Da Musik bekanntlich Geschmackssache ist, würde man auf die Frage nach prägenden HipHop-Alben wahrscheinlich sehr unterschiedliche und individuelle Antworten erhalten. Dennoch würden bestimmte Alben wohl häufiger genannt werden als andere. Manche Platten schaffen es schließlich, bei nahezu jedem einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie prägen ihr Genre nachhaltig und wirken sich direkt oder indirekt auf die Musik anderer Künstler:innen aus. Was aber macht diese Alben so besonders? Sicher ist es vor allem wichtig, alte Muster zu durchbrechen und einen neuen Weg vorzugeben. Dabei ist es essenziell, den ganz eigenen Sound zu finden. Eine standardisierte Antwort gibt es hierfür aber wohl nicht. Einfluss gilt es, stets individuell zu betrachten – und ein Blick in die Geschichte des einflussreichen Raps lohnt sich. Dieses Mal geht es um das Debütalbum von Azad – "Leben".
Warum sind die Debütalben von Musiker:innen häufig deren eindrücklichste Werke? Meist wird versucht, dieses Phänomen damit zu erklären, dass in das Debüt alles an bisher gemachter Lebenserfahrung einfließt, während in den folgenden Alben eigentlich nur noch die Zeit nach dem Debüt künstlerisch verarbeitet werden kann. "Leben" von Azad ist dafür ein Paradebeispiel: Auch mehr als 20 Jahre nach seinem Erscheinen berufen sich Rapper:innen aller Couleur auf den Erstling des Frankfurters. Gleichzeitig wird so unterstrichen, dass "Leben" nicht nur ein wichtiges Album, sondern für das Subgenre "Straßenrap" in Deutschland die Blaupause ist, an der man sich immer noch orientiert. Im Album spiegeln sich das Ende der Beginner-Ära seit "Bambule" 1998 und der Beginn der Berliner Aggro-Ära ab 2003 gleichermaßen.
Vorgeschichte
Um zu verstehen, wie passgenau das Album verschiedene Ären und Subgenres vereint, lohnt es sich, einen Blick auf den Künstler vor Release zu werfen. Obwohl es das Debütalbum ist, ist Azad bei der Veröffentlichung schon 28 Jahre alt. Ein auch für damalige Verhältnisse eher spätes Ankommen auf der großen nationalen Bühne. "Leben" ist demnach auch nicht der erste Gehversuch des Frankfurters. Bereits Mitte der 80er gibt es die ersten Aktivitäten im Breakdance und als Sprüher, seit Anfang der 90er ist Azad auch rappend mit D-Flame, Combad und A-Bomb als Asiatic Warriors unterwegs. Prinzipiell findet sich hier also der klassischste Backpacker-Werdegang, der sich überhaupt vorstellen lässt. Dass der Rapper dennoch mit einer anderen Energie und Härte am Mic agiert, als man es bei oberflächlicher Betrachtung des künstlerischen Lebenslaufs vermutet, lässt sich bereits Mitte der 90er beobachten.
Auch wenn die Schublade "Straßenrap" hierzulande noch gar nicht befüllt ist und lediglich das Rödelheim Hartreim Projekt als Beispiel herhalten kann, lässt sich bereits erahnen, wohin die Reise gehen wird. Und das, ohne explizit zu versuchen, sich von der Szene abzugrenzen, wie es später vor allem für Aggro Berlin und deren Umfeld zum guten Ton gehört. Dennoch unterstreicht Azad seine vom Rest der Szene unterschiedliche Herangehensweise durch Themensetzung und Vortragsweise in seinen Rapparts, was sich in Ansätzen auch schon auf den ersten Songs mit den Asiatic Warriors erkennen lässt.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
1999 unterschreibt Azad einen Vertrag beim Label 3P von Moses Pelham, der damals der herausragende Vertreter der Frankfurter Szene ist. Durch Pelham und Tone, Rödelheim Hartreim Projekt und Konkret Finn hat Frankfurter Rap bereits den Ruf, düsterer und härter zu sein als die Musik, die zeitgleich aus Heidelberg, Stuttgart und Hamburg heraus veröffentlicht wird. Frankfurt ist noch deutlicher als die anderen regionalen Szenen rap- und beattechnisch an der New Yorker Szene orientiert, ohne dabei die gleiche popkulturelle Vorreiterrolle zu genießen, wie es bei New York für die amerikanische Szene der Fall ist. Heidelberger Rap hat mit "Blauer Samt" im Jahr 2000 seinen Höhepunkt bereits erreicht, Samy Deluxe aus Hamburg steht erst am Anfang seiner besten Zeit und in Berlin bleibt das meiste bisher noch regional im Untergrund verhaftet. In diese Gemengelage hinein erscheint also genau zum richtigen Zeitpunkt Ende 2000 mit "Napalm" der Vorbote auf "Leben". In der Kombination aus Video und Song wird der erhoffte Schockeffekt erreicht, der die nötige Aufmerksamkeit auf Azad lenkt. Im Song selbst finden sich bereits jene genreverbindenden Aspekte wieder, die sich später als roter Faden durch "Leben" ziehen werden. Aggressiv, teilweise verhaspelnd, schnell vorgetragene Representer-Lyrics, die auch deshalb mit so hoher Geschwindigkeit gerappt werden, weil in jede Zeile möglichst viele Reime passen sollen. Ein minimalistischer, rauer Beat, aber selbst produziert und mit Geigen-Sample. Im Video sieht man vermummte Männer in Camouflage mit Kampfhunden, gleichzeitig wird gebreaket und Azad steht zwischenzeitlich am Mischpult.
