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Interview

Al Kareem – ein Gespräch über die Flucht aus dem Irak

"Die Leu­te von damals beschrei­ben den Geruch vom Gas mit süßen Äpfeln – es hat gut gero­chen, wenn man es ein­ge­at­met hat." – Tau­sen­de Men­schen star­ben 1988 beim schlimms­ten Gift­gas­ein­satz seit dem Ers­ten Welt­krieg im Irak. Al Kareem im Inter­view über eine Geschich­te von Krieg, Flucht und Ankommen.

Trig­ger­war­nung: In die­sem Inter­view wer­den die The­men Krieg, Flucht und Tod aus­führ­lich geschil­dert. All­ge­mein wird viel über trau­ma­ti­sie­ren­de Erfah­run­gen gespro­chen. Falls Euch das trig­gert, soll­tet Ihr hier viel­leicht nicht weiterlesen.

"Wir kamen 24 Stun­den nach dem Angriff in die Stadt. Es war gera­de­zu laut­los. Kei­ne Vögel, kei­ne Tie­re. Nichts Leben­di­ges war zu sehen. Die Stra­ßen waren mit Lei­chen bedeckt. Ich sah Säug­lin­ge, die in den Armen ihrer toten Mut­ter lagen. Ich sah Kin­der, die im Todes­kampf ihren Vater umarmt hat­ten. […] In Hal­abdscha sah ich vie­le, die in Grup­pen gestor­ben waren und so wirk­ten, als hät­ten sie gemein­sam ver­sucht das Gift nicht ein­zu­at­men."Mit die­sen Wor­ten beschreibt ein tür­ki­scher Foto­graf und Jour­na­list sei­ne Erin­ne­rung an die kur­di­sche Stadt Hal­abdscha kurz nach einem Gift­gas­ein­satz am 16. März 1988. Die Fol­ge des Anschlags waren nicht nur etwa 5 000 Tote, die an die­sem Tag star­ben. Tau­sen­de tru­gen dau­er­haf­te Schä­di­gun­gen davon, star­ben an den Fol­gen oder lit­ten unter ande­rem an Krebs, Fehl­ge­bur­ten und Unfruchtbarkeit.

Hal­abdscha ist eine Klein­stadt in der Nähe der ira­ni­schen Gren­ze. Seit 1980 waren hier auch die Aus­wir­kun­gen des Ers­ten Golf­kriegs zu spü­ren – einem Krieg zwi­schen Irak und Iran, der am 20. August 1988 erst sein Ende fand. All die genann­ten Gescheh­nis­se machen deut­lich, dass es sich bei die­ser Stadt um kei­nen Ort han­del­te, an dem man dau­er­haft in Frie­den leben und Kin­der groß­zie­hen konn­te. Und genau hier setzt das vor­lie­gen­de Inter­view an.

Der Wit­te­ner Rap­per Al Kareem ist heu­te 35 Jah­re alt. Sei­ne Fami­lie stammt aus dem Ort Hal­abdscha, in des­sen Nähe er gebo­ren wur­de – weni­ge Mona­te vor besag­tem Gift­gas­ein­satz. Sei­ne Fami­lie floh vor dem Anschlag, fand spä­ter für kur­ze Zeit Zuflucht in Iran. Ging zurück, lös­te alles noch Vor­han­de­ne auf und floh über Lan­des­gren­zen – zu Fuß, mit einem Auto, mit dem Flug­zeug –, bis sie über eini­ge Umwe­ge nach Deutsch­land kam. Die­ses Inter­view erzählt die Geschich­te von Krieg, Flucht und Ankom­men. Es beschreibt Erin­ne­run­gen an ers­te Schrit­te in Deutsch­land, wie es war, sich allei­ne zu füh­len, und auch die Ver­su­che, sich etwas Neu­es auf­zu­bau­en. Es ist eine Geschich­te über Hoff­nung und Angst, über Zusam­men­halt und eine unglaub­li­che Stär­ke – die Geschich­te von Al Kareem und sei­ner Familie.

Al Kareem: Als Vor­be­rei­tung für die­ses Inter­view hab' ich ges­tern zwei Stun­den mit mei­nem Vater tele­fo­niert, das war rich­tig emo­tio­nal. Er war 21, als ich auf die Welt gekom­men bin. Das muss man sich mal auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen – 21-​Jährige sind für mich heu­te noch Kin­der. Und mei­ne Eltern sind damals über Lan­des­gren­zen geflo­hen, mit mir Hucke­pack. Das war echt hef­tig und gut, dass ich mit ihm so per­sön­lich reden konnte.

MZEE​.com: Und schon sind wir mit­ten­drin. Unser Inter­view dreht sich ja heu­te um die Flucht dei­ner Fami­lie aus dem Irak. Du hast mir im Vor­feld einen Bei­trag von Jan Böh­mer­mann und dem ZDF Maga­zin Roya­le geschickt. Aus die­sem stammt fol­gen­des Zitat: "Es war der schlimms­te Gift­gas­ein­satz seit dem Ers­ten Welt­krieg: 1988 wur­de die Stadt Hal­abdscha bom­bar­diert – von Sad­dam Hus­s­eins Armee. Der Dik­ta­tor woll­te ein Exem­pel an der kur­di­schen Min­der­heit sta­tu­ie­ren. […] Am Ende erstick­ten etwa 5 000 Men­schen qual­voll, fast aus­schließ­lich Zivi­lis­ten, dar­un­ter vie­le Frau­en und Kinder."

