Ich habe es bei MZEE immer auch als unsere Aufgabe gesehen, Rapper nicht nur über Rap zu befragen. Nicht nur über den roten Faden des neuen Albums oder darüber, wie die letzte Tour so war und ob Platz 3 in den Charts auch okay ist. Klar, kann man machen. Man kann aber auch über den Tellerrand der Musikindustrie hinausschauen und beispielsweise über Soziales sprechen. Oder Politik. Dabei fällt mir auf Anhieb – neben Marcus Staiger, der allerdings nicht als Rapper zu kategorisieren ist – niemand anderes ein, auf den diese Themen so exakt wie die Faust aufs Auge passen, als der Hamburger Rapper Disarstar. Nicht nur, weil er offensichtlich über ein sehr breit aufgestelltes politisches Interesse verfügt, sondern auch, weil diese Themen immer wieder in seiner Musik Platz finden.
Ein Abend im Frühling 2018. Gleicher Ort, gleiche Zeit wie vor exakt einem Jahr – wenige Minuten vor Mitternacht irgendwo in Hessen. Kurz nach einem erfolgreich absolvierten Auftritt treffen wir Disarstar in einer Hotel-Lobby. Wieder ist er gut gelaunt, hellwach und hat Redebedarf – springt von einem Thema zum nächsten, schon bevor das Aufnahmegerät überhaupt angeschaltet ist. Und so führen wir nicht nur ein sehr langes, sondern auch ein sehr themenreiches Interview. In über 80 Minuten sprechen wir über Deutschrap-Themen wie die besten MCs aller Zeiten, den Unterschied zwischen einem MC und einem Rapper sowie Disarstars relevanteste Platte und sein Signing bei Warner BMG. Zwischendrin gibt es einen kurzen Exkurs über den musikalischen Einfluss, den die Hamburger Rapper BOZ und Chissmann auf ihn hatten – und immer noch haben. Und dann geht das Interview auch endlich über zu politischen Themen, die uns unter den Nägeln brennen: Wie war es eigentlich als Hamburger beim G20-Gipfel? Wie wurde das Thema in den Medien behandelt und wie war es wirklich vor Ort? Was gibt es über Olaf Scholz' weiteren Werdegang zu sagen und wie steht es um die Große Koalition? Das nur als kleiner Auszug der Themen, die im vorliegenden Interview alle aufgegriffen wurden.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass das Interview kurz vor dem ECHO-Eklat geführt wurde. Hätten wir uns danach zum Gespräch getroffen, wäre dieses Thema natürlich ebenfalls Teil des Interviews geworden.
MZEE.com: Ende 2009 haben Szenekenner die 20 besten deutschen MCs für die JUICE gewählt. Damals gab es eine umfassende Diskussion darüber, was einen MC ausmacht und von einem Rapper unterscheidet. Denkst du in Anbetracht der Entwicklungen der letzten Jahre auch, dass es diese Differenzierung gibt?
Disarstar: Warum war ich denn da nicht unter den besten 20? Ich hab' mit 15 schon verdammt stabil gerappt. (lacht) Ich finde vieles von dem, was heute so passiert, derbe scheiße und kann damit nichts anfangen. Und trotzdem ist es wichtig, dass es passiert. Ich bin weder reaktionär noch konservativ – vor dem Hintergrund finde ich, dass Dinge sich nach vorne entwickeln müssen. Und dass man da nicht mehr solche Abstriche machen kann. Was früher ein MC war, ist heute vielleicht etwas anderes, weil es sich weiterentwickelt hat. Aber ich würde da jetzt keinen Unterschied sehen.
MZEE.com: Viele würden vermutlich sagen, dass ein MC ein skilltechnisch breit aufgestellter Rapper ist, der zum Beispiel freestylen können sollte.
