An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Felix mit "Jede:r kann es schaffen"-Lines auseinander und erklärt, warum es problematisch ist, wenn deutsche Rapper:innen diesen American Dream unüberlegt rezipieren.
Egal, ob "vom Tellerwäscher zum Millionär" oder "from rags to riches": Wohl jede Person kennt mindestens einen dieser Sprüche. Verwunderlich ist das nicht, werden diese Aussagen doch in zahlreichen Filmen, Geschichten und im Englischunterricht vieler Schulen behandelt. Aber auch deutscher Rap bringt seinen Hörer:innen solche Konzepte bei. Schon 2003 lieferte Bushidos Albumtitel "Vom Bordstein bis zur Skyline" einen griffigen Spruch für den American Dream im deutschen Rap. Spätestens seitdem haben sich jede Menge Rapper:innen nach oben gekämpft. So erscheint auch eine Zeile wie "Ob du die Mio klären kannst, hast du selber in der Hand" von Lugatti auf dem neuen Track "Rauchfrei" gar nicht erwähnenswert. Trotzdem spukt sie mir im Kopf herum. Denn Lugatti liefert mir mit dieser stumpfen Zeile Hinweise auf ein Missverhältnis, das mich in der HipHop-Welt schon so lange wurmt. Was sagen denn diese Aufstiegsversprechen und Leistungsgedanken in Rap-Songs eigentlich aus?
Wie eingangs bereits erwähnt ist Lugattis Zeile nicht die einzige im deutschen Rap, die solche Denkarten widerspiegelt. Verglichen mit anderen Zeilen des Rappers fällt die Line aber auf. Zwar ist Lugatti weder als Solokünstler noch zusammen mit 9inebro als Lugatti & 9ine ein besonders sozialkritischer Rapper. Trotzdem lassen sich in den Texten der beiden Kölner öfter Referenzen zu realpolitischen Projekten, Themen oder Parteien finden. Ob Frontex, Nazis oder die FDP – die Kinder der Küste beziehen zu vielen gesellschaftlichen Themen klar Stellung und wollen vor allem mit Rechtsextremen nichts zu tun haben. Aber auch die bereits erwähnten Freien Demokraten kommen in einem Lugatti-Part von vor einem Jahr nicht gut weg. Auf dem Track "Gotcha scared" stellt er seine politische Position wie folgt dar: "Links-grün-versiffte Jugend, Bruder, fick' die FDP, ja." Umso mehr überrascht hat es mich deshalb, dass der stolze Kölner auf der neuen, bereits erwähnten Single "Rauchfrei" unreflektiert Leistungsversprechen rezipiert. Die Zeile klingt dabei eher nach Start-ups und Kryptowährungen als nach links-grün-versifftem Kiffer-Rap. Lugatti & 9ine sehen ihre politische Position zwar "außenlinks, genau wie bei Europa-Wahl", trotzdem wollen sie den American Dream verkaufen. Damit sind sie nicht allein, fallen durch den Kontrast ihrer selbst geschilderten politischen Haltung nur besonders auf. Egal, ob "We Made It" von T-Low, "Hustler" von KALIM oder "Erfolg ist kein Glück" von Kontra K – Rapper:innen können nicht damit aufhören, ihren Hörer:innen realitätsferne Leistungsversprechen zu verkaufen.
Das ist allerdings bizarr, müssten sich der American Dream und HipHop der Definition nach doch eigentlich feindlich gegenüberstehen. Der berühmte Slogan "vom Tellerwäscher zum Millionär" besagt, jeder Mensch könne durch harte Arbeit reich werden, ungeachtet seiner Herkunft oder seines sozialen Stands. Der Gedanke, durch ordentliche Leistung und Cleverness sozial aufzusteigen, ist dabei weniger störend. Umso schlimmer ist dafür der zweite Teil des Gedankens – die Chancengleichheit für alle. Das ist der American Dream: eine Wunschvorstellung, die so nicht existiert. HipHop berichtet als Kultur seit jeher von unfairen Aufstiegschancen. Zur Entstehungszeit von HipHop in den 70er Jahren hatten die Schwarze Bevölkerung und andere People of Color sicherlich nicht dieselben Voraussetzungen wie die weiße Gesellschaft. Ein faires Startverhältnis für alle, bei dem nur die Leistung zählt, gab es damals wie heute nicht. Zwar mag sich auf der Welt vieles geändert haben, doch von Chancengleichheit für alle Menschen kann immer noch keine Rede sein. Weshalb steckt das "Rags to riches"-Narrativ HipHop dann so in den Knochen? Warum klammern sich Rapper:innen so verzweifelt an ein verdrehtes, unfaires Bild der Welt und predigen es ihren Hörer:innen?
