Kategorien
Plattenkiste

Nia 2161 – Dystopie ist jetzt

Egal, ob Album, Gratis-​Mixtape oder Lieb­lings­song – in unse­rer "Plat­ten­kis­te" stel­len wir Euch regel­mä­ßig die Per­len unse­rer redak­ti­ons­in­ter­nen Samm­lun­gen vor. Die­ses Mal: Nia 2161 mit "Dys­to­pie ist jetzt".

"Was?! Du kennst das nicht? Sekun­de, ich such' dir das mal raus." Und schon öff­net sich die Plat­ten­kis­te. Wer kennt die­sen Moment nicht? Man redet über Musik und auf ein­mal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzu­fan­gen weiß. Und plötz­lich hagelt es Lob­prei­sun­gen, Hass­ti­ra­den oder Anek­do­ten. Gera­de dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwär­men ver­fällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das The­ma wich­tig ist, bit­tet man nicht all­zu sel­ten um eine Kost­pro­be. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Per­son so sehr am Her­zen zu lie­gen scheint. In die­sem Fall – was uns so sehr am Her­zen liegt: Ein Aus­zug aus der Musik, mit der wir etwas ver­bin­den, die wir fei­ern, die uns berührt. Ein Griff in unse­re Plat­ten­kis­te eben.

 

Irgend­wann im Früh­jahr klick­te ich mich durch Insta-​Storys und blieb bei einer Musik-​Empfehlung von Ame­wu hän­gen: die EP "Dys­to­pie ist jetzt" von Nia 2161. Nach kur­zem Rein­hö­ren war klar: Das fes­selt mich inhalt­lich und soundtechnisch.

Zur abso­lu­ten Hoch­zeit von Public Ene­my Ende der 80er und Anfang der 90er war ich lei­der noch nicht in der Lage, Hip­Hop zu ver­fol­gen. Ich wage aber trotz­dem zu behaup­ten, dass Nia genau die­se Atti­tü­de, inhalt­li­che Aus­rich­tung und vor allem Emo­tio­na­li­tät ins Jahr 2023 über­trägt und dabei eben­je­nen Aspek­ten auch noch einen neu­en, futu­ris­ti­schen Cha­rak­ter ver­leiht. Beson­ders deut­lich wird dies beim Sound der EP: düs­te­re Beats von Tombs Beats und Flows, die defi­ni­tiv nicht in der Gol­den Era ste­cken geblie­ben sind. Die Zah­len­rei­he "2161" steht für "Black Anti­fa­scist Action" und deu­tet bereits an, wohin es in Zukunft gehen soll. Die­se Mis­si­on ver­folgt das Ber­li­ner Rap-​Talent mit volls­ter Über­zeu­gung und berich­tet aus einer Schwar­zen und quee­ren Per­spek­ti­ve. "Und ich renn' gegen 'ne Wand, wäh­rend ich mich wider­setz', Dig­ga. Was für ein Gesetz, Dig­ga? Dys­to­pie ist jetzt!" Die Hook des Titel­tracks steht stell­ver­tre­tend für die Ener­gie der EP. Sel­ten habe ich Künstler:innen so per­fekt eige­ne Per­spek­ti­ven, System- und Kapi­ta­lis­mus­kri­tik, Anti­ras­sis­mus mit einer emo­tio­na­len Band­brei­te zwi­schen Wut, Hass, Schmerz, aber auch Hoff­nung und Lie­be in ein har­mo­ni­sches Gesamt­bild brin­gen sehen. Nia fusio­niert die Über­win­dung eige­ner Schick­sals­schlä­ge und depres­si­ver Epi­so­den mit Erkennt­nis­sen über das all­um­fas­sen­de "Laby­rinth" die­ser Welt.

"Ich bin destruk­tiv, ich bin zer­stö­re­risch." – Das revo­lu­tio­nä­re Poten­zi­al sticht in jedem Song der EP her­vor und erin­nert mich dar­an, dass Rap eben wesent­lich mehr ist bezie­hungs­wei­se sein soll­te, als eine belieb­te Musik­rich­tung. Damit ist Nia 2161 zwar aktu­ell eine Sel­ten­heit im Rap­ga­me, rennt aber zumin­dest bei mir offe­ne Türen ein. Ich hof­fe sehr, dass die – musi­ka­li­sche – Uto­pie der EP in Erfül­lung geht.

(Alec Weber)