Deutschrap – ein Genre, das besonders in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit generieren konnte und nach wie vor an Beliebtheit dazugewinnt. Für viele Kids ist die Musik das Gesprächsthema Nummer eins auf den Schulhöfen, die Charts werden immer häufiger von deutschen Rappern angeführt und wir bei MZEE schreiben uns die Finger über unser Lieblingsgenre wund. Was sich zuerst nach einer großen gemeinsamen Leidenschaft anhört, könnte aber aktuell vielseitiger kaum sein: Viele neue Charaktere, Soundbilder und eine allgemein völlig neue Herangehensweise an die Musik sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Newcomer starten immer schneller durch und ernten besonders von der Alten Schule Kritik. Wie diese genau aussieht, ob sie berechtigt ist und wie die neue musikalische Bewegung der Rapper unser Genre beeinflusst, erfahrt Ihr in diesem Artikel.
Wir schreiben den 13. Dezember 2017. Etwa 5 000 Zuschauer warten in der Sporthalle Hamburg auf die dritte Auflage des Red Bull Soundclashs. Das erste Mal stehen sich nicht nur verschiedene Gruppen oder Interpreten, sondern Vertreter zweier Rap-Generationen gegenüber, wie sie unterschiedlicher wohl kaum sein könnten. Samy Deluxe, Eko Fresh und Afrob treffen auf das Team New Level, welches von Crack Ignaz, LGoony und Soufian gebildet wird. Drei junge Rapper, die mit ihren innovativen Sounds noch nicht lange im Fokus der Szene stehen, treffen auf drei Urgesteine des Deutschraps, die sich bereits mit etlichen Releases und Liveshows einen Namen gemacht haben. Nun sollen beide Parteien in insgesamt vier Kategorien gegeneinander antreten. Doch noch bevor das Team New Level überhaupt seinen ersten Song performt, wird allen Anwesenden schnell klar, dass den drei Jungs ein schweres Auswärtsspiel bevorsteht. Nicht nur, dass der Soundclash in Hamburg stattfindet und hinter Kontrahent Samy Deluxe seine Heimatstadt steht, gefühlt sind auch 80% der Besucher wegen ihm da. Dementsprechend begleiten sie alle Aktionen der neuen Generation mit einer vehementen Antihaltung, lauten Pfiffen und Buhrufen. Während beide Teams sich auf den Bühnen gegenüberstehen und ihre Shows abliefern, werden hier und da gegenseitige Sticheleien ausgetauscht. Nach etwas mehr als einer Stunde geht Samy Deluxe noch einen Schritt weiter – und zwar in Form eines knapp fünfminütigen A cappellas. Mit seiner Line "Ihr seid weder talentiert noch seid ihr gute Performer, noch seid ihr textlich versiert" spricht das Rap-Urgestein vielen Kritikern im Internet und in der Crowd aus der Seele.
Um die Dramaturgie des Abends komplett verstehen zu können, muss man noch einen Blick weiter zurückwerfen. Im Deutschrap ist seit den 80er-Jahren bis heute viel passiert. Nimmt man die Entwicklung genauer unter die Lupe, so kann man sogar von einem der sich am stärksten und schnellsten wandelnden Genres sprechen. Angefangen mit Künstlern wie den Fantastischen Vier, die zu Beginn viel Kritik aus der Rapszene erhielten und vorerst nicht als Teil dieser akzeptiert wurden, doch in den 90ern mit dem Track "Die Da!?!" die Charts stürmten. Gefolgt von der hungrigen Hamburger Szene um Fettes Brot, Beginner oder Samy Deluxe, die besonders durch die Aggro Berlin-Ära Gegenwind aus der Hauptstadt erfuhr. Die neuen Rapper fielen besonders durch ihre harten sowie provokanten Texte und durch eine Gangsterattitüde auf, wie es sie in Deutschland zuvor noch nicht gegeben hatte. Die Szene wuchs weiter und immer mehr Künstler probierten sich aus. Als dann 2012 der Stuttgarter Carlo Waibel alias Cro mit seinem Debütalbum "Raop" die deutschen Charts stürmte, brach er damit einige Tabus, die sich Rapper in der Vergangenheit image- und soundtechnisch auferlegt hatten. Mit seinem poppigen Sound machte er Deutschrap so massentauglich wie nie zuvor. Damit seien nur ein paar Meilensteine genannt, durch die das Genre heutzutage so klingt, wie wir es kennen. Neue und spannende Interpreten mit unterschiedlichsten Einflüssen, die von Dancehall-lastigen Hymnen für die Clubs bis hin zu trappigen Brettern für den Live-Abriss alles mitbringen. Was sich zuerst wie ein Segen für die ganze Szene anhört, stößt aber besonders dem ein oder anderen Anhänger der Alten Schule negativ auf.
