Mann? Für mich heißt das in erster Linie, für seine Familie da zu sein – mit vollem Involvement. Darauf spiele ich mit dem Song auch an. Als Familienvater hast du einfach weniger Zeit als vorher, aber die Zeit, die du hast, nutzt du ganz anders. Das beflügelt dich auch kreativ auf einem ganz neuen Level. Du hast ein anderes Mindset, auch wenn das blöd klingt. Werte verschieben sich, es sind andere Dinge wichtig.
MZEE.com: Lass uns über deine Jugend sprechen. Welche Umstände und Entwicklungen haben dich in dieser Zeit geprägt und sozialisiert?
Doz9: Templin und überhaupt Brandenburg waren fürchterlich braun. Unsere Generation war zumindest gefühlt die erste, die damit gebrochen hat. In der sechsten, siebten Klasse sind wir alle richtig schlimm auf HipHop hängengeblieben. Wir waren die erste Breakdance-Gang in Templin und gut connectet mit Leuten aus Prenzlau, Eberswalde und Berlin. Wir haben selbst mit Fresh N Attack (Anm. d. Red.: eine der ältesten noch bestehenden Breakdance-Crews in Deutschland) trainiert. Da ging echt was. Es war schon prägend, in dieser Richtung aktiv zu sein. Das hat uns den Respekt bei den Älteren eingebracht. Abgesehen von uns gab es in Templin sonst noch eine einzige Graffiti-Gang. Und das war auch keine richtige Gang, die haben halt mal ein, zwei Graffitis gemacht. (lacht) Aber die haben das irgendwie auch gefühlt. Dadurch haben sich die Generationen, die damals von den Älteren ausgelacht wurden, verbunden. Irgendwann konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tanzen und bin zum Rap gekommen. Der große Bruder von einem Kumpel konnte mir als Einziger wirklich etwas über HipHop erzählen und mich tiefer in diese Welt eintauchen lassen. Ansonsten bist du ohne Internet in Brandenburg froh gewesen, wenn du Styles P und Jadakiss hören konntest. Das war für uns der Untergrundscheiß. (lacht) Um das Jahr 2000 rum hatten wir dann eine Rap-Gang. Das war eine wilde Zeit. Seitdem habe ich alle meine Lebensentscheidungen zumindest ein Stück weit Richtung Rap ausgerichtet. Wenn ich von einer Stadt in eine andere gezogen bin, hatte ich immer im Hinterkopf, was mir das musikalisch bringen kann.
MZEE.com: Das ist schon eine sehr klassische HipHop-Sozialisation und wahrscheinlich auch anders, als das heute meist läuft.
Doz9: Ja, ich würde tatsächlich sagen, dass wir den letzten Rest mitbekommen haben. Mit diesen ganzen alten Deutschrap-Schinken kann ich nichts anfangen, aber die Werte, die damals vermittelt wurden, was Realness und so weiter angeht … (lacht) Die habe ich schon krass mitgenommen.
MZEE.com: Aber ansonsten hat dich eher US-Rap geprägt?
Doz9: Teils, teils. An das Release von "Deluxe Soundsystem" erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Darauf haben wir damals sehr geflasht. (lacht) Dendemann hat mich auch krass geprägt. Ich hab' lange gebraucht, um sowas wie Die Sekte und Savas zu verstehen, diesen ganzen Aggro-Vibe. Aber die alten KKS-Sachen habe ich dann schon schwer gepumpt, Creutzfeld & Jakob und so weiter auch.
MZEE.com: Hat dich HipHop auch politisch beeinflusst?
Doz9: Du musstest dich mehr oder weniger entscheiden, welcher Gruppierung du angehören wolltest. Willst du ein Nazi sein, willst du auf Techno oder Punker sein oder willst du ein Baggyhosen-Träger sein? Egal, ob du Techno, Punk oder HipHop gefeiert hast: Für die Nazis warst du auf jeden Fall der Feind. Ausländer gab es bei uns nämlich nicht. Das ist ja das Absurde: In diesen ganzen Käffern, auch in Mecklenburg-Vorpommern und so weiter, in denen du eine richtig krasse Nazidichte hast, gibt es quasi keine Ausländer. Vielleicht ein paar Russlanddeutsche, das war's. Das war so paradox. Wir haben uns proaktiv gegen die Nazis entschieden. Ich erinnere mich noch an eine Veranstaltung gegen Rechts in Eberswalde um 2002 herum mit Spax, Blumentopf, Torch und Clueso, der damals sogar noch gerappt hat. Da sind wir als Tänzer aufgetreten.
MZEE.com: Welche Rolle spielt diese Sozialisation heute in deinem Leben?
Doz9: Ganz ehrlich: Ohne Rap würde ich nicht die Freunde haben, die ich jetzt habe und ich würde nicht aussehen, wie ich aussehe. Ich würde nicht dort wohnen, wo ich wohne und nicht die Frau und das Kind haben, die ich habe. Das alles ist mehr oder weniger durch die Entscheidungen entstanden, die ich im Zusammenhang mit Rap getroffen habe. Ich bin niemand, der rumhängt. Meine Freunde sind die Leute, mit denen ich Musik mache oder an irgendetwas arbeite. Ich hab' gar nicht die Zeit, um irgendwo rumzuchillen. Von daher sind Rap und HipHop in meinem Kosmos nahezu omnipräsent. Selbst die Leute, die nichts mit Rap zu tun haben, sind Musiker, schaffende Künstler, Tänzer oder Fotografen.