Al Kareem: Ein Mann, der in dem Video spricht, ist ein guter Freund von mei­nen Eltern. Er hat bei dem Anschlag sei­ne gan­ze Fami­lie ver­lo­ren – 13 Ange­hö­ri­ge. Er war der ein­zig Über­le­ben­de. Hal­abdscha war eine klei­ne Stadt mit cir­ca 70 000 Men­schen. Offi­zi­ell sind cir­ca 5 000 beim Anschlag umge­kom­men. Mei­ne Eltern sagen, es waren mehr. Die Hälf­te der Stadt wur­de ein­fach aus­ge­rot­tet. Und bei 70 000 Men­schen kennt ja wirk­lich jeder jeden. Mein Bru­der und ich waren auf jeden Fall total geflasht, als wir das Video zufäl­lig gese­hen haben: Boah, war­um geht's auf ein­mal dar­um? (lacht)

MZEE​.com: Und hier kom­men wir zu eurer Geschich­te: Soweit ich weiß, ist dei­ne Fami­lie 1988 aus dei­ner Hei­mat­stadt Hal­abdscha geflo­hen und du warst gera­de erst 4 Mona­te alt. Kannst du ein­mal eure grund­sätz­li­che Situa­ti­on zu die­sem Zeit­punkt darstellen?

Al Kareem: Ich wur­de im Novem­ber 1987 gebo­ren und war dem­nach vier Mona­te alt. Mei­ne Ver­wand­ten waren alle Foto­gra­fen und mein Vater hat das Foto­stu­dio von mei­nem Onkel in Hal­abdscha gelei­tet. Wir waren ganz gut auf­ge­stellt: Wir hat­ten ein eige­nes Haus, in dem mei­ne Eltern und ich gelebt haben. Mein Vater war schon immer poli­tisch inter­es­siert – es gibt eine Par­tei namens PUK (Anm. d. Red.: Patrio­ti­sche Uni­on Kur­di­stan), die in dem Gebiet füh­rend ist und in der er aktiv war. Dadurch hat­te er mit­be­kom­men, dass es Unru­hen geben wird. Zu dem Zeit­punkt gab es noch den Ers­ten Golf­krieg (Anm. d. Red.: Krieg zwi­schen Iran und Irak), der 1988 ende­te. Die­ser Krieg dau­er­te acht Jah­re lang und wir wohn­ten direkt an der Gren­ze (Anm. d. Red.: Die kur­di­sche Stadt Hal­abdscha liegt etwa 240 Kilo­me­ter nord­öst­lich von Bag­dad, cir­ca 16 Kilo­me­ter von der Gren­ze zum Iran ent­fernt), wes­halb es in unse­rer Nähe sowie­so die gan­ze Zeit Tumul­te gab. Mein Vater hat­te die Infor­ma­ti­on, dass etwas pas­sie­ren wird. Sowas kommt nicht ein­fach von heu­te auf mor­gen und kei­ner weiß davon. Es kün­digt sich immer an. Er hat dann mei­ne Mut­ter und mich nach Sulai­ma­ni­y­ya gebracht, die nächst­grö­ße­re Stadt in der Nähe, in der wir Ver­wand­te haben. Und ist anschlie­ßend selbst wie­der zurück, um sei­nen Vater und sei­ne Geschwis­ter zu war­nen: "Wollt ihr nicht auch gehen? Wenn ihr nicht geht, wird es irgend­wann zu spät sein: Die Stadt wird zuge­macht." So ist es dann – eine Stadt wird ver­bar­ri­ka­diert: Kei­ner kommt rein, kei­ner kommt raus. Es gibt ein Bild aus der Zeit des Anschlags von einem Mann, der ein Kind an der Hand hält und auf der Stra­ße liegt. Bei­de sind ver­stor­ben. Der Mann, der dort lag, mein Opa und der Nach­bar mein­ten zu mei­nem Vater: "Lass dir kei­ne Angst machen. Es wird schon nichts pas­sie­ren und wir ver­las­sen die Stadt nicht." Das war ein, zwei Tage vor dem Anschlag. Mein Vater war noch vor Ort und führ­te Gesprä­che wie das mit mei­ner Tan­te, die nicht aus der Stadt weg woll­te, weil sie am nächs­ten Tag eine Klau­sur hat­te … Irgend­wann stand mei­ne Mut­ter in Hal­abdscha mit einem Pick­up vor der Tür und mein­te: "Wir müs­sen jetzt hier weg." Genau einen Tag spä­ter war der Anschlag. Unglaub­lich, wie knapp das damals alles war. Die Fami­lie von mei­nem Vater war also dage­blie­ben und man konn­te nicht mehr in die Stadt rein oder aus ihr raus. Man wuss­te auch nicht, wer über­lebt hat­te – es gab ja noch kei­ne Han­dys. Die gan­ze Zeit wur­de spe­ku­liert. An einem Tag kam einer und sag­te: "Alle sind tot." Am nächs­ten Tag kam ein ande­rer und sag­te: "Nein, der und der hat noch über­lebt." Dann kam wie­der einer und sag­te: "Nein, wir haben dei­ne gan­ze Fami­lie gese­hen, wie sie da lag. Es sind alle tot." Mein Vater ging davon aus, dass alle gestor­ben sind. Oma und Opa. Die acht Brü­der und Schwes­tern. Nach und nach bekam er die Info, dass sie in den Iran flie­hen konn­ten. Tat­säch­lich sind nur sein Vater und ein jün­ge­rer Bru­der am Gift­gas gestor­ben. Er sagt, es war schon ein Trost, erst zu den­ken, die gan­ze Fami­lie ist tot und dann waren es nur zwei. Es ist schlimm – und gleich­zei­tig ist man froh über die Über­le­ben­den. So war das damals: Mein Vater konn­te mei­ne Mut­ter und mich ret­ten. Aber älte­re Män­ner hat­ten ihm gesagt: "Bleib mal locker, es pas­siert schon nichts." Am Ende ist es doch pas­siert. Die Leu­te von damals beschrei­ben den Geruch vom Gas mit süßen Äpfeln – es hat gut gero­chen, wenn man es ein­ge­at­met hat.

MZEE​.com: Das klingt ein­fach nur schrecklich.