Immer öfter werden Newcomer dafür kritisiert, dass sie sich mehr und mehr von den Werten entfernen, über die sich Rapper in den Anfängen noch definiert haben. Während Samy Deluxe aus einer Zeit kommt, in der man mit aufwendigen Flows und Lyrics versucht hat, zu überzeugen, schmeißt ein komplett in Markenklamotten gekleideter LGoony in seinen Tracks "lila Scheine durch die Lobby". Dabei bedient er sich einer Arroganz, die so manchem schon respektlos erscheinen mag. Eine Sache stößt dem Hamburger Urgestein dabei besonders negativ auf: die Live Performances vieler neuer Rapper. Vor dem Soundclash kritisiert er in einem Interview, dass sich immer weniger Künstler entwickeln und verbessern, bevor sie auf den großen Bühnen auftreten: "Die haben einen Hit auf YouTube und dann sind die sofort bei allen Festivals." Auch Fler und Jalil kritisieren in einem HipHop.de-Interview, dass es "kaum noch Reime [und] anspruchsvolle Texte" gäbe. Doch muss man an dieser Stelle schlichtweg einsehen, dass das auch gar nicht mehr der Anspruch vieler aufstrebender Rapper ist. "Inhalt ist eigentlich gar nicht so wichtig. Es geht darum, wie man das, was man sagt, rüberbringt", so LGoony im ARTE-Interview. Rapper Marteria sieht in der aktuellen Bewegung eine Art Generationenkonflikt. In einem BACKSPIN-Interview stellt er die These auf, dass ein Großteil der aktuellen Musik infolge einer Trotzreaktion entsteht – ähnlich wie bei Kindern, die alles Erdenkliche unternehmen, nur um nicht so wie ihre Eltern zu werden. "Genau deswegen hole ich mir den fake Balenciaga-Scheiß", so Marteria.
Die Buhrufe vom Soundclash hallen noch bis heute nach. Immer wieder wird die neue Generation für das, was sie macht, scharf kritisiert. Trotzdem kann man nicht sagen, dass ihre Künstler es wirklich schwer hatten, in einer Szene voll renommierter Größen Fuß zu fassen. Denn die Befürworter und Fans der neuen Rapmusik sind genauso laut wie ihre Kritiker.
07. Juli 2017. Auf dem splash! Festival warten unzählige Menschen an der Zeltbühne auf den Auftritt eines Rappers, der die momentane Bewegung im Rap entscheidend mitgeprägt hat – RIN. Vor der Stage drängen sich alle so eng aneinander, dass man nicht einmal mehr das Handy aus der Hosentasche holen kann, um zu gucken, wann es denn endlich losgeht. Plötzlich kommt DJ und Produzent Minhtendo auf die Bühne und kurz darauf dröhnt der Beat vom Track "Beihbe" aus den Boxen. Während des kompletten Auftritts springt eine riesige Menschenmasse vor der Bühne auf und ab und rappt jeden Track des Bietigheimers lautstark mit. Das Erstaunliche daran: Zum Zeitpunkt seines Auftritts stehen sowohl sein Debütalbum als auch seine erste eigene Tour noch aus. Im kommenden Jahr setzt RIN sein Werk auf dem gefragtesten HipHop-Festival Deutschlands fort – dieses Mal auf der Mainstage. Und während selbst die größten Rapper zeitweise Probleme haben, bei so vielen Menschen die Energie bis in die letzten Reihen zu transportieren, hat man an diesem Tag den Eindruck, dass sich selbst auf den Sitzplätzen kleine Moshpits bilden.
