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Kommentar

TikTok: Fluch oder Segen?

Tik­Tok ver­än­dert seit sei­nem Launch die Musik­in­dus­trie. Mar­ke­ting, Pro­duk­ti­on und Kon­sum hän­gen nun häu­fig von einer App ab. Wel­che Fol­gen das mit sich bringt und wer Gewin­ner und Ver­lie­rer des Wett­ren­nens nach Auf­merk­sam­keit sind.

An die­ser Stel­le möch­ten wir Gedan­ken zu aktu­el­len Gescheh­nis­sen aus dem Deutschrap-​Kosmos zum Aus­druck brin­gen. Die jeweils dar­ge­stell­te Mei­nung ist die des:der Autor:in und ent­spricht nicht zwangs­läu­fig der der gesam­ten Redak­ti­on – den­noch möch­ten wir auch Ein­zel­stim­men Raum geben.

Im Fol­gen­den setzt sich unse­re Redak­teu­rin Sade mit der Fra­ge aus­ein­an­der, wel­che Vor- und Nach­tei­le die App Tik­Tok für Künstler:innen hat.

 

Was ver­bin­det Soul­ja Boy, Otto Waal­kes und Lil Nas X? Auf den ers­ten Blick eigent­lich gar nichts. Und doch gibt es eine ent­schei­den­de Gemein­sam­keit: plötz­li­cher Erfolg durch Social Media. 2007 wickel­te Soul­ja Boy das Release sei­ner Sin­gle "Crank That (Soul­ja Boy)" via MySpace ab. Der inter­na­tio­na­le Erfolg sei­ner Hym­ne bewies schon damals, dass Mar­ke­ting im Inter­net funk­tio­nie­ren kann. Dass das auch heu­te noch so ist, bekommt unter ande­rem Otto Waal­kes zu spü­ren: Das Remake von "Frie­sen­jung" mit Joost und Ski Aggu ver­brei­te­te sich wie ein Lauf­feu­er in Deutsch­lands TikTok-​Bubble. Auch Lil Nas X erkann­te das Poten­zi­al der Platt­form und schaff­te es 2018 mit sei­nem Hit "Old Town Road" an die Spit­ze der Charts. Statt MySpace ver­wen­de­te er aller­dings – wie auch Otto und Ski Aggu – Tik­Tok als Kata­ly­sa­tor für sei­ne Karriere.

Der Kon­zern, der hin­ter der Platt­form steht und sol­che Erfol­ge mög­lich macht, heißt Byte­Dance. Ein chi­ne­si­sches Unter­neh­men, das 2012 von Yiming Zhang und Rubo Liang und ihrem Team gegrün­det wur­de. Der­zeit ist die App die füh­ren­de Platt­form für Kurz­vi­de­os mit cir­ca einer Mil­li­ar­de Nutzer:innen. Dabei haben alle die Mög­lich­keit, sowohl zu kon­su­mie­ren als auch selbst Con­tent zu pro­du­zie­ren. Ele­men­ta­rer Bestand­teil die­ses Con­tents ist häu­fig die musi­ka­li­sche Unter­ma­lung: Dabei kann zum einen die Audio­spur des eige­nen Vide­os ver­wen­det wer­den, zum ande­ren bie­tet die TikTok-​Mediathek ein brei­tes Spek­trum an Sound­schnip­seln an, die ent­we­der von Künstler:innen selbst bereit­ge­stellt wer­den oder aber aus dem Kata­log von Labels wie Sony, Uni­ver­sal oder War­ner stam­men. Der IT-​Gigant hat näm­lich bereits Ver­trä­ge mit den Big Play­ern der Musik­in­dus­trie abge­schlos­sen. Das bedeu­tet also: Jeder Artist, der bei einem der drei genann­ten gro­ßen Labels den eige­nen Kata­log unter­ge­bracht hat, kann damit rech­nen, dass die eige­ne Kunst als Sound­schnip­sel auf Tik­Tok landet.

Ver­ant­wort­lich für die enor­me Reich­wei­te und den damit ver­bun­de­nen Erfolg, die bestimm­te Inhal­te wie "Frie­sen­jung" oder "Old Town Road" gene­rie­ren, ist der Algo­rith­mus der Platt­form. Jener ori­en­tiert sich an der Inter­ak­ti­on der User:innen: Wird viel mit einem Video oder dem zuge­hö­ri­gen Sound inter­agiert, reagiert der Algo­rith­mus und pusht den ent­spre­chen­den Inhalt. Gera­de Nachwuchsmusiker:innen nutz­ten in den letz­ten zwei bis drei Jah­ren das Poten­zi­al vira­ler Momen­te. Denn dank Tik­Tok ist es mög­lich, auch ohne Labels und Manage­ment die eige­ne Kunst inter­na­tio­nal zu prä­sen­tie­ren. Auch hier in Deutsch­land gibt es bereits eine Men­ge Künstler:innnen, die Tik­Tok ihren Kar­rie­re­durch­bruch ver­dan­ken: unter ande­rem Ski Aggu, Domi­zia­na, t-​low und Nina Chuba. An die­sem Punkt kom­men dann häu­fig Labels ins Spiel, wenn sie nicht schon vor­her betei­ligt waren: Tik­Tok wird immer öfter als Talent­pool genutzt, aus dem man sich die Newcomer:innen her­aus­fi­schen kann, ohne selbst Recher­che betrei­ben zu müs­sen. Hat man erst ein­mal einen guten Fang gemacht, geht es vor allem dar­um, die bereits gene­rier­te Reich­wei­te aus­zu­bau­en. Die Kam­pa­gnen für anste­hen­de Releases wer­den dann vor­ran­gig für Tik­Tok geplant: Ein­drü­cke vom Ent­ste­hungs­pro­zess, Lifestyle-​Content oder Chal­lenges sind gän­gi­ge Vor­ge­hens­wei­sen. Fest steht also: Ob als Inde­pen­dent Artist oder Labelmanager:in – Mar­ke­ting via Kurz­vi­de­os lohnt sich.