MZEE.com: In diesem Kosmos gibt es ja oft automatisch ein ganz anderes Verständnis untereinander.
Doz9: Natürlich. Wenn ich mir Leute reinziehe, mit denen ich damals in einer Klasse war … Manche von denen würden über mich wahrscheinlich sagen: "Guck dir den Typen an, der raucht immer noch Joints und rennt in einer Jogginghose rum." Die haben dafür vielleicht kein Verständnis. Deren Traum ist es, auf dem Dorf ein Haus zu bauen und den Familienbetrieb zu übernehmen. Genauso verstehe ich es nicht, wenn jemand mit nicht mal 35 das Leben eines 45-Jährigen lebt. Da gibt es auf beiden Seiten Unverständnis.
MZEE.com: Das sind einfach ganz unterschiedliche Lebensentwürfe.
Doz9: Ich respektiere auch jedermanns Lebensentwurf. Wenn du gutbürgerlich in einem Haus leben und das nach Schema F durchziehen willst, dann mach das. Hauptsache, du bist glücklich. Jeder sollte das machen, was sich für ihn richtig anfühlt und seinem eigenen Glück folgen. Man kann über meinen Lebensstil denken, was man will, ich bin absolut im Reinen mit mir. Ich finde es immer gut, sich ein Stück Kindsein zu bewahren.
MZEE.com: Ich würde mit dir zum Abschluss gern über deine musikalische Sozialisation sprechen. Welche Musik lief bei euch zu Hause?
Doz9: Ohne ansatzweise schlecht über meine Eltern reden zu wollen: Die haben einen krassen Trash-Musikgeschmack. Da war von Blue System über Modern Talking bis Tina Turner alles dabei. Von väterlicher Seite kam noch Neue Deutsche Welle dazu, das hab' ich früher viel gehört. Aber von klassischem 60er- und 70er-Soul waren meine Eltern weit entfernt. (lacht) Musikalisch geprägt hat mich meine erste Zeit in Dresden. Ich hab' in einem HipHop-Store gearbeitet und ein Kollege dort hat mir alles gezeigt: MF Doom, Kool Keith, Antipop Consortium und so weiter. Vorher war ich krass auf Wu-Tang hängengeblieben, die hab' ich studiert. Aber als der mir den Stones Throw-Shit gezeigt hat, war alles vorbei. Die ersten Onyx-Alben haben mich auch krass geprägt. Und dann wurde es immer abstrakter mit den ersten Flying Lotus-Sachen, Hudson Mohawke und Ähnlichem. Mittlerweile hör' ich privat eigentlich kaum noch Rap. Natürlich kaufe ich viele Rap-Platten und hör' mir die auch an, vor allem die meiner Kollegen. Aber in meiner Freizeit höre ich eher progressive Sachen und auch viel Dub. Reggae hat mich schon immer begleitet. Ich weiß nicht, warum. Wir haben früher Lee "Scratch" Perry gefeiert, davon komme ich heute auch nicht weg. Dub-Platten sind, glaube ich, mein zweitmeistgekauftes Genre. Zur Schaufel und Spaten-Zeit hatten wir eher die Attitüde, nicht nach links und rechts zu gucken. Durch die Arbeit mit Torky und die Art, wie er produziert, konnte ich meine Sichtweise auf das Musikmachen erweitern. Ich setze mir jetzt nicht mehr so viele Grenzen. Früher hab' ich alles sofort gehasst, was mir annähernd wack erschien. Heute geb' ich allem zumindest eine Chance. Aber mein Gespür für Wackness ist immer noch stilsicher.
MZEE.com: Die Gefahr der Wiederholung ist bei euren aktuellen Releases auf jeden Fall eher weniger gegeben.
Doz9: Ohne uns selbst beweihräuchern zu wollen, finde ich, dass Torky und ich es geschafft haben, zwar immer anderen Sound zu machen, aber trotzdem einen eigenen Stil zu behalten. Der vermischt sich mit wildem Rumprobieren und damit, sich neu zu erfinden, ohne zu verkrampfen oder hinter irgendetwas herzurennen.
MZEE.com: Am Anfang haben wir über deine Kindheit gesprochen, lass uns zum Schluss noch kurz in die Zukunft blicken: Welche Werte und Musik willst du deinem eigenen Kind mitgeben?
Doz9: Auf Rap flippt er noch nicht so richtig. Wobei, wenn er das hört, nennt er es immer "Papa-Musik". (lacht) Er mag Reggae und Dub auf jeden Fall. Mit diesem fröhlichen Vibe und dem Schunkelrhythmus können Kinder gut umgehen. Eine Westside Gunn-Platte mit ihren trägen Beats ist für Kinder, glaube ich, nicht so turny. Ich will den gar nicht in irgendeine Richtung zwängen, damit erreichst du oft nur das Gegenteil. Er soll hören, was er will. Solange es nicht Gabba wird, ist alles okay. Er kann meinetwegen auch ein Metalhead werden. Gute Musik ist Genre-übergreifend. Ich glaube, mit dem, was er hier zu Hause hört, kriegt er schon einen guten Mix aus kontemporärer und traditioneller Musik in die Wiege gelegt.
MZEE.com: Und auf persönlicher Ebene?
Doz9: Er soll sich einfach gerade machen. Und auf der Straße wird nicht getrödelt. (lacht)
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Jerome Reichmann)