Wie eingangs schon suggeriert, ist der HipHop-Markt von lauter "Jede:r kann es schaffen"-Zeilen schon lange saturiert. Denn diese Art von Zeilen funktioniert einfach. Die Geschichte von den Armen, die durch harte Arbeit reich werden, ist eine der ältesten der Welt. Sie ist gern gehört und wird genau deshalb auch gern reproduziert. Kurzum: Wir wollen den Underdog gewinnen sehen – egal, ob im Film, in Geschichten oder in der Musik. So ist der omnipräsente Struggle gegen ein unfaires System nicht nur ein wichtiger Aspekt der Lebensumstände der Erschaffer:innen von HipHop, sondern auch ein gutes Erzählmotiv. Songs, die dieses Thema behandeln, können dabei Hoffnung spenden oder ein Sprachrohr für die Personen der betroffenen Communitys sein.
Gefährlich wird es allerdings, wenn man so ein Motiv ohne nachzudenken nachrappt. Klar, aus so einem System herauszubrechen und es in die finanzielle Freiheit zu schaffen, ist eine Herausforderung. Wer diese Herausforderung meistert, der ist stolz. Wer möchte dann noch hören, dass für diesen Erfolg weniger die eigene Arbeit, sondern eher Glück und Zufall verantwortlich waren? Richtig, niemand. Erfolg ist schließlich "kein Glück, sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen", wie der Rapper Kontra K mal so toll formulierte. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings, dass Misserfolg auch immer nur durch zu wenig Leistung entstehen kann – das stimmt natürlich keineswegs. Das Leistungsversprechen ist somit nicht zu Ende gedacht. Stattdessen sonnt man sich an der Spitze und verkauft die verlogene Geschichte vom sozialen Aufstiegskampf, den es nur mit bloßem Fleiß zu gewinnen gilt.
Es gibt aber auch eine andere Seite der Medaille. Jede Angeberei als böses Werbeplakat des Kapitalismus darzustellen, ist genauso ein Klischee wie sich in einem Disneyfilm vom Tellerwäscher zum Millionär hochzuarbeiten. Das Prahlen mit den eigenen Errungenschaften, insbesondere den finanziellen Möglichkeiten, kann nämlich auch ein politisches und Diskurs anregendes Statement sein. Das erklärt die Rapperin Ebow in ihrem Song "Prada Bag" anschaulich: "Wenn du in einer Gesellschaft aufwächst, die dich immer als Mensch zweiter Klasse sieht, […] dann ist deine einzige Möglichkeit, auf gleicher Augenhöhe zu stehen, ihnen zu imponier'n." Das Angeben mit Status und Geld kann also unter anderem Menschen mit Migrationshintergrund dabei helfen, sich über soziale Schichten hinwegzusetzen. Gefangen in einem System, in dem es Grundrespekt für manche Personengruppen nie gratis gibt, lernt man, nach dessen Regeln zu spielen. Man gönnt sich das, was einem "keiner in diesem Land je gönnen würde", resümiert Ebow. Die Markenlogos, der Schmuck und die Luxusgüter werden zu einem Statement: Ich habe Geld, also zoll mir endlich Respekt.
Das ist allerdings kein Freifahrtschein für jede:n Rapper:in, in jedem Text zu flexen – geschweige denn, den American Dream zu verkaufen. Denn faire Aufstiegschancen zu predigen, wo es keine gibt, verhindert die Arbeit an einer wirklich gerechten Welt. Schlimmer noch: Man schiebt den sozial Schwachen auch noch die Schuld in die Schuhe – denn wer nicht erfolgreich ist, leistet halt nicht genug. Schließlich hat die "Mio" jede:r "selber in der Hand". Dabei ist Lugattis Zeile natürlich kein Grund für soziale Ungerechtigkeit, sie zeigt aber, wie neoliberale Parolen auch von gut meinenden "links-grün-versifften" Rapper:innen verbreitet werden. Das ist jedoch problematisch, weil jede einzelne dieser Zeilen eine leistungsorientierte, unfaire Weltanschauung zumindest bestärkt, welche in erster Linie Menschen unterstützt, die ohnehin schon an der Spitze stehen. Bevor Rapper:innen also davon erzählen, dass man nur den "Kampf an die Spitze" gewinnen muss, sollten sie sich erst mal fragen, warum es diesen Kampf überhaupt geben muss.
(Fejoso)
(Grafik von Daniel Fersch)