Al Kareem: Es ist rich­tig heim­tü­ckisch. Das Gas hat Schaum im Mund erzeugt, sodass die Men­schen erstick­ten (Anm. d. Red.: Es han­del­te sich um eine Mischung aus Senf­gas, Sarin, VX und Tabun – das Ein­at­men kann vie­le Fol­gen haben wie unter ande­rem Läh­mun­gen und Ersti­cken). Mein Vater mein­te, dass die Über­le­bens­chan­ce gestie­gen ist, wenn man es abge­wa­schen hat. Men­schen, die vor Ort Was­ser zum Waschen und Trin­ken hat­ten, haben wohl eher über­lebt. Natür­lich mit blei­ben­den Schä­den. Für immer. Aber sie haben über­lebt. Der Anschlag war übri­gens am Geburts­tag von mei­nem Vater, dem 16. März. Das heißt: Jedes Jahr ist sein Geburts­tag ein Trau­er­tag. Dadurch habe ich das in mei­ner Kind­heit jedes Jahr mit­be­kom­men. Mei­ne Fami­lie war auch immer wie­der an dem Tag in Zei­tungs­in­ter­views oder im Fern­se­hen. Als eine der gro­ßen Fami­li­en aus der Stadt, die größ­ten­teils durch die Flucht in den Iran über­lebt hat. Tat­säch­lich gab es dann noch eine wei­te­re Tra­gö­die, die mit dem Anschlag nichts mehr zu tun hat­te: Ein jün­ge­rer Bru­der mei­nes Vaters ist nach der Flucht im Iran durch einen Tre­cker über­fah­ren wor­den. Er hat auf der Stra­ße gespielt und wur­de über­rollt. Wie absurd ist das denn?! Er hat einen Gift­gas­an­schlag über­lebt und wird kurz danach überfahren.

1991, Iran

MZEE​.com: Ihr wart im Anschluss jah­re­lang auf der Flucht.

Al Kareem: Ja, genau. Am 04. April 1991 ging die Flucht los Rich­tung Iran. Es war wohl so, dass ab dem Giftgas-​Anschlag vie­le Men­schen schon in den Iran und von dort nach Euro­pa geflo­hen sind. Aber direkt nach dem Ers­ten Golf­krieg gab es dann noch mal die größ­te Flücht­lings­wel­le. So wie heut­zu­ta­ge auch sind die Men­schen geflo­hen, um sich ein neu­es Leben auf­zu­bau­en. Man fuhr mit dem Auto zur Gren­ze und ist von da an zehn Kilo­me­ter zu Fuß gelau­fen, um mit einem Pick­up in die nächs­te Stadt gefah­ren zu wer­den. Mei­ne Fami­lie hat­te ihr gan­zes Hab und Gut auf den Schul­tern und mich auf dem Arm. Immer knapp am Ver­hun­gern – es gab nichts zu essen und zu trin­ken. Alle waren dar­auf ange­wie­sen, dass die Men­schen aus den Dör­fern, an denen man vor­bei­kam, etwas zu essen und trin­ken ver­teilt haben. So kamen wir dann in einem Dorf an und der Plan war, der Fami­lie von mei­nem Vater hin­ter­her zu rei­sen. Alle Fami­li­en­mit­glie­der waren in Öster­reich und woll­ten uns zu sich holen. Aber mei­ne Mut­ter war schwan­ger, als wir im Iran waren. Mei­ne Eltern woll­ten eigent­lich, dass mein Bru­der direkt in Öster­reich oder Deutsch­land gebo­ren wird. Aber das hat nicht geklappt: Uns wur­de das Visum nicht aus­ge­stellt und mein Bru­der wur­de im Iran gebo­ren. Da haben wir erst in einem Zelt gelebt und hat­ten spä­ter ein klei­nes Häus­chen. Dar­an kann ich mich noch gut erin­nern: Wir hat­ten Außen­toi­let­ten. Ich muss­te immer raus und als vier Jah­re alter Knirps war das ein ewig lan­ger Gang zur Toi­let­te. (lacht) So wohn­ten wir ein­ein­halb Jah­re und gin­gen dann zurück in den Irak, um von da aus noch mal los­zu­ge­hen. Vor Ort haben wir alles auf­ge­löst und Geld von der Fami­lie bekom­men – mein Vater redet immer von 10.000 Dol­lar –, um die Flucht wie­der anzu­tre­ten. Die­ses Mal aller­dings über die Tür­kei. Wir sind an die tür­ki­sche Gren­ze, von dort 28 Stun­den mit dem Bus nach Anka­ra. Da kann­ten wir jeman­den und konn­ten drei Wochen im Hotel schla­fen, danach noch mal drei Wochen in einem Apart­ment. In die­ser Zeit wur­de auch geklärt, dass wir Päs­se bekom­men. Mein Vater mein­te, dass mei­ne Mama, mein Bru­der und ich 5.000 Dol­lar und er noch mal 4.000 Dol­lar für gefälsch­te Päs­se zah­len muss­ten. Damit wir flie­gen konn­ten. Und dann sind wir von Anka­ra nach Frank­furt geflogen.

Mai 1991, Iran

MZEE​.com: War­um genau muss­ten damals die Päs­se gefälscht wer­den – gab es für Geflüch­te­te aus dem Irak kein Asyl?

Al Kareem: Na ja – nicht jeder Ira­ker hat­te zu der Zeit einen Rei­se­pass. Und unse­re Fami­lie hat­te sowie­so kei­ne, da mein Vater Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer war. Des­halb kos­te­te es 1.000 Dol­lar, in die Tür­kei ein­ge­schleust zu wer­den. Und 10.000 Dol­lar, um die gan­ze Fami­lie von der Tür­kei aus nach Deutsch­land zu flie­gen. In Deutsch­land ange­kom­men haben wir uns dann ohne Päs­se als kur­di­sche Geflüch­te­te aus dem Irak gestellt.

