Hiob lässt sich definitiv als lebende Untergrund-Legende des deutschen Raps bezeichnen. Vor mittlerweile fast zwei Jahrzehnten droppte er das erste Tape "Pizza und Pornos", damals noch unter dem Pseudonym "V-Mann", das 2011 erschienene Album "Drama konkret" hat szeneinternen Klassikerstatus. Nach Kollabo-Releases mit seinem Bruder im Geiste Morlockk Dilemma und Pierre Sonality sowie Touren durch das ganze Land werden jetzt, rund sieben Jahre später, die Rufe nach einem Solo-Nachfolger erhört: Am 08. November liefert Hiob "Abgesänge" für die kältere Jahreszeit, noch im gleichen Monat startet die dazugehörige Tour. Im Interview mit uns sprach der Rapper über den Sound und die Inhalte der neuen Platte, die städtische Veränderung Berlins, das Leben in Hamsterrädern und groteske Begegnungen mit Bundestagsabgeordneten in einer Kneipe im Prenzlauer Berg.
MZEE.com: Die Veröffentlichung deiner neuen Platte "Abgesänge" steht an. Um wessen Abgesang genau geht es denn dabei?
Hiob: In erster Linie ist es ein Abgesang auf einen bestimmten Lebensstil, auf dieses exzessive "Fear and Loathing in Las Vegas"-Dasein.
MZEE.com: Siehst du diesen Lebensstil mittlerweile kritischer?
Hiob: Ich habe die kritischen Aspekte in meinen Texten ja schon immer thematisiert. Ich würde nicht sagen, dass ich Drogenkonsum und "Party & Bullshit" durchgehend glorifiziert hätte. Dass die neue Platte jetzt diesen konkreten Titel "Abgesänge" trägt, hat auch mit Ereignissen in meinem Leben zu tun – verbunden mit einer sehr exzessiven Phase, in der viele Konzepte des Albums entstanden sind. Die Ausarbeitung ist dann eher in der Katharsis vonstattengegangen. Man sieht auch einfach, dass man älter wird.
MZEE.com: Dein letztes Album "Drama konkret" erschien 2011. Woher kam die Motivation beziehungsweise der Wunsch, jetzt wieder eine Soloplatte zu machen?
Hiob: Erst mal war ich ja jahrelang vor allem mit Dilemma sehr viel unterwegs und habe auch viel Musik gemacht. So ab Mitte 2015 war bei mir ein bisschen die Luft raus und ich war etwas uninspiriert. Dann hab' ich mit Pierre Sonality noch die "Die Zampanos"-LP gemacht, das war ein lange geplantes Projekt. Parallel schreibe ich eigentlich immer an Sologeschichten. Jetzt hatte sich irgendwie viel Stoff angesammelt und ich hatte wieder etwas zu erzählen.
MZEE.com: Du hast gerade erwähnt, dass du in den vergangenen Jahren vor allem mit Morlockk Dilemma Musik gemacht hast. Auch eure Stile sind vergleichbar. Wodurch unterscheidet sich denn ein Hiob-Soloalbum von einem Hiob & Dilemma-Projekt?
Hiob: Ich denke, dass wir auf den Kollabo-Platten immer versuchen, das große Ganze zu umreißen. Da geht es auch um gesellschaftliche Themen. Ein Soloalbum ist einfach privater, das ist bei Dilemma vermutlich genauso wie bei mir.
MZEE.com: Dilemma ist auf "Abgesänge" dreimal als Feature vertreten, auf der Tour dabei und kümmert sich auch um deine Label-Angelegenheiten. Denkst du, dass du ohne deinen "Partner in Crime" überhaupt noch Lust auf diese ganze Musikchose hättest?
Hiob: Dilemma ist natürlich nicht nur mein musikalischer Partner und Freund, sondern kümmert sich – wie du gesagt hast – auch um alles beim Label, die Promo und so weiter. Um diese Sachen möchte ich mich als Künstler einfach nicht kümmern. Ich geh' ja auch noch arbeiten et cetera. Ich möchte schreiben und Beats machen. Wenn es nur nach mir ginge, würde ich mich mit dem ganzen Drumherum gar nicht befassen. Es interessiert mich nicht und ich habe da keinen Hang zur Selbstdarstellung.