Disarstar: Ehrlich gesagt halte ich es für eine tolle Entwicklung, dass Rap sich aus der Szene herausentwickelt hat und mittlerweile Mainstream ist. In Amerika ist auf jedem Pop-Song eine Rapstrophe – das sind sehr positive Entwicklungen. Und das "Ein MC oder Rapper muss …" macht die Kunst halt ein bisschen kaputt. Wenn man es übergeordnet sieht, ist Rap Kunst – und Kunst muss gar nichts. Deswegen finde ich diese Begrifflichkeiten veraltet und konservativ. Aber ich respektiere das sehr. Ich versuche auch, nachzuvollziehen, wo Rap herkommt. Doch wenn man sich Geschichte mal ganz allgemein anguckt, entwickelt sie sich dialektisch weiter. Und so auch Mucke und Rap. Natürlich ist nichts mehr, wie es vor 20 Jahren war – das ist auch richtig und gut so.
MZEE.com: Welche drei Rapper würdest du spontan auf die JUICE-Liste setzen?
Disarstar: Aus dieser MC-Perspektive gesehen Flipstar von Creutzfeld & Jakob. Seine alten Parts von 1998 stehen Reim- und Flow-technisch 2018 in nichts nach. (überlegt) BOZ gehört auch auf die Liste. Der Song "Letzte Nacht in Hamburg" vom letzten Mixtape ist so heftig – jede Zeile ist derbe on point.
MZEE.com: Jetzt fehlt noch einer.
Disarstar: Das find' ich voll schwierig. Schlagt mal einen vor, den ich feiern könnte.
MZEE.com: Tua.
Disarstar: Für mich ist Tua irgendwie oustanding. Ich hab' als erstes auch an ihn gedacht, aber ich finde, er passt da nicht rein. Er ist so ganz anders. (überlegt) Vielleicht kann man Sido noch mit reinnehmen, weil er von den "Alten" der einzige ist, der sich immer weiterentwickelt hat. Das kann man haten, aber ich fand's bei ihm nie anorganisch. Ich kauf' ihm die Popsongs nicht weniger ab, als ich ihm damals den "Arschficksong" abgekauft hab'. Schon ein besonderer Künstler.
MZEE.com: Da du BOZ angesprochen hast: Warst du einer derjenigen, die Chissmann früher so gefeiert haben?
Disarstar: Übertrieben – auch bis heute. Er ist einfach zu krass.
MZEE.com: Er hat 2009 sein Album "Ganz normal" mit einem Kollegah-Feature rausgebracht. Das wurde überall rauf- und runtergehört.
Disarstar: Ja, die kannten sich alle aus der RBA. Chissmann ist einfach ein unglaublicher Rapper. Was viele Konsumenten mit Sicherheit nicht checken: Es ist so speziell, es ist weltweit unvergleichlich, wie er rappt. Diese Ignoranz – eigentlich ist er auf gewisse Art und Weise Shindy und Co. sein Vater. Das Geile ist: Man hört ja bei einem Rapper, ob er den Takt mit Absicht nicht trifft oder weil er es nicht anders kann. Das eine ist unästhetisch, das andere derbe ästhetisch. Chissmann hat auf vielen Songs einen Fick gegeben, man hat aber gehört, dass er das mit Absicht macht. Und das macht seine Mucke so speziell. Wenn du meine Mucke hörst, hörst du was von BOZ und Chissmann in jedem Song. Als ich angefangen habe zu rappen, hab' ich sie gehört und diese Offbeat-Flows sind in meinen Stil miteingeflossen.
MZEE.com: Es war auch besonders, dass Chissmann einerseits etwas sehr Deepes und Pathetisches hatte, andererseits aber auch …
Disarstar: … was übertrieben Asoziales. So kern-assi.
MZEE.com: Diese Gegensätze machen das Ganze noch interessanter, solange es nicht aufgesetzt ist.
Disarstar: Voll. Sehe ich auch so.
MZEE.com: Kommen wir auf deine eigene Musik zu sprechen: Wie weit bist du denn mit deiner neuen Platte?