Kos­ten­lo­se Pro­mo klingt erst mal ziem­lich ver­lo­ckend. Nichts­des­to­trotz heißt nicht jede:r die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen will­kom­men. Ahzum­jot mach­te sei­nem Ärger im Sep­tem­ber 2022 mit­tels einer Handy-​Notiz, die er auf Insta­gram hoch­lud, Luft. Es kön­ne nicht sein, dass Künstler:innen, deren Con­tent ja eigent­lich die Musik ist, dazu ange­hal­ten wer­den, Vide­os für Tik­Tok zu pro­du­zie­ren. Schließ­lich sei­en sie Musiker:innen und kei­ne Content-Creator:innen.  Zum Hin­ter­grund: Tik­Tok schüt­tet bis­lang nur win­zi­ge Beträ­ge aus, von denen man als Künstler:in nicht leben kann. Im Ver­gleich dazu ver­die­nen Content-Creator:innen uto­pi­sche Sum­men. Die­se wer­den aller­dings nicht von Tik­Tok aus­ge­zahlt, son­dern zum Bei­spiel von Werbepartner:innen. Ähn­lich läuft es auch in der Musik­in­dus­trie: Vom Strea­ming allein ist es nicht mög­lich, zu über­le­ben. Von Kunst­schaf­fen­den zu ver­lan­gen, ihre begrenz­te Zeit dafür auf­zu­brin­gen, Con­tent zu pro­du­zie­ren, führt folg­lich dazu, dass die Kunst dar­un­ter lei­det. Es ent­steht eine Dis­kre­panz zwi­schen Bekannt­heit und Kön­nen: Nur weil man in der Lage ist, enorm viel Reich­wei­te zu gene­rie­ren, heißt das nicht, dass die Musik qua­li­ta­tiv hoch­wer­tig ist.

Neben den Labels und Künstler:innen inter­es­sie­ren sich auch ande­re Tei­le der Musik­in­dus­trie für die neu­en Ent­wick­lun­gen. Spo­ti­fy führt etwa "Clips" ein: 30-​sekündige Vide­os, die man mit anste­hen­den Releases, dem Artist selbst oder den Songs ver­knüp­fen kann. Das Ent­de­cken und Hören neu­er Musik fin­det somit in einer ein­zi­gen App statt. Tik­Tok arbei­tet hin­ge­gen bereits an dem eige­nen Strea­ming­dienst Tik­Tok Music – klar, denn bis­her wech­seln die User:innen die App, wenn sie etwas Neu­es ent­deckt haben. Wer das Ren­nen um die ers­te App gewinnt, die als Mischung aus Social Media und Strea­ming daher­kommt, bleibt offen. Klar ist aber bereits heu­te, dass Tik­Tok mas­si­ven Druck unter ande­rem auf Labels aus­übt. Man ist nicht mehr von ihnen abhän­gig, um inter­na­tio­nal Kon­tak­te knüp­fen zu kön­nen oder eine welt­wei­te Fan­ge­mein­de auf­zu­bau­en. Das Erstel­len von Con­tent ist zwar unbe­zahl­te Arbeit, die Pro­mo ist dage­gen aber kos­ten­frei. Außer­dem kön­nen Künstler:innen selbst ent­schei­den, wie sie sich prä­sen­tie­ren wol­len, anstatt sich ein Image auf­drü­cken zu las­sen. Pau­schal zu sagen, dass Tik­Tok schlech­te Aus­wir­kun­gen auf das Künstler:innen-Dasein hat, wäre also zu undif­fe­ren­ziert. Trotz­dem gilt: Die Chan­ce, viral zu gehen und sogar einen Kar­rie­re­durch­bruch zu schaf­fen, gab es in die­sem Aus­maß noch nie zuvor. Ent­we­der man zieht eine Nie­te und bleibt auf unbe­zahl­ter Arbeit sit­zen oder man erwischt den Haupt­ge­winn und damit viel­leicht den Start­schuss für die eige­ne Karriere.

(Sade Kain­gu)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)