MZEE.com: Ungeachtet von Label-Verbandlungen und so weiter gehört Dilemma aber selbst bei einer Hiob-Soloplatte und Tour schon einfach dazu, oder?
Hiob: Natürlich. Die Kollabo-Alben mit ihm haben für mich auch denselben Stellenwert wie ein Solorelease, wenn nicht sogar einen teilweise höheren. Es ist ja nicht so, dass ich bei unseren Alben große Kompromisse eingehen müsste. Stilistisch sind wir eh auf einer Wellenlänge. Insofern hat es sich für mich auch nie so angefühlt, als wäre ich irgendwie weg gewesen, weil ich sieben Jahre lang kein Soloalbum releast habe. In der äußeren Wahrnehmung kann das natürlich anders sein.
MZEE.com: Sprechen wir über "Abgesänge". Mir war schon beim Hören des ersten Tracks klar: Ich bekomme hier genau das, was ich von Hiob erwarte. Der Track "Alles wie immer" greift dies sogar direkt zu Beginn des Albums auf. Ist es dir wichtig, dir selbst so treu zu bleiben?
Hiob: Also, das ist definitiv keine Kalkulation. Es ist einfach die Musik, die ich machen möchte. Natürlich hast du als Künstler musikalisch einen roten Faden. Es gibt zwar auch Beats mit 'ner 808 drin, über die ich gerne rappe, aber das hätte einfach nicht auf das Album gepasst. Trotzdem würde ich sowas für die Zukunft nicht ausschließen. Für das Album habe ich eben auf bestimmte Loops und Beats geschrieben, so ist dieses Soundbild entstanden. Das ist wahrscheinlich auf irgendeine Art und Weise "konservativ", aber ich habe nicht darauf geachtet, niemanden aus der Hörerschaft zu verprellen. Es ist einfach die Musik, die ich selbst gerne höre. Gleichzeitig zitiere ich mich natürlich auch mal selbst und nehme in den Songs Bezug auf ältere Tracks, also gehört das in meinem Textuniversum irgendwie schon alles zusammen. Aber es entsteht nichts am Reißbrett.
MZEE.com: Elemente wie die Sampleauswahl und Filmzitate finden sich bei dir beispielsweise immer wieder …
Hiob: Auf dem Album sind gar keine Filmzitate. (grinst) Das sind tatsächlich Texte, die ich geschrieben und von einem Schauspieler habe einsprechen lassen.
MZEE.com: Ich war mir sicher, es seien Zitate aus sehr alten Filmen gewesen, die ich nie gesehen habe.
Hiob: Dann haben wir alles richtig gemacht, so sollte es auch klingen. Ich habe ja eine gewisse Vorstellung davon, was gesagt werden soll. Da habe ich mir dieses Mal einfach gedacht: Wieso soll ich nach den Zitaten suchen, wenn ich die Sachen auch selbst schreiben kann? Dann brauchte ich eben noch einen guten Sprecher, der die Sachen so klingen lassen kann, wie sie klingen sollen. Auf dem Album spricht die Skits übrigens Mike Fiction, der ist ja auch kein Unbekannter.
MZEE.com: Krass, ich hab's nicht erkannt.
Hiob: Das freut mich. (grinst) Wir haben auch fast gar nicht soundtechnisch daran rumgewerkelt, er ist einfach ein guter Sprecher. Solche "Spoken Word"-Akzente gab es ja auch auf "Drama Konkret". Ich dachte zuerst daran, die Skits selbst einzusprechen. Aber die Texte sind so ironisch und selbstbeweihräuchernd. Es hätte sich etwas komisch angefühlt, so eine Ode auf sich selbst einzusprechen.
MZEE.com: Apropos "Spoken Word": Dein Vater war Schriftsteller. Hat dich das dahingehend beeinflusst, selbst lyrisch aktiv zu werden?