Disarstar: Ich hab' schon ganz viel, bin in vielen Belangen aber auch noch unentschlossen. Die Platte ist auf jeden Fall ein radikaler Schritt, den ich aber auch so machen wollte. Es ist inhaltlich und raptechnisch eins zu eins Disarstar, aber es kriegt musikalisch ein anderes Gewand. Irgendwie war "Minus x Minus = Plus" nicht die logische Konsequenz nach "Kontraste". "Kontraste" hatte ja manchmal auch Pop-Elemente. Ich bin dann in eine andere Richtung gegangen und hab' mit "Minus x Minus = Plus" eher an das "Sturm & Drang"-Mixtape angeknüpft. Und das Album jetzt soll dann die logische Weiterentwicklung zu "Kontraste" sein. Ich kann heute auch nicht mehr nachvollziehen, warum ich das nicht gemacht hab'. In unserem Interview vor einem Jahr hab' ich gesagt, ich mag "Kontraste" nicht mehr. Das ist jetzt schon wieder ganz anders. Ich hab' das Album gerade das erste Mal nach zwei Jahren wieder durchgehört und ich fand's super. Das ist ein super Album! (lacht)
MZEE.com: Du bist ja bei Marcus Staiger in der Edition. Besteht noch der enge Kontakt zwischen euch?
Disarstar: Ja, aber Staiger ist der grausamste Verleger der Welt. Businesstechnisch hatte ich eigentlich noch nie viel mit ihm zu tun. Ich mein': Ich bin bei ihm in der Edition bei BMG und er erzählt in Interviews, dass "Kontraste" voll scheiße ist. (lacht) Wo ich mir denk: "Diggi?!" Auf der einen Seite ehrt es ihn, weil es real ist. Auf der anderen Seite ist es aber auch derbe dumm. Ansonsten treffen wir uns, wenn ich in Berlin bin, aber es geht dabei nur erstaunlich wenig um Musik. Eher um Politik und sowas.
MZEE.com: Und weiterhin bist du aber bei Warner gesignt.
Disarstar: Ja. Und ich muss sagen: In Zeiten, in denen gerade beim Major jeder gedroppt wird, hat Warner die dritte Option gezogen für das, was als nächstes kommt. Das ehrt mich natürlich sehr. Ich weiß übrigens noch gar nicht, ob es ein Album wird – vielleicht wird es auch ein Mixtape, das nur digital erscheint. Ich mach' grad einfach nur Mucke. Und ich weiß, dass man im Rap eigentlich jede Woche eine neue Single auf Spotify bringen muss. Aber ich will mir trotzdem Zeit lassen, um meine Mucke noch liebevoller zu gestalten.
MZEE.com: Es führt kein Weg dran vorbei: Kommen wir zur Politik. Zuerst würde ich gerne wissen, wie du als Hamburger den G20-Gipfel erlebt hast?
Disarstar: In meinem Viertel, vor meiner Haustür: loco. Vier verrückte Tage voll Adrenalin, vier Tage Stress. Ich war von morgens bis abends draußen unterwegs. Und es war in allen Dimensionen verrückt.
MZEE.com: Gab es dabei ein besonders einschneidendes Erlebnis für dich?
Disarstar: (überlegt) Ich erzähle euch das jetzt ganz ehrlich so, wie ich hier sitze. Ich war auf der "Welcome to Hell"-Demo. Donnerstagabend, bevor es losging. Wir sind vom Camp "Volkspark" losgefahren. Waren alle schwarz angezogen, aber weder vermummt noch aggressiv. Die Leute, mit denen ich unterwegs bin, sind wirklich politisch und wollen eine politische Haltung durchsetzen. Es macht keinen Sinn, von Anfang an Flaschen und Steine auf Polizisten zu schmeißen. So kannst du keine Meinung transportieren – es ist klar, dass es dann eskaliert. Wir sind also da angekommen. In den Medien hieß es, es wären "5 000 Verrückte" gewesen. Es waren 100 000 Leute, der ganze Fischmarkt war voll. Ich war drei Tage später auch