MZEE​.com: Wie muss man sich so eine Rei­se vor­stel­len? Vor allem mit gefälsch­ten Päs­sen in der Tasche …

Al Kareem: Dar­an kann ich mich noch gut erin­nern. Das funk­tio­nier­te so: Wir sind in das Flug­zeug und man muss­te eine Stun­de vor der Lan­dung sei­nen Pass zer­stö­ren, zum Bei­spiel mit einer Sche­re. Und die Ein­zel­tei­le dann im Flug­zeug run­ter­spü­len. Damit man in Deutsch­land ankommt, kei­nen Pass und somit auch kei­ne Staats­an­ge­hö­rig­keit mehr hat. Man muss­te ein­fach nur sagen, von wo man kommt. Also … (lacht) Soweit ich weiß: Wenn du das heu­te so machst, setzt man dich ein­fach in das glei­che Flug­zeug und lässt dich direkt wie­der zurück­flie­gen. Doch damals war das noch nicht so. Du wur­dest in Frank­furt in einen Kel­ler­be­reich gebracht und da gab es einen direk­ten Weg in einen Auf­fang­be­reich für Geflüch­te­te. Mein Bru­der muss da ein paar Mona­te alt gewe­sen sein und mei­ne Mut­ter ist mit ihm und mir allei­ne geflo­gen. Mein Vater soll­te erst ein paar Wochen spä­ter nach­kom­men. Wir wur­den dann von unse­rer Fami­lie aus Bochum abge­holt. Wir hat­ten ent­schie­den, wir gehen doch nach Deutsch­land, weil eine Tan­te von mir da allei­ne war. In Öster­reich waren schon genug Ange­hö­ri­ge von uns. Wir wur­den dann vom Flug­ha­fen abge­holt, es war Frank­furt am Main. Ich hab' letz­tens nach­ge­guckt: Bis heu­te lan­den da noch viele.

Janu­ar 1993, Anka­ra, Türkei

MZEE​.com: Wir soll­ten noch mal fest­hal­ten, wie krass die Flucht für dei­ne Mut­ter mit Mit­te 20 gewe­sen sein muss und wie stark es war, dass sie den Flug ein­fach allei­ne durch­ge­zo­gen hat … Mit zwei Kin­dern auf dem Arm und Gepäck auf dem Rücken steigst du in ein Flug­zeug, zer­schnei­dest die Päs­se und guckst, wo du lan­dest – ohne irgend­ei­ne Sicherheit.

Al Kareem: Ja, wie alt war sie da? (über­legt) 1993 muss sie 27 gewe­sen sein. Ich kann mich auch noch genau an die Ankunft erin­nern: Wir wur­den am Flug­ha­fen in eine Art Poli­zei­au­to gesetzt und irgend­wo­hin gefah­ren. Mei­ne Mut­ter hat­te Angst, dass sie uns gleich wie­der mit dem nächs­ten Flug­zeug zurück­schi­cken und hat geweint. Dem­entspre­chend habe ich auch geweint, aber woll­te die Situa­ti­on mit mei­nen fünf Jah­ren irgend­wie klä­ren. Ich hab' den Fah­rer ange­tippt und ihm irgend­was gesagt. In mei­ner Erin­ne­rung hat der Typ gelacht. Ich weiß aber nicht, ob das wirk­lich so pas­siert ist. Das sind ja ein­fach komi­sche "Ich war fünf Jah­re alt"-Erinnerungen … Wir wur­den in die­sen Bereich gebracht, in dem schon ganz vie­le ande­re Men­schen waren und ein paar Tage spä­ter von der Fami­lie aus Bochum abge­holt. Krass, wie ver­netzt sie waren, oder? Es gab kein Han­dy, kei­ne SMS, kei­ne E-​Mails … Soweit ich weiß, haben sie vie­le Brie­fe geschrie­ben. Und es hat ein­fach geklappt, dass wir mit­ten in Deutsch­land abge­holt wer­den. Wir fuh­ren dann nach Bochum zu mei­ner Tan­te und mei­nen Cou­si­nen, die selbst auch in einer Flücht­lings­un­ter­kunft leb­ten. Da sind wir einen Monat geblie­ben, bis mein Vater kam. Wir woll­ten in Bochum blei­ben, aber es gab kei­nen Platz für uns. Und so sind wir in Wit­ten gelan­det. (grinst) Erst waren wir in einer Unter­kunft, in der es kei­ne Fami­li­en gab – aber das Gerücht, da sei­en immer Mes­ser­ste­che­rei­en und vie­le Kämp­fe. In sol­chen Unter­künf­ten sind vie­le Jugend­li­che, die sich teils auch bekrie­gen. Die nichts zu ver­lie­ren haben und durch­dre­hen. Da kam der Tipp von jeman­dem, der da war: Nehmt den Schlüs­sel nicht an, sonst wird es schwie­rig, wie­der umzu­zie­hen. Sagt ein­fach, ihr wollt nicht. Wir soll­ten zum Amt gehen und sagen, woan­ders sei ein Zim­mer frei. Wir sind dann zurück zur Aus­län­der­be­hör­de und haben es genau­so gemacht. Und das Zim­mer auch bekom­men. Das war in Witten-​Heven. So kamen wir in eine Woh­nung mit drei Zim­mern. In zwei Zim­mern wohn­ten ein paläs­ti­nen­si­sches Paar und eine tür­ki­sche Fami­lie. Die Söh­ne ken­ne ich auch heu­te noch. Sie haben uns alle auf­ge­fan­gen und auf­ge­nom­men. Im Febru­ar 1993 haben wir den Asyl­an­trag gestellt und 1995 "den blau­en Pass", die Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung, bekom­men. Davor hat­ten wir nur einen Wisch, den man jedes Jahr erneu­ern muss­te. Mit ihm durf­te man sich nur 15 Kilo­me­ter von sei­nem Wohn­ort weg­be­we­gen. Mei­ne Eltern haben Essens­mar­ken und 300 Mark im Monat bekom­men. Kein Kin­der­geld, das bekommt man erst mit der Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung. Das heißt, wir haben in den ers­ten zwei Jah­ren in Deutsch­land von den 300 Mark Kla­mot­ten und sowas gekauft – und mit Essens­mar­ken an der Super­markt­kas­se bezahlt.

MZEE​.com: Das mit den Essens­mar­ken wuss­te ich gar nicht.

Al Kareem: Ich glau­be, das gibt es heu­te so auch nicht mehr. Aber in den 90ern wur­de das so geregelt.

MZEE​.com: Was ist denn mit euren ande­ren Ver­wand­ten gesche­hen? Sind in den Fol­ge­jah­ren wei­te­re Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge nachgekommen?