Hiob: Ich hatte gar nicht so viel Kontakt zu meinem Vater. Wenn überhaupt, dann ist es vielleicht ein unterbewusster Faktor, dass man irgendetwas beweisen will oder Sonstiges. In der Schule sind natürlich auch Leute auf einen zugekommen, die einen darauf angesprochen haben. Vielleicht hat es eine Rolle gespielt, aber mir hat mein Vater nie Gedichte vorgelesen oder so. Ich war zwar immer von Sprache und Literatur umgeben, aber gerade Rap wurde eher von außen an mich herangetragen.
MZEE.com: Als Rapper machen dich neben deinem Flow und der Soundästhetik aber gerade die Wortwahl und die Bildsprache aus. Du benutzt andere Begriffe als die meisten in der Szene.
Hiob: Ich sammle einfach sehr viele Worte und Halbsätze um der Ästhetik Willen. Das ist so ein Spleen und etwas Nerdtum. Eine Zeit lang hab' ich auch relativ viel gelesen, in letzter Zeit leider nicht mehr so.
MZEE.com: Bei Facebook postest du häufiger Tracks von Künstlern, die aus der düsteren, amerikanischen Boom bap-Ecke kommen. Feierst du es eher, wenn Künstler ihrem Sound treu bleiben, statt sich stetig neu zu erfinden?
Hiob: Also, wenn die Neuerfindungen von Künstlern bei jeder Platte dope sind, dann habe ich damit kein Problem. Mir fällt allerdings gerade kein Beispiel dafür ein. Ich will jetzt auch keine Lanze für die Stagnation brechen. Aber ich denke, dass Künstler und ihre Musik immer besser werden, wenn sie ihren Stil ausfeilen. Mir fallen eigentlich nur Negativbeispiele dafür ein, dass Musiker ihren Stil radikal geändert haben. Seien es Nas oder Wu-Tang. Da war es kein Gewinn, die Soundästhetik zu erneuern.
MZEE.com: Auch wenn du dir von der allgemeinen Soundästhetik her treu geblieben bist, meine ich, bei der aktuellen Platte einige neue Einflüsse ausgemacht zu haben. In einigen Beats kommen beispielsweise Gitarrenelemente vor. Welche Musik hat dich während der Entstehung des Albums inspiriert?
Hiob: Tatsächlich hätte ich früher nie eine E-Gitarre gesamplet, auf der neuen Platte sind, glaube ich, zwei entsprechende Samples. Insofern bin ich da musikalisch wohl etwas offener geworden. Zwischenzeitlich habe ich sogar Country gehört, allerdings den mit den harten, konkreten Texten, die es ja in den USA durchaus gibt. Ich hab' auch viel Psychedelic Rock gehört. Das ganz ursprüngliche Soundkonzept ging noch viel mehr in diese Psych-Rock-Richtung, fast 90 Prozent der Samples kamen aus der Ecke. Davon bin ich dann etwas abgekommen, aber es war tatsächlich so der Grundgedanke. Ansonsten hab' ich ziemlich viel gehört, das Album ist ja ungefähr innerhalb von eineinhalb Jahren entstanden. Rapmäßig habe ich viel Conway, The Machine, Benny The Butcher und Alchemist-Produktionen gehört, eher so düstere Sachen. Das ist in meiner Wahrnehmung auf der Platte gar nicht so durchgeschlagen. Am Ende habe ich dann auch viel 80s-Kram gehört. Das Album ist soundtechnisch ja auch breit gefächert, "Nettelbeckplatz Blues" ist fast 'ne Disco Funk-Nummer, klassische italienische Library-Samples sind drauf. Da bin ich auf jeden Fall ziemlich open minded geworden.
MZEE.com: Der Track "Nettelbeckplatz Blues" ist quasi eine kleine Hymne an ebendiesen. Ich hab' den Platz mal gegoogelt, die ersten drei Rezensionen, die mir angezeigt wurden, sind folgende: "Kein schöner Platz, da sitzen nur Türken und Alkis rum", "Sollte sauberer sein, sonst ganz nett zum Verweilen", und: "Unangenehme Atmosphäre, Döner und Laufbier 24/7, merkwürdige Gestalten." Trifft es das oder würdest du diesen Kommentaren etwas entgegensetzen?