auf der bürgerlichen Demo – da waren 5 000 Leute. Die Medien erzählen, das waren 100 000 und bei der gewaltbereiten 5 000. Aber es war genau umgekehrt. Wir sind dann da übertrieben dumm gestanden: Auf der rechten Seite ist ein Steindeich und auf der linken Seite kommt man auch nicht weg – man ist also gefangen. Ich war relativ weit vorne im Block. Und bis zu einem gewissen Zeitpunkt gilt es, friedlich zu sein. Wir stehen also da und warten 20 Minuten. Es waren 20 000 Bullen im Einsatz. Auf einmal stellen die sich in Dreierreihen links von uns Spalier … Ich krieg' ne Gänsehaut, wenn ich jetzt so drüber spreche. Ich kenne diese Demo-Situation, seitdem ich 15 bin, und hab' schon richtig eklige Demos gehabt. Aber das an dem Tag war jenseits von Gut und Böse. Wir warten eine halbe Stunde auf Durchsagen vom Lautsprecherwagen, die Cops lassen die Demo nicht loslaufen. 50 Meter vor und 50 Meter hinter mir vereinzelt Vermummte, aber relativ wenige. Und weder Flaschen-, noch Steinwürfe – es war relativ friedlich. Gleichzeitig sehr angespannt, du hast Adrenalin bis zum Hals. Die Bullen haben sich also in Dreierreihen aufgestellt und rückblickend betrachtet hätte man da schon agieren müssen, anstatt zu warten, bis was passiert. Wir stehen da und auf einmal kloppen die von der Seite in die ganze Demo, in 10 000 Menschen rein. Und da ist diese Mauer, das heißt, du kommst nicht weg. Die kommen von der Seite, drängen uns an die Mauer und kloppen da rein wie wild. Wenn du diesen Polizisten in die Augen guckst: Die haben sowieso Bock, jemandem eine reinzuhauen. Du musst das ja erst mal übers Herz bringen, jemandem, der unbewaffnet vor dir steht, einen Knüppel auf den Kopf zu hauen. Bei so einem Erlebnis wird man auch persönlich richtig wütend. Und dann waren wir die ganze Nacht unterwegs.
MZEE.com: Wie war der Moment für dich, in dem Polizisten anfingen, sich neben der Demo aufzustellen?
Disarstar: Der schwarze Block ist so organisiert und sortiert, dass an den Seiten die erfahreneren Leute laufen und in der Mitte die unerfahrenen. Und eigentlich ist für jeden klar: "Willst du das machen oder willst du das nicht machen? Überleg es dir gut." Später wurden Leute dann unter weißen Decken reanimiert – was in den Medien gar nicht stattgefunden hat. Aber man weiß, dass 500 Polizisten verletzt wurden. Im Nachhinein kam raus, dass nur sieben mehr als einen Tag dienstunfähig waren. 200 wurden durch eigenes Pfefferspray verletzt. Und ich kann mir vorstellen, dass 250 zurecht am nächsten Tag gesagt haben: "Da hab' ich keinen Bock drauf!" Wäre ich ein Bulle, dann würde ich mich nicht auf so eine menschenverachtende Scheiße einlassen. Es ist auch dem Bullen gegenüber menschenverachtend, was ihn nicht davor schützt, dass er's macht. Auf jeden Fall: Es war angespannt, aber wir wissen, was da passiert. Und wenn man sich auf die Leute um sich herum verlassen kann, ist es auch nicht so dramatisch. Aber ich krieg' trotzdem Gänsehaut, wenn ich dran denk', weil man schon Todesangst hat, wenn die da so ausrasten. Und darum hab' ich auf Facebook auch so wütend geschrieben, weil Leute, die zu Hause waren, N24 und ARD geguckt haben, mir erzählen wollen, wie die Demonstration ablief. Das hat mich übertrieben aggressiv gemacht.
MZEE.com: Wie haben die Medien das Thema in deinen Augen behandelt?