Al Kareem: Ja, 1999 und 2000 sind die Schwes­tern von mei­ner Mama gekom­men. Das lief genau­so wie bei uns: dass die Fami­lie einen Teil spon­sert. Und das sind Beträ­ge, die man sich nicht vor­stel­len kann. Mein Vater sagt "Da haben wir dem 5.000 Dol­lar geschickt und dem 10.000", wo ich mich fra­ge: Woher hat­tet ihr das Geld?! Es ist ein­fach ein bedin­gungs­lo­ser Zusam­men­halt. Es war für sie auch nicht mehr so ein­fach wie für uns, zu flie­hen. Du kannst ja heu­te nir­gend­wo mehr hin­ge­hen und sagen: "Hier ist mein gefälsch­ter Pass" und in ein Flug­zeug stei­gen. Mei­ne Tan­ten muss­ten über lan­ge Geh­we­ge und Boo­te kom­men. Die­se gan­zen Mit­tel­meer­ak­tio­nen, die es heu­te gibt … Also, wenn du Anfang der 90er ein biss­chen Geld hat­test, hat­test du ganz ande­re Möglichkeiten.

MZEE​.com: Hast du Ver­wand­te, die sich bis heu­te nie dazu ent­schlos­sen haben, zu fliehen?

Al Kareem: Ja, tat­säch­lich. Eine Schwes­ter von mei­ner Mama hat sogar in Bag­dad gewohnt und ist nie weg­ge­gan­gen. Zwei von mei­nen drei Cou­sins wur­den ent­führt und gefol­tert. Von irgend­wel­chen extre­mis­ti­schen Grup­pen, als Sad­dam gestürzt wur­de und der Bür­ger­krieg zwi­schen den Shii­ten und Suni­ten rich­tig los­ging. Zu der Zeit ist da viel pas­siert. Einer mei­ner Cou­sins ist durch eine Auto­bom­be gestor­ben, weil man dach­te, er sei ein Regie­rungs­mit­glied. Die Bom­be hat sei­ne Bei­ne weg­ge­sprengt. Der Bru­der von mei­ner Mut­ter war der letz­te, der gekom­men ist – mei­ne Tan­te ist als ein­zi­ge noch da. Sonst nur ent­fern­te Ver­wand­te. Vom enge­ren Kreis, wie die Brü­der und Schwes­tern mei­ner Eltern, sind eigent­lich alle hier. Ich hab' letz­tens gemerkt: Wir sind voll die Groß­fa­mi­lie. Ich könn­te auch einen Clan grün­den. (lacht)

MZEE​.com: Das heißt, es gibt kei­ne Ver­wand­ten, die geflo­hen sind und irgend­wann ent­schie­den, wie­der zurückzugehen?

Al Kareem: Ent­fernt hab' ich das schon mit­be­kom­men. Dass jemand her­kam und sich frag­te: "Wie, es ist ja gar nicht so, dass das Geld ein­fach aus der Wand kommt?!" (lacht) Sol­che Mythen gibt es. In den 90ern gab es kei­ne Bank­au­to­ma­ten im Irak. Daher kam der Gedan­ke: "Die ste­cken eine Kar­te rein und es kommt ein­fach Geld aus der Wand?!" Als mei­ne Eltern das ers­te Mal zurück­ge­reist sind, haben sie das gan­ze Geld, das sie dabei hat­ten, ein­fach ver­schenkt. Einer­seits haben ihnen alle leid getan – ande­rer­seits wur­de es aber auch erwar­tet. Sie sind geflo­hen und natür­lich direkt reich. Und kom­men jetzt wie­der und ver­tei­len das Geld. Mein Vater meint rück­bli­ckend, er ver­steht die Nai­vi­tät von damals gar nicht mehr. Die­ses "Wir ver­schen­ken mal unser gan­zes Geld. Das krie­gen wir schon irgend­wie wie­der". Es war ein­fach ein Community-​Ding: Wenn die einen es geschafft haben, müs­sen sie die ande­ren miternähren.

MZEE​.com: Was eigent­lich ein total schö­ner Gedan­ke ist.

Al Kareem: Ja. Aber die Selbst­ver­ständ­lich­keit, zu den­ken, dafür müs­se man nichts tun, führt, glaub' ich, auch dazu, dass Leu­te hier­hin kom­men und plötz­lich mer­ken: "Das ist ja mega abge­fuckt hier, die rei­ßen dir den Arsch auf. Du setzt dich nicht zu Hau­se hin und dann kommt das Geld aus der Wand. Nee, du musst ordent­lich was dafür tun."

MZEE​.com: Hat­ten dei­ne Eltern am Anfang die Hoff­nung, irgend­wann wie­der in ihre Hei­mat zurück­zu­keh­ren? Oder war ein­fach klar, dass es den Weg zurück nicht mehr geben wird?

Al Kareem: Gute Fra­ge. Mei­ne Eltern waren 26, als sie hier anka­men und ich kann mir vor­stel­len, dass sie in den ers­ten Jah­ren mega Heim­weh hat­ten. Stell dir vor, du hast gera­de erst dei­ne gan­ze Sozia­li­sa­ti­on durch und musst kom­plett neu anfan­gen. Wir waren, glaub' ich, die ein­zi­ge Fami­lie in Wit­ten aus der Regi­on, aus der wir kom­men. Ich hat­te kein "Ich häng' mit den Tür­ken ab" oder "den Ara­bern". Es gab kei­ne Bezugs­grup­pe. Ich stand mit mei­ner Spra­che und Her­kunft immer allei­ne da. Ohne Bezugs­punkt – auch für mei­ne Eltern. Klar: Es wur­de auch dar­auf gebaut, dass wir unse­re Fami­lie hier hat­ten. Aber Freun­de hat­ten wir lan­ge nicht.

MZEE​.com: Du bist in Wit­ten in den Kin­der­gar­ten und spä­ter in die Schu­le gegan­gen – hat­test du da das Gefühl, allei­ne zu sein?