Hiob: Die beschreiben eigentlich das Berlin, in dem ich großgeworden bin und das ich auch mag, ziemlich genau. Na ja, "unangenehme Atmosphäre" … Für mich ist es eine inspirierende Umgebung.
MZEE.com: Im Grunde sind das ja Kommentare mit zumindest einem negativen Unterton. Wie zieht man aus dieser Umgebung Inspiration?
Hiob: Ich weiß nicht … Der Track "Nettelbeckplatz Blues" ist erst mal ein kleiner biografischer Bruch, ich bin ja im Berliner Osten großgeworden. Allerdings in den 80ern, mit vielen alkoholkranken und armen Menschen, die im Prenzlauer Berg gewohnt haben. Für mich sind existenzielle Geschichten die spannenderen. Wenn ich jetzt in meinem alten Bezirk unterwegs bin, ist alles viel Fassade. Da geht es nicht mehr um die großen Fragen des Lebens. Die finde ich im Wedding, in dem ich jetzt schon eine Weile wohne, eher. Das erinnert mich mehr an das alte Berlin.
MZEE.com: Bist du deshalb mehr oder weniger aus dem Prenzlauer Berg geflüchtet oder wieso bist du von dort weggezogen?
Hiob: Na ja, die Entwicklung im Prenzlauer Berg war ja auf einem niedrigen Niveau schon um die Jahrtausendwende abgeschlossen. Damals war ich schon viel in Mitteldeutschland und Leipzig unterwegs, sodass sich mein Lebensmittelpunkt immer mehr verschoben hat. Ich konnte mich mit der Gegend dann einfach nicht mehr so gut identifizieren.
MZEE.com: Du hast den Prenzlauer Berg auch oft in deinen Texten erwähnt. Vermisst du das alte Viertel?
Hiob: Meine Erinnerungen hängen ja mit der vergangenen Zeit und auch meinem damaligen Alter zusammen. Ich weiß nicht, ob ich noch mal 16 sein und die Erfahrungen erneut machen wollen würde, was ja damit zusammenhängt. Ich sehe, dass Dinge in Bewegung sind, wie es immer im Leben ist. Das betrifft ja nicht nur Ostberlin, sondern immer mehr auch den Westen. Keine Ahnung, wie sich das entwickeln wird. Die sozialen Aspekte finde ich schon negativ. Es bilden sich sehr homogene Stadtteile heraus, in denen du nur einen bestimmten Menschenschlag antriffst, was irgendwann eine Ghettoisierung zur Folge haben kann. Das ist sicherlich kritisch zu sehen. Aber so, wie ich jetzt in Wedding wohne, könnte ich wohl auch in Leipzig oder Hamburg leben. Ich bin nicht wirklich an einen Ort gebunden. Mit einem Track wie dem "Nettelbeckplatz Blues" schwenke ich auch nicht die Fahne für den Wedding, sondern beschreibe einfach mein Lebensumfeld.
MZEE.com: Du könntest dir also auch vorstellen, aus Berlin wegzuziehen.
Hiob: Ja, klar. Es ist halt die Frage, inwiefern das wirklich passiert. Berlin ist für mich schon immer eine Hassliebe gewesen. Wer weiß, wohin es mich irgendwann verschlägt. Vielleicht sterbe ich auch in Berlin, keine Ahnung.
MZEE.com: Was Berlin angeht, spricht es ja aber schon für sich, dass du nach rund 20 Jahren Rap auf deiner aktuellen Platte im Jahr 2018 immer noch "Berliner Geschichten" erzählen kannst. Das würde vielleicht nicht funktionieren, wenn du aus Castrop-Rauxel kämst.