Disarstar: Nach der "Welcome to Hell"-Demo war man nachts um eins zu Hause und es war medial gesehen übertrieben viel los. Zuerst wurde auch noch die Polizeigewalt thematisiert. Da hatte ich noch das Gefühl, dass die breite Öffentlichkeit auf unserer Seite war – auch, weil es keine Selektion auf Seiten der Bullen gab. Die haben ja alles kurz und klein geprügelt. Leute, die ich kenne, wurden schwer verletzt. Bein offen, gebrochen. Wie auch immer ein Cop das hinkriegt, ein Bein so zu brechen, dass der Schienbeinknochen durch die Hose rausguckt – völlig absurd. Auf jeden Fall war die Berichterstattung da noch realitäts-, aber auch Cops-nah. Was der Staat und die Polizei macht, hinterfragt man halt nicht kritisch, das hat immer seine Richtigkeit. Die Polizei hat immer recht und die, die der Polizei gegenüberstehen, immer unrecht. Aber tendenziell war es da noch differenziert. Am nächsten Morgen kam dann die Elbchaussee-Autokampagne. Da wurden in der reichsten Straße in Hamburg einige Autos in Brand gesteckt. Diese Kampagne, die medial hochgekocht wurde, war falsch und unnötig. Ich kenne niemanden, der daran beteiligt war oder jemanden kennt, der daran beteiligt war. Es waren viele Leute aus ganz Europa da und wir glauben, dass sie die Autokampagne gestartet haben. Denn von den Hamburgern und Leuten aus Frankfurt und Stuttgart, die ich schon lange kenne, macht das eigentlich keiner. Es ist klar, dass das scheiße war. Ich würde nie ein Auto anzünden, weil der Ferrari nicht zwingend einem Unternehmer gehört, der Arbeiter ausbeutet. Es kann auch ein Tischlergeselle sein, der seit 20 Jahren drauf spart, sich so ein Auto zu kaufen. Und das sieht man von außen halt nicht. Auf jeden Fall ist das Ganze damit medial komplett gekippt. Ich war vier Tage unterwegs und hab' mich persönlich davon richtig angegriffen gefühlt. Es war ein ganz stranges Erlebnis: Ich hatte das Gefühl, die ganze Stadt ist gegen uns. Es gab dieses "Uns"- und "Ihr"-Gefühl. Und ich glaube, deswegen hat sich die Situation in der Schanze auch so hochgeschaukelt. Die Leute sind einfach wütend darüber geworden, dass andere so obrigkeitshörig sind und sich vorbehaltlos vor Polizei und Staat stellen. Anstatt erst mal zu reflektieren.
MZEE.com: Sind auch Leute auf die Straße gegangen, die normalerweise eher nicht politisch aktiv sind?
Disarstar: Enorm viele. In der Schanze war es Wahnsinn. An dem Abend haben die Bullen Pfefferpatronen verschossen, was sie in Deutschland, glaub' ich, gar nicht dürfen. In ganz St. Pauli haben deine Nase und deine Lunge gebrannt, weil das Pfeffer im ganzen Viertel in der Luft hing. Alle hatten Tränen in den Augen und Atemprobleme. (überlegt) Ich rede da mit Euch gerade das erste Mal so drüber, deswegen macht mich das auch so emotional. Es war einfach ein übertrieben krasses Erlebnis … Am 21. Dezember 2013 wollten sie ja die Flora dicht machen und die ESSO-Häuser abreißen, was sie am Ende auch geschafft haben. Was da passiert ist, war auch richtig heftig. Das heißt, ich war schon auf sehr heftigen Demonstrationen und in sehr heftige Auseinandersetzungen involviert. Aber das, was bei G20 stattfand, hab' ich noch nie erlebt. Und ich glaube, dass es das in Deutschland so auch noch nie gegeben hat. Die Anweisungen, die die Polizei gekriegt hat, waren krank. Danach hat Scholz sich ja hingestellt und gesagt: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben." Aber geh einmal ins Internet – du findest 45 Minuten lange Zusammenschnitte von G20, wo Leute von der Seite 'ne Faust oder 'nen Knüppel ins Gesicht kriegen.
MZEE.com: Was sagst du denn dazu, wie es jetzt mit Scholz weitergeht?
Disarstar: Selbst aus einer bürgerlichen Perspektive, wenn ich nicht auf den Demonstrationen gewesen wäre, selbst wenn ich so ein Konservativer wär', den das eigentlich alles gar nichts angeht, selbst wenn ich das aus einer staatlichen, polizeifreundlichen Perspektive betrachte: Dudde, Grote und Scholz hätten alle ihren Job verlieren müssen. Sie hätten alle danach zurücktreten müssen – und keiner von ihnen hat irgendwelche Konsequenzen tragen müssen. Selbst wenn du pro Polizei bist, musst du dir ja eingestehen, dass das ganze Ding komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Und keiner hat dafür Verantwortung getragen.