Al Kareem: Es war auf jeden Fall nicht ein­fach. Ich hat­te das Glück, dass wir in Wit­ten anka­men und durch Zufall ein älte­res Paar ken­nen­lern­ten, das eine Minigolf-​Anlage hat­te. Mein Vater hat­te Besuch, woll­te mit ihm was trin­ken gehen und dach­te: "Da gibt es doch so einen Platz, an dem man was trin­ken kann." Also ist er mit sei­nem Besuch dahin gegan­gen. Die Besit­zer von dem Platz hie­ßen Hans und Inge und hat­ten einen Sohn, Harald. Der Sohn war 40 und die bei­den um die 60. Mein Vater und sei­ne Freun­de haben da dann was getrun­ken und ich bekam ein Eis. Die moch­ten uns irgend­wie und das Eis ging direkt auf sie. Sie haben sich für uns inter­es­siert und mei­nen Vater in der fol­gen­den Zeit ein biss­chen adop­tiert: Er konn­te da arbei­ten und mit­hel­fen, zum Bei­spiel eine Mau­er auf dem Mini­golf­platz bau­en. Hans hat ihm immer ein biss­chen Taschen­geld und Voka­beln gege­ben, die er jeden Tag ler­nen muss­te. So hat mein Vater dann die Spra­che gelernt. Die waren rich­tig kor­rekt zu ihm. Hans hat ihn auch mit zum Sport genom­men, Prell­ball hieß das. Mein Vater war im Ver­gleich zu den ande­ren sehr jung, das waren nur alte Her­ren – und er hat dann die Punk­te gemacht. (lacht) Das stell' ich mir rich­tig wit­zig vor, wie sie auf ein­mal mit die­sem Super­jo­ker um die Ecke gekom­men sind, der alle weg­haut. Sie haben also zusam­men Sport gemacht und gear­bei­tet, wir haben Geburts­tags­ge­schen­ke bekom­men und: Sie haben mir den Kin­der­gar­ten­platz geklärt. So konn­te ich schnell die Spra­che ler­nen. Ab mei­nen jun­gen Jah­ren hab' ich als Dol­met­scher für die Fami­lie fun­giert. Es gibt auch ein Foto­al­bum aus die­ser Zeit, das zeigt: Ich war im Kin­der­gar­ten glück­lich und hat­te Freun­de. Aber ich war trotz­dem allei­ne, indem ich kei­ne auto­ma­ti­sche Bezugs­grup­pe hat­te. Ich muss­te immer gucken, dass ich mich integriere.

Novem­ber 1993, Witten

MZEE​.com: Eine Flucht ist ja mehr als ein ein­schnei­den­des Erleb­nis – sie ver­än­dert das Leben kom­plett und trau­ma­ti­siert die Geflüch­te­ten nach­hal­tig. Was meinst du, wie ihr als Fami­lie es geschafft habt, dar­an nicht kaputt zu gehen?

Al Kareem: Es gibt ein paar Fak­to­ren. Mei­ne Eltern waren grund­sätz­lich ein gutes Team. Mei­ne Mut­ter hat immer gear­bei­tet, in einer Küche, Cafe­te­ria, egal wo. Sie hat von Anfang an geguckt, dass Geld rein­kommt. Mein Vater war der Con­nec­tor – er konn­te die Spra­che recht schnell gut. Er hat sei­nen Füh­rer­schein gemacht und geguckt, sich zu inte­grie­ren. Der fami­liä­re Rück­halt in Öster­reich und Deutsch­land zählt bestimmt auch mit rein. (über­legt) Ich kann mir auch nicht vor­stel­len, wie man das schafft. Und ich bewun­de­re mei­ne Eltern dafür, weil ich es mir selbst nicht zutrau­en wür­de. Wir sind in einem der sichers­ten Län­der der Welt. Man kann sich hier nicht vor­stel­len, dass man auf ein­mal woan­ders hin­muss, wo es siche­rer ist. Wo man nicht ger­ne gese­hen und auf­ge­nom­men wird. Dann aber auch doch, denn mit dem Auf­ge­nom­men­wer­den haben wir ja ganz gute Erfah­run­gen gemacht. Es kamen kei­ne Leu­te vor unser Flücht­lings­heim und sag­ten: "Aus­län­der raus!" Natür­lich gab es auch sol­che Erfah­run­gen in mei­ner Jugend. Aber gene­rell wur­den wir gut auf­ge­nom­men und es wur­de ver­sucht, uns schnell zu inte­grie­ren. Natür­lich haben wir auch ande­re Din­ge erlebt. Zum Bei­spiel, dass man sich nicht aus­su­chen durf­te, wo man wohnt. 1996, vier Jah­re, nach­dem wir den Pass hat­ten, durf­ten wir uns das ers­te Mal sel­ber eine Woh­nung suchen. Bis dahin waren wir in zusam­men­ge­wür­fel­ten Flücht­lings­un­ter­künf­ten. 35qm, ein Zim­mer, vier Per­so­nen. Küche, Bett, Schrank – alles in einem Zim­mer. Wenn Du den Raum ver­las­sen hast, war da schon die nächs­te Fami­lie. Es gab kei­ne Pri­vat­sphä­re. Aber: Immer­hin ein Dach über dem Kopf, Sicher­heit und kein Krieg. Man kann zur Schu­le gehen und sein Leben neu gestal­ten. Ich den­ke, dass mei­ne Eltern das auch gese­hen haben: Hier kann man was schaf­fen und muss kei­ne Angst haben. Ich weiß nicht, ob sich das mit einer Art Bedürf­nis­py­ra­mi­de erklä­ren lässt: Wenn die Basic-​Sicherheit schon mal gege­ben ist, kann man dar­auf viel auf­bau­en. Und wenn du die­se Sicher­heit nicht hast, kannst du anders­rum auch nichts aufbauen.

MZEE​.com: Es ist total fragil.