Hiob: Das glaube ich tatsächlich nicht. Ich denke, dass du aus dem Ort, in dem du groß wirst, immer etwas machen kannst. Natürlich wäre es anders. Mich würden auch andere Platten interessieren. Aktuell sind ja alle in Berlin und erzählen ähnliche Geschichten über ähnliche Orte. Eine Platte aus Güstrow, Bautzen oder Ostfriesland wäre bestimmt auch interessant. Es ist ja fast schon der Kern von Lyrik, aus wenig viel zu machen. Du kannst auch einen Baum auf Albumlänge beschreiben.
MZEE.com: Sprechen wir trotzdem noch kurz über Berlin: Was macht deine Heimatstadt heute für dich aus?
Hiob: Es ist auf jeden Fall sehr, sehr voll geworden. Berlin ist einfach ein Magnet für viele Leute aus der ganzen Welt, ich hatte jetzt auch eine Zeit lang einen französischen Mitbewohner. Es ist sehr aufgeregt, alle müssen auf merkwürdige Weise irgendetwas darstellen und hip sein. Diese Attitüde finde ich unangenehm, die ist aber auch nur dort präsent, wo der ganze Tourismus und das Highlife stattfinden. Du hast natürlich auch immer noch das verpennte Berlin. Das Berlin, in dem ich großgeworden bin, war immer ziemlich verkatert und das hing nicht nur mit meinem Zustand zusammen, vor allem als Kind nicht. Es war früher alles ein bisschen entspannter, finde ich.
MZEE.com: Du lässt auf dem Album immer wieder Kritik am bürgerlichen Leben aufblitzen. Da geht es beispielsweise um den jungen Mann, "der das Gewand der Gosse abgestreift hat, um im Hamsterrad der Banalität zu leben". Hast du das Gefühl, dass das auf immer mehr Menschen zutrifft?
Hiob: Das ist natürlich auch eine ironische Formulierung, die sich vor allem auf mich selbst als Kunstfigur bezieht. Ich weiß nicht, ob dieses Hamsterrad für mich der passende Lebensentwurf ist, will es aber anderen nicht absprechen, dass sie ihr Glück in diesen Strukturen finden. Ich meine damit vordergründig dieses "Täglich grüßt das Murmeltier"-Leben und die vielen Banalitäten, mit denen sich Menschen in diesem Zusammenhang beschäftigen. Ich bin ja auch noch ab und zu in meiner "alten Heimat". Dort ist schon alles sehr neurotisch. Ich denke, wo die Leute keine Probleme haben, machen sie sich welche.
MZEE.com: Hast du es denn deiner Meinung nach geschafft, diesem Hamsterrad zu entkommen?
Hiob: Puh. Also, ich befinde mich auf jeden Fall nicht im Hamsterrad. Ich habe ja die Möglichkeit, zu sagen, dass ich heute arbeiten und morgen auf Tour gehe. Das ist natürlich auch eine Luxusposition. Viele haben nicht die Möglichkeit, auf ihren Nine-to-five-Job zu verzichten. Also habe ich eine Menge Glück gehabt. Andererseits ist so eine Existenz ohne Netz und doppelten Boden auch nicht einfach. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Hustle ist hart, aber irgendwie klappt es immer. Es war finanziell nie einfach, aber es muss auch nicht immer alles einfach sein.
MZEE.com: Wenn wir über Banalität und Hamsterräder sprechen: Was erfüllt dich im Leben?
Hiob: Ich glaube, es ist tatsächlich das Schreiben. Das ist die wichtigste Konstante für mich. Erstens bedeutet es, sich stetig aktiv zu reflektieren. Und zweitens schaffst du etwas, das Bestand hat. Sobald du etwas aufgenommen hast, ist es manifestiert. Wenn ich zum Beispiel auf der Arbeit als Handwerker irgendwas baue, ist das oft eine temporäre Geschichte oder etwas, mit dem ich im Nachhinein nichts mehr zu tun habe. Man verdient halt Geld, das man wieder ausgibt. Und für mich hat Geld keinen besonders hohen Stellenwert, ich sehe keinen großen Sinn darin.