MZEE.com: Wo wir schon bei Politik sind, würde ich gerne noch über die Große Koalition sprechen.
Disarstar: Ganz traurig. Ich finde, eine Minderheitsregierung ist die beste Form des Parlamentarismus. Auch wenn ich den aus anderen Gründen ja ein Stück weit für Käse halte. Hier in Deutschland, GroKo, Übermüll. Es wird alles einfach genauso weitergehen, wie es schon war. Eine Minderheitsregierung wär' ne tolle Möglichkeit gewesen. Dass man sich für jedes Thema neue Mehrheiten suchen muss, anstatt dass es Koalitionsabsprachen gibt. Zum Thema "unsere tolle Demokratie" – es kam ja im Vorfeld auch wieder raus, wie so ein Koalitionszwang aussieht. Und dass deine Parteikarriere schnell vorbei ist oder du gar nicht die Möglichkeit hast, nach oben zu kommen, wenn du nicht wie die führenden Kader stimmst. Das finde ich richtig traurig. GroKo ist halt einfach langwelig.
MZEE.com: Es ist ja leider auch klar, dass sich die kommenden vier Jahre nicht viel ändern wird.
Disarstar: Ja. Und "Gemeinsam erfolgreich" ist auch einfach Käse, wenn man sich die Zahlen mal anguckt. Es heißt, wir hatten noch nie so wenige Arbeitslose – das kann auch sein. Aber wir hatten auch noch nie so viele Leute, die von ihrem Job nicht mehr leben können. Wir hatten auch noch nie so viele Bettler und Pfandsammler. Aber auch noch nie so viele Leute, die Sportwagen fahren. Ich weiß nicht, von wem Merkel spricht, wenn sie von "Gemeinsam erfolgreich" redet – aber von mir und meinen Freunden spricht sie nicht. Und von den Leuten, die ich auf St. Pauli in der Straße seh', spricht sie auch nicht. Deswegen sind es jetzt einfach wieder verschenkte Jahre. Das ist ja auch einfach Merkels Politik. Die Frau regiert seit zwölf Jahren – nenn' mir mal eine Position, für die sie steht. Gut, sie hat gesagt: "Wir schaffen das!" Aber was ich bis heute auch nicht nachvollziehen kann: Warum sie das gemacht hat, was das wirtschaftspolitische Motiv dahinter ist. So cool, wie Deutschland sich da bedingt verhalten hat, so schnell ist man dann auch zurückgerudert, was öffentlich aber gar nicht so wahrgenommen wurde. Aber: Wofür steht die Frau? Wie kann eine Frau, die keine politische Haltung hat, die noch nie Tacheles gesprochen hat innerhalb von zwölf Jahren, immer wiedergewählt werden? Ich versteh' die Leute nicht.
MZEE.com: Im Rahmen der letzten Bundestagswahl hast du am Hyperbole-Format "Straßenwahl" teilgenommen und eine Diskussion mit der FDP-Politikerin Katja Suding geführt.
Disarstar: (seufzt) Ein übertriebener Flop. Ich würd's nie wieder machen.
MZEE.com: Hast du dir das Ganze hinterher noch mal angesehen?
Disarstar: Ich hab's mir angeguckt und mich übertrieben darüber aufgeregt. Ich hab' mich am Tag vor dem Dreh sieben Stunden hingesetzt, das FDP-Parteiprogramm auseinandergenommen, Katja Sudings Internetseite auseinandergenommen, Reden und Diskussionen von ihr angeguckt, mir ihre Biografie reingezogen – wie sie aufgewachsen ist, was ihre Eltern beruflich machen. Ich hab' mich echt sieben, acht Stunden intensiv darauf vorbereitet und man hat aus diesen 80 genau die sieben, acht Minuten genommen, in denen sie am besten wegkommt. Ich kann dir auch sagen, warum: Weil sie das Format ja weiterführen möchten und Angst haben, dass, wenn Disarstar Katja Suding 80 Minuten angreift, kein Politiker da wieder hingeht. Das soll ja ein gemütliches Format sein. Aber ich hab' mich sehr verarscht gefühlt und war übertrieben unzufrieden. Ich hab' dann gesagt: "Komm, haut's raus", und hab' da nichts blockiert. Aber ich würd's nie wieder machen. Die Vorbereitung hätte ich mir schenken können, wenn ich da zu 'nem gemütlichen Plausch gehen soll. Denn genau das wird ja in diesem Video vermittelt: Dass es ein gemütlicher Plausch war.