Diese Ereignisse sind nur ein Beispiel dafür, wie viel Liebe und Zustimmung die neue Generation des Raps erfährt. Und diese Liebe geben die Künstler an Deutschrap zurück. Noch nie konnte das Genre solche Erfolge feiern wie heute, noch nie schafften es so viele Deutschrapper in die Charts. Klar, auch die altbekannten Premiumboxen tragen einen Teil dazu bei. Immer mehr Künstler scheinen aber auch verstanden zu haben, dass Rap mehr sein kann als zwei Parts und eine Hook auf einem Jazz-Sample. "Dieses Trapding hat mitgebracht, dass Rap voller Melodien ist", so IMMER.READY-Member Marvin Game in einer Diskussionsrunde über die aktuelle Entwicklung von Deutschrap. Künstler probieren sich aus und versuchen, über den Tellerrand zu schauen. Noch vor zehn Jahren konnten Außenstehende wenig Verständnis für das kontroverse Genre aufbringen. Heutzutage kommt kaum eine Party ohne den ein oder anderen Deutschrap-Song aus. Und dass die neuen Einflüsse nicht nur neue Hörer anziehen, weiß auch Marvin Game. Er führt aus, dass immer mehr Produzenten, Kameraleute oder Grafikdesigner mit Rappern aus Deutschland zusammenarbeiten wollen. Solche Connections verkörpern nicht nur den Grundgedanken der HipHop-Kultur – sie helfen außerdem dabei, die eigene Kunst mit noch größeren Möglichkeiten umzusetzen. "Ich glaub', so viel HipHop wie jetzt gerade gab es in Deutschland noch nie." Man kann über die neue Generation von Rappern denken, was man will – klar ist, dass sie der nächste logische Schritt in der Entwicklung von Deutschrap ist. Seitdem die Künstler in musikalischer Hinsicht offener und experimentierfreudiger geworden sind, was ihre Musik angeht, ist das Genre viel spannender, als es noch vor zehn Jahren war. Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Dichte der Releases ist insgesamt viel höher, was besonders an den neuen Möglichkeiten liegt, die eigene Musik an den Mann zu bringen. Neben den vielen engagierten Musik- und Videoproduzenten ermöglichen das Internet und die Streamingdienste, einzelne Songs oder ganze Alben viel schneller und einfacher für die breite Masse zugänglich zu machen. Das bringt schlussendlich zwar auch viele untalentierte Interpreten ohne eigenen Style hervor, formt aber gleichzeitig auch die nächsten großen Superstars wie beispielsweise einen Capital Bra. Dieser könnte heutzutage auch ohne großen Vertrieb seine Musik veröffentlichen und dabei weiterhin Erfolge feiern. Daran war zu Anfangszeiten des Deutschraps gar nicht zu denken.
Der Wandel ist und wird nicht aufzuhalten sein – das war er noch nie. Laut Musikjournalist Falk Schacht hat Aggro Berlin damals HipHop getötet. Dass er seine Aussage zu einem späteren Zeitpunkt revidierte, macht deutlich, dass es schon immer Gegenbewegungen im Deutschrap-Kosmos gegeben hat und diese manchmal einfach etwas Gewöhnungszeit erfordern. Und wer weiß, über welche neuen Künstler sich ein Capital Bra oder ein RIN in ein paar Jahren beschweren werden …
(Moritz Friedenberg)
(Grafik: Daniel Fersch)
(Foto von RIN: DASDING)