Die anschließend ausgekoppelte Single "Gegen den Strom" schlägt stilistisch und inhaltlich in die gleiche Kerbe wie "Napalm" und wird der Auslöser für den Beef mit Samy Deluxe. Interessanterweise kann man auf "Leben" mit "Samy de Bitch!! (7 Lektionen)" auch direkt den Konter auf Samys zwischenzeitlich erschienene Antwort "Rache ist süß" hören, obwohl zwischen dem "Leben"-Album-Release und der "Gegen den Strom"-Single-Auskopplung nur knapp zwei Monate liegen. Bei den damals nötigen Vorlaufzeiten für Marketing, Plattenpressung und Ähnlichem ist also davon auszugehen, dass "Samy de Bitch!! (7 Lektionen)" sehr spontan entstanden ist.
Das Album
Bei "Leben" ist der Name Programm. Angefangen beim aufwändig gestalteten Cover, bei dem wirklich versucht wird, das gesamte bisherige Leben des Künstlers mit großem Detailreichtum abzubilden, bis hin zur inhaltlichen Umsetzung. Bis auf die Gastparts komplett in Eigenregie geschrieben und produziert, wird hier versucht, die künstlerische Vision so kompromisslos wie möglich zu realisieren. Azad rappt auf den mal minimalistischen, mal pompösen Beats mit immer hörbarem Hunger. Der Versuch, in jede Zeile noch einen Reim mehr zu pressen, als der Takt eigentlich hergibt, ist allerdings durchaus als Schwachstelle des Albums zu bezeichnen. Der New York-Einfluss lässt sich ebenso finden wie für Deutschrap neuartige Elemente, etwa bei der Instrumentierung auf "Freiheit" mit dem kurdischen Sänger Nasser Razzazi. Die überschnelle Vortragsweise Azads zieht sich vor allem durch die Representer, während er es auf den inhaltlich schwereren Songs auch mal ruhiger angehen lässt. Apropos inhaltliche Schwere: Die Songs "Leben", "HipHop" und "Freiheit" bilden drei der vier thematischen Eckpfeiler, zwischen denen der Frankfurter sich auch auf künftigen Projekten bewegen wird. Der persönliche Werdegang, der (lebens-)wichtige Bezug zur Musik und die kurdische Herkunft mit allen einhergehenden Unterdrückungs- und Diskriminierungsmomenten sind bis heute als Thema auf jedem Azad-Album zu finden. Einzig der kritische Lokalpatriotismus zu Frankfurt allgemein und der Nordweststadt im Speziellen nimmt erst mit dem zweiten Album "Faust des Nordwestens" zunehmend seinen Platz in der Themenpalette ein. Der Großteil der Songs funktioniert am besten, wenn Azad alleine das Zepter des Geschehens in der Hand hält. Von den meist sehr generischen Gastparts bleibt auch beim heutigen Hören bis auf zwei Ausnahmen kaum etwas hängen. Lediglich Curse liefert ab sowie der damals gerade durchstartende Kool Savas. Der auf der Platte am Ende versteckte Song mit dem Berliner bietet einen würdigen Schlusspunkt des Albums.
Der Impact
Dass "Leben" mindestens Inspiration oder gar Blaupause war, lässt sich allein aus zahlreichen Aussagen von Artists über das Album entnehmen. Seien es MoTrip, Vega, Celo & Abdi, Haftbefehl oder andere. Kaum ein Rapper, der auch nur entfernt in der seit "Leben" existenten Straßenrap-Ecke zu verorten ist, wird den Einfluss des Albums auf die gesamte Szene verneinen. So ist beispielsweise auch für Morlockk Dilemma "Leben" die Blaupause für das Subgenre gewesen, wie dieser im HHV Mag bekennt: "Alles was danach mit dem Zertifikat 'Streetrap' um die Ecke kam, muss sich mit dem Album messen lassen und hat dieses nicht erreicht." Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist da natürlich der schon genannte Zeitpunkt. Ein wenig stößt "Leben" in ein Machtvakuum, das bis dato von Hamburg und Berlin noch nicht gefüllt wurde. Wäre das Album zwei bis drei Jahre später erschienen, hätte es sicher nicht den Status, den es heute hat. Es wären in der Zwischenzeit Samy Deluxe und Kool Savas derart durchgestartet, dass Azad mit einem deutlich geringeren Knalleffekt auf die Bildfläche getreten wäre. Etwas früher und "Leben" wäre so deutlich seiner Zeit voraus, dass es im Untergrund verhaftet geblieben wäre. Gleichzeitig bringt das beste Timing ohne die entsprechende Qualität nichts. Davon besitzt das Album reichlich. Produktions- und raptechnisch setzt das alles für damalige Verhältnisse Maßstäbe. Einige Songs sind tatsächlich zeitlose Kunst in dem Sinne geworden, dass man sie sich auch heute noch anhören kann, ohne eine Sekunde das Gefühl zu haben, etwas Verstaubtes und Altbackenes vorgesetzt zu bekommen. Der größte Trumpf des Albums sind aber seine vielfältigen Identifikationsmöglichkeiten. Sowohl der Jams besuchende Realkeeper als auch der Ticker von nebenan, für den Deutschrap bis dato immer peinlich war, konnte sich in "Leben" wiederfinden. Das Album bot schon damals den in den späteren Nullerjahren so oft verzweifelt gesuchten "Straßenrap mit Grips" und genießt seinen Status völlig zu Recht.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)