Kategorien
Reportage

Eine kurze Geschichte wichtiger HipHop-​Alben: #07 "Leben"

"Eine kur­ze Geschich­te wich­ti­ger HipHop-​Alben" beschäf­tigt sich mit der His­to­rie von ein­fluss­rei­chen Wer­ken im Rap. In die­ser Aus­ga­be geht es um Azads Debüt­al­bum "Leben", das Stra­ßen­rap auf Deutsch bis heu­te beeinflusst.

Da Musik bekannt­lich Geschmacks­sa­che ist, wür­de man auf die Fra­ge nach prä­gen­den HipHop-​Alben wahr­schein­lich sehr unter­schied­li­che und indi­vi­du­el­le Ant­wor­ten erhal­ten. Den­noch wür­den bestimm­te Alben wohl häu­fi­ger genannt wer­den als ande­re. Man­che Plat­ten schaf­fen es schließ­lich, bei nahe­zu jedem einen blei­ben­den Ein­druck zu hin­ter­las­sen. Sie prä­gen ihr Gen­re nach­hal­tig und wir­ken sich direkt oder indi­rekt auf die Musik ande­rer Künst­ler aus. Was aber macht die­se Alben so beson­ders? Sicher ist es vor allem wich­tig, alte Mus­ter zu durch­bre­chen und einen neu­en Weg vor­zu­ge­ben. Dabei ist es essen­zi­ell, den ganz eige­nen Sound zu fin­den. Eine stan­dar­di­sier­te Ant­wort gibt es hier­für aber wohl nicht. Ein­fluss gilt es, stets indi­vi­du­ell zu betrach­ten – und ein Blick in die Geschich­te des ein­fluss­rei­chen Raps lohnt sich. Die­ses Mal geht es um das Debüt­al­bum von Azad – "Leben".

 

War­um sind die Debüt­al­ben von Musiker:innen häu­fig deren ein­drück­lichs­te Wer­ke? Meist wird ver­sucht, die­ses Phä­no­men damit zu erklä­ren, dass in das Debüt alles an bis­her gemach­ter Lebens­er­fah­rung ein­fließt, wäh­rend in den fol­gen­den Alben eigent­lich nur noch die Zeit nach dem Debüt künst­le­risch ver­ar­bei­tet wer­den kann. "Leben" von Azad ist dafür ein Para­de­bei­spiel: Auch mehr als 20 Jah­re nach sei­nem Erschei­nen beru­fen sich Rapper:innen aller Cou­leur auf den Erst­ling des Frank­fur­ters. Gleich­zei­tig wird so unter­stri­chen, dass "Leben" nicht nur ein wich­ti­ges Album, son­dern für das Sub­gen­re "Stra­ßen­rap" in Deutsch­land die Blau­pau­se ist, an der man sich immer noch ori­en­tiert. Im Album spie­geln sich das Ende der Beginner-​Ära seit "Bam­bu­le" 1998 und der Beginn der Ber­li­ner Aggro-​Ära ab 2003 gleichermaßen.

 

Vor­ge­schich­te

Um zu ver­ste­hen, wie pass­ge­nau das Album ver­schie­de­ne Ären und Sub­gen­res ver­eint, lohnt es sich, einen Blick auf den Künst­ler vor Release zu wer­fen. Obwohl es das Debüt­al­bum ist, ist Azad bei der Ver­öf­fent­li­chung schon 28 Jah­re alt. Ein auch für dama­li­ge Ver­hält­nis­se eher spä­tes Ankom­men auf der gro­ßen natio­na­len Büh­ne. "Leben" ist dem­nach auch nicht der ers­te Geh­ver­such des Frank­fur­ters. Bereits Mit­te der 80er gibt es die ers­ten Akti­vi­tä­ten im Break­dance und als Sprü­her, seit Anfang der 90er ist Azad auch rap­pend mit D-​Flame, Com­bad und A-​Bomb als Asia­tic War­ri­ors unter­wegs. Prin­zi­pi­ell fin­det sich hier also der klas­sischs­te Backpacker-​Werdegang, der sich über­haupt vor­stel­len lässt. Dass der Rap­per den­noch mit einer ande­ren Ener­gie und Här­te am Mic agiert, als man es bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung des künst­le­ri­schen Lebens­laufs ver­mu­tet, lässt sich bereits Mit­te der 90er beobachten.

Asia­tic War­ri­ors - Geld Regiert Die Welt.

Auch wenn die Schub­la­de "Stra­ßen­rap" hier­zu­lan­de noch gar nicht befüllt ist und ledig­lich das Rödel­heim Hart­reim Pro­jekt als Bei­spiel her­hal­ten kann, lässt sich bereits erah­nen, wohin die Rei­se gehen wird. Und das, ohne expli­zit zu ver­su­chen, sich von der Sze­ne abzu­gren­zen, wie es spä­ter vor allem für Aggro Ber­lin und deren Umfeld zum guten Ton gehört. Den­noch unter­streicht Azad sei­ne vom Rest der Sze­ne unter­schied­li­che Her­an­ge­hens­wei­se durch The­men­set­zung und Vor­trags­wei­se in sei­nen Rap­parts, was sich in Ansät­zen auch schon auf den ers­ten Songs mit den Asia­tic War­ri­ors erken­nen lässt.