MZEE.com: Ich hab' dich in dem Format ehrlich gesagt auch nicht wiedererkannt.
Disarstar: Ja, voll nicht. Da wurden teilweise Fragen mit Antworten zusammengeschnitten, die gar nicht zusammengehören. Ich finde, ich mach' da eine sehr schlechte Figur und das hat mich daran so aufgeregt. Auch solche Sachen wie dass sie mit der Bahn kam. So nach dem Motto: "Ich bin eine von euch." Da war die erste Frage, die ich gestellt habe: "Frau Suding, warum sind Sie mit der Bahn gekommen? Ist die Dienst-Limousine kaputt?" All das findet in dem Video ja gar nicht statt. Aber die Leute haben dann ja auch in die YouTube-Kommentare geschrieben: "Disarstar sagt, es ging 80 Minuten. Wann kommt das?" – Es ist also schon zu ihnen durchgedrungen. Also alles cool.
MZEE.com: Kommen wir auf ein politisches Rap-Thema zu sprechen: Hast du mitbekommen, dass sich in den letzten beiden Jahren ein paar Rapper politisch fragwürdig geäußert haben?
Disarstar: Jetzt bin ich mal gespannt – ich hab' davon nämlich gar nichts mitgekriegt.
MZEE.com: Bei Absztrakkt zum Beispiel begann das Ganze vor knapp zwei Jahren mit einem Track namens "Walther", in dem Sätze fallen wie: "Dieses Land kriegt jetzt endlich wieder Männer, die sich wehren". Und es mündete kürzlich in einem Track namens "Bluat" mit Aussagen wie: "Ma Bluat, mein Boden – das einzige, das heil macht, ist Heimat, Familie und Gemeinschaft".
Disarstar: Jetzt im Ernst?! Guck mal, das ist ein Spinner. Ich hab' den Typen einmal bei Visa Vie getroffen. Sie hat ja meistens zwei Leute hintereinander in ihrer Radiosendung und da kamen auch Absztrakkt und Cr7z. Gegen Cr7z kann ich an sich nichts Schlechtes sagen. Und ich weiß nicht, wie bei den beiden heute noch die Connection ist. Ansonsten denke ich, ein Absztrakkt würde alles sagen, wenn er glaubt, dass er damit Aufmerksamkeit bekommt. Aber: Der soll die Schnauze halten. Und sich auch mal mit Realpolitik auseinandersetzen.
MZEE.com: Und dann kommen wir zu JAW, von dem musikalisch gesehen ja sehr viele Leute sehr viel halten.
Disarstar: Ich auch. Ich kenne einen Song von ihm, "Elena" – super! Was hat er gesagt?
MZEE.com: Er hat vor ein paar Wochen einen Track von Absztrakkt auf Facebook gepostet und im Zuge einer dann aufkommenden Diskussion geschrieben, dass Leute, die Absztrakkt rechtes Gedankengut anhängen wollen, Unsinn reden.
Disarstar: Ist das vielleicht Satire, die ihr falsch verstanden habt?
MZEE.com: Nein. Du kannst dir ja mal die Berichterstattung dazu durchlesen. Es wurde in den Beitragskommentaren eine Diskussion mit ihm begonnen, in der er immer fragwürdigere Sachen geschrieben hat. Einige Zeit später wurde der Beitrag dann gelöscht und es gab einen Entschuldigungs-Post von ihm.
