"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Irgendwann im Frühjahr klickte ich mich durch Insta-Storys und blieb bei einer Musik-Empfehlung von Amewu hängen: die EP "Dystopie ist jetzt" von Nia 2161. Nach kurzem Reinhören war klar: Das fesselt mich inhaltlich und soundtechnisch.
Zur absoluten Hochzeit von Public Enemy Ende der 80er und Anfang der 90er war ich leider noch nicht in der Lage, HipHop zu verfolgen. Ich wage aber trotzdem zu behaupten, dass Nia genau diese Attitüde, inhaltliche Ausrichtung und vor allem Emotionalität ins Jahr 2023 überträgt und dabei ebenjenen Aspekten auch noch einen neuen, futuristischen Charakter verleiht. Besonders deutlich wird dies beim Sound der EP: düstere Beats von Tombs Beats und Flows, die definitiv nicht in der Golden Era stecken geblieben sind. Die Zahlenreihe "2161" steht für "Black Antifascist Action" und deutet bereits an, wohin es in Zukunft gehen soll. Diese Mission verfolgt das Berliner Rap-Talent mit vollster Überzeugung und berichtet aus einer Schwarzen und queeren Perspektive. "Und ich renn' gegen 'ne Wand, während ich mich widersetz', Digga. Was für ein Gesetz, Digga? Dystopie ist jetzt!" Die Hook des Titeltracks steht stellvertretend für die Energie der EP. Selten habe ich Künstler:innen so perfekt eigene Perspektiven, System- und Kapitalismuskritik, Antirassismus mit einer emotionalen Bandbreite zwischen Wut, Hass, Schmerz, aber auch Hoffnung und Liebe in ein harmonisches Gesamtbild bringen sehen. Nia fusioniert die Überwindung eigener Schicksalsschläge und depressiver Episoden mit Erkenntnissen über das allumfassende "Labyrinth" dieser Welt.
"Ich bin destruktiv, ich bin zerstörerisch." – Das revolutionäre Potenzial sticht in jedem Song der EP hervor und erinnert mich daran, dass Rap eben wesentlich mehr ist beziehungsweise sein sollte, als eine beliebte Musikrichtung. Damit ist Nia 2161 zwar aktuell eine Seltenheit im Rapgame, rennt aber zumindest bei mir offene Türen ein. Ich hoffe sehr, dass die – musikalische – Utopie der EP in Erfüllung geht.
(Alec Weber)