 

Zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort

1999 unter­schreibt Azad einen Ver­trag beim Label 3P von Moses Pel­ham, der damals der her­aus­ra­gen­de Ver­tre­ter der Frank­fur­ter Sze­ne ist. Durch Pel­ham und Tone, Rödel­heim Hart­reim Pro­jekt und Kon­kret Finn hat Frank­fur­ter Rap bereits den Ruf, düs­te­rer und här­ter zu sein als die Musik, die zeit­gleich aus Hei­del­berg, Stutt­gart und Ham­burg her­aus ver­öf­fent­licht wird. Frank­furt ist noch deut­li­cher als die ande­ren regio­na­len Sze­nen rap- und beatt­ech­nisch an der New Yor­ker Sze­ne ori­en­tiert, ohne dabei die glei­che pop­kul­tu­rel­le Vor­rei­ter­rol­le zu genie­ßen, wie es bei New York für die ame­ri­ka­ni­sche Sze­ne der Fall ist. Hei­del­ber­ger Rap hat mit "Blau­er Samt" im Jahr 2000 sei­nen Höhe­punkt bereits erreicht, Samy Delu­xe aus Ham­burg steht erst am Anfang sei­ner bes­ten Zeit und in Ber­lin bleibt das meis­te bis­her noch regio­nal im Unter­grund ver­haf­tet. In die­se Gemenge­la­ge hin­ein erscheint also genau zum rich­ti­gen Zeit­punkt Ende 2000 mit "Napalm" der Vor­bo­te auf "Leben". In der Kom­bi­na­ti­on aus Video und Song wird der erhoff­te Schock­ef­fekt erreicht, der die nöti­ge Auf­merk­sam­keit auf Azad lenkt. Im Song selbst fin­den sich bereits jene gen­re­ver­bin­den­den Aspek­te wie­der, die sich spä­ter als roter Faden durch "Leben" zie­hen wer­den. Aggres­siv, teil­wei­se ver­has­pelnd, schnell vor­ge­tra­ge­ne Representer-​Lyrics, die auch des­halb mit so hoher Geschwin­dig­keit gerappt wer­den, weil in jede Zei­le mög­lichst vie­le Rei­me pas­sen sol­len. Ein mini­ma­lis­ti­scher, rau­er Beat, aber selbst pro­du­ziert und mit Geigen-​Sample. Im Video sieht man ver­mumm­te Män­ner in Camou­fla­ge mit Kampf­hun­den, gleich­zei­tig wird gebrea­k­et und Azad steht zwi­schen­zeit­lich am Mischpult.

Azad - Napalm (NEW UPLOAD) (Offi­ci­al 3pTV)

Die anschlie­ßend aus­ge­kop­pel­te Sin­gle "Gegen den Strom" schlägt sti­lis­tisch und inhalt­lich in die glei­che Ker­be wie "Napalm" und wird der Aus­lö­ser für den Beef mit Samy Delu­xe. Inter­es­san­ter­wei­se kann man auf "Leben" mit "Samy de Bitch!! (7 Lek­tio­nen)" auch direkt den Kon­ter auf Samys zwi­schen­zeit­lich erschie­ne­ne Ant­wort "Rache ist süß" hören, obwohl zwi­schen dem "Leben"-Album-Release und der "Gegen den Strom"-Single-Auskopplung nur knapp zwei Mona­te lie­gen. Bei den damals nöti­gen Vor­lauf­zei­ten für Mar­ke­ting, Plat­ten­pres­sung und Ähn­li­chem ist also davon aus­zu­ge­hen, dass "Samy de Bitch!! (7 Lek­tio­nen)" sehr spon­tan ent­stan­den ist.

Azad - Samy De Bitch!! (7 Lek­tio­nen) 'Leben' Album (Offi­ci­al 3pTV)

 

 