Disarstar: Ich hatte neulich erst eine Debatte darüber und man kann das inhaltlich kurz reduzieren. Wenn du "Ich hab' Kopfschmerzen" googelst, dann sind die ersten drei Treffer "Du hast einen Gehirntumor". Wenn du "Flüchtlinge" googelst, dann sind die ersten drei Treffer "Vergewaltigung" und sowas. Man muss nicht in übertriebenen Anti-Rassismus verfallen und so tun, als wäre jeder Syrer cool. Dem ist natürlich nicht so. Aber es ist genauso absurd, zu sagen oder zu denken, dass jeder Syrer schlecht wäre. Ein Syrer hat nicht mehr oder weniger das Recht, ein Arschloch zu sein, als ein Deutscher. Da fängt nämlich Rassismus meistens an. Und die Leute, die sich nicht benehmen können, sind einfach stark überrepräsentiert. Weil die, die sich benehmen können, im Alltag weder auffallen noch wahrgenommen werden. Und dann ist natürlich das grundsätzliche Problem, dass Kapitalismus sich Rassismus oder Faschismus seit jeher zunutze macht. Wenn es Leuten wirtschaftlich schlecht geht, gucken sie nicht nach oben. So sind wir alle konditioniert und konstituiert gestrickt von klein auf. Sie denken sich nicht: "Vielleicht gibt es hier ein Verteilungsproblem zwischen unten und oben." Sondern gucken nach links und rechts. Und so schlägt sich Arm und Arm den Kopf ein. Ich würde bei Absztrakkt vermuten, dass er nicht reich ist. Und wenn er das Gefühl hat, sich in einer Misere zu befinden, weil Flüchtlinge oder Leute aus dem Ausland kommen, die sich nicht ihm entsprechend benehmen, dann sollte er sich vielleicht mal überlegen, ob es nicht ganz andere Leute in dieser Gesellschaft gibt, die Ungerechtigkeit produzieren. Oder viel mehr Elend in seinem Leben verursachen als der arme Flüchtling, der von irgendwo kommt. Man muss aber dazu sagen: Ich möchte dem auch nicht übertolerant begegnen. Es gab zum Beispiel eine Debatte in einem Hamburger Flüchtlingsheim. Es hieß, dass da ein paar Jungs waren, die in der Kantine nicht essen wollten, weil das Essen von einer Frau ausgeteilt wurde. Da gibt es dann die Oberhippies, die sagen: "Ja, dann muss das Essen halt von einem Mann ausgeteilt werden." Ich sag': "Wenn du das Essen nicht essen möchtest, weil es von einer Frau kommt, dann isst du es nicht. Ganz einfach." Man muss es auch nicht übertreiben. Aber man muss verstehen: Wer kommt? Und aus welchem Grund benehmen sich Leute vielleicht auch schlecht? Du bist 16, kommst nach Deutschland, kriegst keine Arbeitserlaubnis, wirst in ein Flüchtlingsheim gepfercht mit einem Minimum an Geld … Wenn ich überlege, wie ich mit 16 war: Da hatte ich nur Scheiße im Kopf. Wenn du mich in ein Flüchtlingsheim gesteckt hättest, wäre ich nur auf dumme Ideen gekommen. Das kann man jetzt immer weiter thematisieren. Aber: Rechts ist ideologisch gesehen einfach falsch. Es ist unreflektiert, unhistorisch und unwissenschaftlich. Immer. Und die sollen beide die Fresse halten. Man muss sich auch einfach überlegen, mit wem man sich solidarisiert. Mit wem stellt man sich in eine Reihe? Und wenn du dich mit solchen Leuten in einer Reihe siehst, dann bist du halt ein Schwein.
MZEE.com: Wie findest du, sollte ein HipHop-Magazin darauf reagieren, wenn Rapper sich so politisch äußern?
Disarstar: In Deutschland mache ich mir da gar keine Hoffnung. Das ist alles so lächerlich: "HipHop-Journalismus" vermittelt ja schon, dass es gerne Journalismus wär'. Aber das ist billigster Klatsch. Da ist "red!" auf ProSieben ja hochwertiger recherchiert. Aber: Ächten und ausschließen sollten sie diese Leute.
MZEE.com: Für die letzte Frage kommen wir noch mal zurück zu deiner eigenen Musik: Was ist rückblickend gesehen die relevanteste Platte von dir selbst? Und welche würdest du Menschen, die noch nie von dir gehört haben, am meisten ans Herz legen?
Disarstar: "Sturm und Drang". Punkt.
(Florence Bader und Laila Drewes)