Al Kareem: Genau. Alles in allem kann ich mir nicht vor­stel­len, wie mei­ne Eltern das geschafft haben. Den Antrieb und die Moti­va­ti­on zu haben, ver­ste­he ich. Aber es wirk­lich durch­zu­zie­hen, muss viel mit Angst und Unge­wiss­heit zu tun haben. Das ist hef­tig. Bewun­derns­wert, macht mir aber auch Angst. Und es macht mich auch trau­rig. Stell dir mal vor, das wäre nicht pas­siert. Und sie hät­ten ihr Leben ein­fach in ihrer siche­ren Umge­bung ver­bracht, qua­si mit dem old money der Eltern. Man wird ja rein­ge­bo­ren in das, was sie sich auf­ge­baut haben, und kann sich da frei ent­fal­ten. Es ist auch eine sehr kol­lek­ti­vis­ti­sche Gesell­schaft, aus der mei­ne Fami­lie kommt. Dabei dreht sich nicht viel um die indi­vi­du­el­le Ent­fal­tung, nach dem Mot­to: "Ich bin 18 und zie­he jetzt aus, mach' drei Jah­re Aus­tra­li­en, work and tra­vel …" Da, wo wir her­kom­men, ist es ein biss­chen anders: "Wir sind eine Fami­lie, da ist der Laden, den kannst du jetzt füh­ren und dei­ne Fami­lie ernäh­ren." Da kamen wir her. Und das mei­ne ich damit, wenn ich sage, es macht mich trau­rig – mei­ne Eltern hät­ten die Mög­lich­keit gehabt, so ihr Leben zu gestal­ten. Wahr­schein­lich hät­te sie das glück­li­cher gemacht. Ich den­ke, sie hat­ten viel Heim­weh, depres­si­ve Pha­sen, tat­säch­li­che Depres­sio­nen. Das hat schon alles viel mit ihnen gemacht.

MZEE​.com: Natür­lich. Ich ken­ne eini­ge Men­schen, die als Kind mit ihren Fami­li­en nach Deutsch­land geflüch­tet sind und nie ein rich­ti­ges "Hei­mat­ge­fühl" hat­ten. Wie ist das bei dir?

Al Kareem: Ich habe tat­säch­lich das Gefühl, dass ich rast­los bin. Ich hat­te nie einen Ort, von dem ich gesagt hät­te: "Hier muss ich unbe­dingt blei­ben, das ist mei­ne Hei­mat." Seit ich in Ber­lin woh­ne, mer­ke ich, dass ich Wit­ten ver­mis­se. Und ich glau­be, Wit­ten ist mei­ne Hei­mat. Da hat­te ich mei­ne gan­ze Sozia­li­sa­ti­on, Kind­heit, Freun­de, Schu­le. Aber es ist für mich doch viel mehr ein "mit wem", statt ein "wo" … So erklär' ich mir Hei­mat ein biss­chen – dass man über Gene­ra­tio­nen wo gelebt hat und es dann als Zuhau­se sieht. Aber ich mer­ke, dass ich eine Rast­lo­sig­keit in mir hab'. Ich kann nir­gend­wo län­ger als zwei, drei Jah­re woh­nen. Ich glau­be, am Ende ist es natür­lich Wit­ten – das liegt aber dar­an, dass mei­ne Mut­ter und mein Bru­der da sind, nicht an dem Ort an sich. Und da, wo ich gebo­ren wur­de, war ich schon über zehn Jah­re nicht mehr. Ich war das letz­te Mal 2011 da und will da schnell wie­der hin. Das ist mein nächs­tes Rei­se­ziel im Erwach­se­nen­al­ter. Auch, um noch mal zu gucken: Wo komm' ich eigent­lich her?

MZEE​.com: Seit dem Angriff Russ­lands auf die Ukrai­ne ist das The­ma Flucht, das ja welt­weit immer aktu­ell ist, wie­der beson­ders in den Fokus und die Köp­fe der Men­schen gerückt. Wie hast du die Zeit seit Kriegs­be­ginn wahr­ge­nom­men? Und hast du das Gefühl, dass du mit dem The­ma Krieg einen ande­ren Umgang hast als Men­schen, die damit nie in Berüh­rung kamen?

Al Kareem: Ich glau­be, ich hab' tat­säch­lich einen ande­ren Bezug dazu. Ich ver­ste­he zum Bei­spiel die Unter­schei­dung nicht, die teils zwi­schen Geflüch­te­ten gemacht wird. Ich ver­ste­he, dass man sich nicht auf die gan­ze Welt kon­zen­trie­ren kann. Aber ich habe das Gefühl, dass sich poli­tisch gese­hen oft nur auf eine Sache kon­zen­triert wird. Wie du aber schon sagst – wenn man das glo­bal betrach­tet, sieht man: Es pas­siert die gan­ze Zeit. Es flüch­ten dau­ernd Men­schen von hier nach da. Das Ukraine-​Thema hat­te einen nega­ti­ven Touch in der Bericht­erstat­tung und mei­ner Bubble. So in die Rich­tung, Geflüch­te­te wer­den auf­ge­nom­men und es heißt: "Ach, zeig mal dei­nen Abschluss, was warst du? Ja, klar, Arzt, dann kannst du hier jetzt auch Arzt sein." Es wird angeb­lich mit zwei­er­lei Maß gemes­sen. Denn wenn du aus dem Iran, Irak, Syri­en bist, sind dei­ne Uni-​Abschlüsse hier wie die Mitt­le­re Rei­fe. Ich fra­ge mich aber: Ist das wirk­lich so? Dass jemand aus der Ukrai­ne kommt und hier dann ande­re Mög­lich­kei­ten hat? Ich weiß es nicht. Ich hab' das bei kei­nem Fall recher­chiert. (über­legt) Viel­leicht liegt es auch an der gerin­ge­ren Ent­fer­nung? Aber du kommst ja aus einem Land, in dem Krieg ist. Es gibt kei­ne Doku­men­te, kei­ne Nach­wei­se. Und in Bezug auf die Ukrai­ne emp­fin­de ich das schon ein wenig als Vic­tim Bla­ming. So: "Ja, die Ukrai­ner wer­den hier aber bes­ser als wir auf­ge­nom­men, mim­i­mi." Eigent­lich muss man sagen: Natür­lich wer­den sie auf­ge­nom­men und super, wenn sie gut behan­delt wer­den. Da soll­te man kei­nen Wett­streit draus machen, sich benach­tei­ligt zu füh­len – ich ver­ste­he das aber irgend­wo auch. Per­sön­lich sehe ich es ein­fach neu­tral und den­ke mir: auch Krieg, auch Geflüch­te­te. Und des­we­gen bin ich froh, wenn sie hier gut ankom­men und auf­ge­nom­men wer­den. Und hof­fent­lich was aus der Situa­ti­on machen kön­nen. Das ist für sie genau­so schlimm, ihr Land zu ver­las­sen und sich was Neu­es auf­bau­en zu müs­sen. Kein Flücht­ling, der wegen Krieg flieht, hat Bock dar­auf. Das muss man auch ver­ste­hen. Es ist kein: Wir wol­len das. Son­dern: Ich hab' hier mein gan­zes Hab und Gut auf den Schul­tern. Mei­ne Kin­der, mei­ne Fami­lie. Wer weiß, ob wir ankom­men. Kann sein, dass wir ver­hun­gern. Kann sein, dass wir irgend­wo in einem Land ein­ge­sperrt wer­den. Dann da gar nicht klar­kom­men … Vie­le kom­men ja auch an ihrem Ziel gar nicht an.