MZEE.com: Thematisch taucht auf "Abgesänge" immer wieder der Alkoholkonsum auf. Auf dem letzten Song heißt es etwa: "Wir haben gesoffen mit Freund oder Feind, hoben die Gläser auf die vergeudete Zeit. Am Morgen wieder aus allen Wolken gefallen, doch keine Reue, denn heut' sind wir gleich." Hast du dich schon häufiger in kuriosen Situationen am Kneipentisch wiedergefunden?
Hiob: Eine weitere Pointe zum Albumtitel ist, dass ich seit der Abgabe nicht mehr trinke. Insofern ist es auch ein Abgesang auf den Alkohol an sich. (lacht) Gerade diese Verhaltensweisen habe ich also durchaus geändert. Wir hatten mal eine Stammkneipe in einer Zeit, in der ich sehr viel gearbeitet habe. Da war der Rhythmus: sechs Uhr aufstehen, bis 18 Uhr arbeiten und danach in die Kneipe. Da gab es teilweise sehr groteske Konstellationen. Dort verkehrte eben das gesamte gesellschaftliche Spektrum, das zu diesem Zeitpunkt im Prenzlauer Berg gewohnt hat. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass die Kneipe ein Umschlagplatz für Kokain war. Somit saßen da nachts auch CDU-Politiker am Tisch. (grinst) Da saß die Kampflesbe neben dem verkappten CDU-Nazi und irgendwelchen Antifa-Leuten. Das war schon ein spannendes Zusammentreffen von Leuten, die um fünf Uhr morgens alle irgendwie gleich erbärmlich aussahen. Das war auch immer eine Inspirationsquelle. Es ist auf jeden Fall grotesk, sich nachts mit Bundestagsabgeordneten zu unterhalten, die in deiner Kneipe offensichtlich Drogen kaufen.
MZEE.com: Auch wenn du den Konsum und den Lebensstil durchaus kritisch beleuchtest, hast du auch ein Talent dafür, diese Kneipenästhetik sehr melancholisch-romantisierend darzustellen. Was meinst du, woher diese gesellschaftliche Begeisterung für den gemeinsamen Alkoholkonsum stammt?
Hiob: Das ist auf jeden Fall alles nicht ganz unproblematisch. Ich mache mir auch schon Gedanken darüber, ob man Alkohol teilweise glorifiziert hat. Wenn du dir die junge Generation ansiehst, die sich komplett wegschießt, wie man es ja auch selbst gemacht hat … Vielleicht wäre es sinnvoll, da mal einzuhaken. Trotzdem denke ich, wie gesagt, dass ich auch immer die negativen Aspekte betont habe. Aber an sich glaube ich sogar, dass diese gesellschaftliche Bedeutung von Alkohol etwas vom Aussterben bedroht ist oder war. Früher war es so, dass sich Menschen unabhängig von ihrem sozialen Background dadurch gleichgemacht haben. Zumindest in Berlin haben eben alle Menschen zusammen getrunken. Jetzt hast du halt irgendwelche Cocktailbars. Die Leute sitzen eher nicht mehr zusammen und eigentlich wäre es ja sogar wichtig, dass sie sich miteinander unterhalten.
MZEE.com: Tatsächlich kann so eine Kneipengemeinschaft – wenn auch nur für einen Abend – in einer Gesellschaft, die immer weiter auseinanderdriftet, vermutlich auch etwas Gutes sein. Obwohl es die Problematik des Alkoholkonsums gibt.
Hiob: Ja, ich denke auch, dass es irgendwie eine soziale Einrichtung ist. Vielleicht war oder ist die auch wichtig. Aber ich will es eben auch nicht überromantisieren. Das Wort "Stammtisch" hat nicht ohne Grund einen negativen Beigeschmack. Ich will es gar nicht so eindeutig werten. Meine Erfahrungen hängen, glaube ich, auch einfach mit Berlin zusammen. Vielleicht ist das in Nürnberg oder Freiburg anders. Im Wedding kannst du auch jetzt noch nachts in der Kneipe mit zwei Russen, drei Pakistanis und 'ner Oma über Religion reden.
(Alexander Hollenhorst)
(Fotos von Jerome Reichmann)