Das Album

Bei "Leben" ist der Name Pro­gramm. Ange­fan­gen beim auf­wän­dig gestal­te­ten Cover, bei dem wirk­lich ver­sucht wird, das gesam­te bis­he­ri­ge Leben des Künst­lers mit gro­ßem Detail­reich­tum abzu­bil­den, bis hin zur inhalt­li­chen Umset­zung. Bis auf die Gast­parts kom­plett in Eigen­re­gie geschrie­ben und pro­du­ziert, wird hier ver­sucht, die künst­le­ri­sche Visi­on so kom­pro­miss­los wie mög­lich zu rea­li­sie­ren. Azad rappt auf den mal mini­ma­lis­ti­schen, mal pom­pö­sen Beats mit immer hör­ba­rem Hun­ger. Der Ver­such, in jede Zei­le noch einen Reim mehr zu pres­sen, als der Takt eigent­lich her­gibt, ist aller­dings durch­aus als Schwach­stel­le des Albums zu bezeich­nen. Der New York-​Einfluss lässt sich eben­so fin­den wie für Deutschrap neu­ar­ti­ge Ele­men­te, etwa bei der Instru­men­tie­rung auf "Frei­heit" mit dem kur­di­schen Sän­ger Nas­ser Raz­z­azi. Die über­schnel­le Vor­trags­wei­se Azads zieht sich vor allem durch die Repre­sen­ter, wäh­rend er es auf den inhalt­lich schwe­re­ren Songs auch mal ruhi­ger ange­hen lässt. Apro­pos inhalt­li­che Schwe­re: Die Songs "Leben", "Hip­Hop" und "Frei­heit" bil­den drei der vier the­ma­ti­schen Eck­pfei­ler, zwi­schen denen der Frank­fur­ter sich auch auf künf­ti­gen Pro­jek­ten bewe­gen wird. Der per­sön­li­che Wer­de­gang, der (lebens-)wichtige Bezug zur Musik und die kur­di­sche Her­kunft mit allen ein­her­ge­hen­den Unterdrückungs- und Dis­kri­mi­nie­rungs­mo­men­ten sind bis heu­te als The­ma auf jedem Azad-​Album zu fin­den. Ein­zig der kri­ti­sche Lokal­pa­trio­tis­mus zu Frank­furt all­ge­mein und der Nord­west­stadt im Spe­zi­el­len nimmt erst mit dem zwei­ten Album "Faust des Nord­wes­tens" zuneh­mend sei­nen Platz in der The­men­pa­let­te ein. Der Groß­teil der Songs funk­tio­niert am bes­ten, wenn Azad allei­ne das Zep­ter des Gesche­hens in der Hand hält. Von den meist sehr gene­ri­schen Gast­parts bleibt auch beim heu­ti­gen Hören bis auf zwei Aus­nah­men kaum etwas hän­gen. Ledig­lich Cur­se lie­fert ab sowie der damals gera­de durch­star­ten­de Kool Savas. Der auf der Plat­te am Ende ver­steck­te Song mit dem Ber­li­ner bie­tet einen wür­di­gen Schluss­punkt des Albums.

 

Der Impact

Dass "Leben" min­des­tens Inspi­ra­ti­on oder gar Blau­pau­se war, lässt sich allein aus zahl­rei­chen Aus­sa­gen von Artists über das Album ent­neh­men. Sei­en es MoTrip, Vega, Celo & Abdi, Haft­be­fehl oder ande­re. Kaum ein Rap­per, der auch nur ent­fernt in der seit "Leben" exis­ten­ten Straßenrap-​Ecke zu ver­or­ten ist, wird den Ein­fluss des Albums auf die gesam­te Sze­ne ver­nei­nen. So ist bei­spiels­wei­se auch für Mor­lockk Dilem­ma "Leben" die Blau­pau­se für das Sub­gen­re gewe­sen, wie die­ser im HHV Mag bekennt: "Alles was danach mit dem Zer­ti­fi­kat 'Stree­trap' um die Ecke kam, muss sich mit dem Album mes­sen las­sen und hat die­ses nicht erreicht." Die Grün­de dafür sind viel­fäl­tig. Zum einen ist da natür­lich der schon genann­te Zeit­punkt. Ein wenig stößt "Leben" in ein Macht­va­ku­um, das bis dato von Ham­burg und Ber­lin noch nicht gefüllt wur­de. Wäre das Album zwei bis drei Jah­re spä­ter erschie­nen, hät­te es sicher nicht den Sta­tus, den es heu­te hat. Es wären in der Zwi­schen­zeit Samy Delu­xe und Kool Savas der­art durch­ge­star­tet, dass Azad mit einem deut­lich gerin­ge­ren Knall­ef­fekt auf die Bild­flä­che getre­ten wäre. Etwas frü­her und "Leben" wäre so deut­lich sei­ner Zeit vor­aus, dass es im Unter­grund ver­haf­tet geblie­ben wäre. Gleich­zei­tig bringt das bes­te Timing ohne die ent­spre­chen­de Qua­li­tät nichts. Davon besitzt das Album reich­lich. Produktions- und rap­t­ech­nisch setzt das alles für dama­li­ge Ver­hält­nis­se Maß­stä­be. Eini­ge Songs sind tat­säch­lich zeit­lo­se Kunst in dem Sin­ne gewor­den, dass man sie sich auch heu­te noch anhö­ren kann, ohne eine Sekun­de das Gefühl zu haben, etwas Ver­staub­tes und Alt­ba­cke­nes vor­ge­setzt zu bekom­men. Der größ­te Trumpf des Albums sind aber sei­ne viel­fäl­ti­gen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten. Sowohl der Jams besu­chen­de Real­kee­per als auch der Ticker von neben­an, für den Deutschrap bis dato immer pein­lich war, konn­te sich in "Leben" wie­der­fin­den. Das Album bot schon damals den in den spä­te­ren Nuller­jah­ren so oft ver­zwei­felt gesuch­ten "Stra­ßen­rap mit Grips" und genießt sei­nen Sta­tus völ­lig zu Recht.

(Simon Back)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)