MZEE​.com: Das ist auch nach wie vor ein wich­ti­ger Punkt: Dass Men­schen, die eine Flucht über­lebt, aber viel­leicht ihre Kin­der auf dem Mit­tel­meer haben ertrin­ken sehen oder ihre Fami­lie ver­lo­ren haben, höchst­gra­dig trau­ma­ti­siert ankom­men und nicht nach Deutsch­land woll­ten, weil sie das Land so toll fin­den. Es ist für mich unver­ständ­lich, dass Dif­fe­ren­zie­run­gen zwi­schen dem:der einen und dem:der ande­ren Geflüch­te­ten gemacht wer­den oder Demons­tra­tio­nen vor Flücht­lings­hei­men statt­fin­den. Ich fin­de das nur unem­pa­thisch und in jeg­li­cher Hin­sicht falsch. Und ja, du hast recht: Nie­mand möch­te das machen.

Al Kareem: Wie sinn­los muss das eige­ne Leben sein, wenn man sei­ne Ener­gie und Zeit dafür ver­schwen­det, Leu­ten zu sagen: "Aus­län­der raus"?! Wie ver­blen­det und unin­tel­li­gent ist das? Auch unem­pa­thisch. Sind das Psy­cho­pa­then, wenn sie kein Mit­ge­fühl haben und sich das nicht vor­stel­len kön­nen? Und das mein­te ich gera­de: Ich kann mir das eben ein biss­chen vor­stel­len, weil ich die­se Situa­ti­on mein Leben lang ken­ne. Ich habe da Mit­ge­fühl – und natür­lich che­cke ich das als Betrof­fe­ner. Doch wie undif­fe­ren­ziert muss man den­ken, wie klein muss der eige­ne Hori­zont sein und wie wenig Sinn im Leben muss man sehen, um vor jeman­dem zu pro­tes­tie­ren, der ein trau­ma­ti­sches Erleb­nis hin­ter sich hat? (pau­siert kurz) Das ist ein­fach nur ras­sis­tisch. Und dazu kommt der All­tags­ras­sis­mus, der die Leu­te dann auch noch trifft.

MZEE​.com: Ich habe noch eine letz­te Fra­ge – außer, du möch­test zum The­ma Flucht noch etwas ergän­zen, das wir bis­her nicht bespro­chen haben.

Al Kareem: Das war ziem­lich viel, ne? (lacht) Das ist so über­ge­schwappt, weil ich ges­tern erst das Gespräch mit mei­nem Vater dar­über hat­te. Ich hof­fe, du kannst damit etwas anfangen …

MZEE​.com: Auf jeden Fall. Da wir ja ein Musik­ma­ga­zin sind, wür­de ich zum Abschluss ger­ne wis­sen: Wel­che Musik erin­nert dich am meis­ten an dei­ne Kind­heit und Jugend in Witten?

Al Kareem: (lacht) Es ist so wit­zig, wel­che Musik ich als ers­tes gehört hab'! Auf der einen Sei­te natür­lich viel ara­bi­sche Musik durch mei­ne Eltern. Dar­an hab' ich kras­se Kind­heits­er­in­ne­run­gen und hör' auch ab und zu noch Lie­der im Auto. Auf der ande­ren Sei­te … (grinst) Ich fand die Ärz­te, "Schrei nach Lie­be" immer voll cool. Ich glaub', wegen dem Wort "Arsch­loch". Und es gab doch in den 90ern eine Pha­se mit Blüm­chen und so. Ich hab' die­ses "Eins, zwei, Poli­zei" als Sechs­jäh­ri­ger im Flücht­lings­heim immer laut gepumpt und bin dazu abge­gan­gen. Neben dem und Cap­tain Jack kam ich durch mei­ne Cou­si­nen zu Boy­bands – sie waren gro­ße Caught in the Act-​Fans. Dadurch kann­te ich jedes Lied. Spä­ter fand ich die Back­street Boys und *NSYNC voll geil. Das waren die Main Play­ers für mich – 90s Pop. Irgend­wann kam Limp Biz­kit, aber das war schon spä­ter in der Jugend. Ich hat­te zum Geburts­tag die CD bekom­men, "Rol­lin". Im Fern­se­hen hat­te ich aber das Lied von Dr. Dre und Emi­nem gese­hen, "For­got about Dre". Das fand ich über­krass. Und dach­te: "Oh mein Gott, was ist denn das für ein Song?!" Ich hat­te also "Rol­lin" zum Geburts­tag bekom­men und dann kam einer, der hat­te die CD mit "For­got about Dre". Man macht das ja eigent­lich nicht, Geschen­ke wei­ter­tau­schen. Aber das hab' ich dann gemacht. Ab da war es um mich gesche­hen und ich hat­te genug von Fred Durst. Es gab im Book­let Wer­bung von den ande­ren Songs – so bin ich zu Hip­Hop gekom­men und hab' dann rela­tiv früh ange­fan­gen, auch zu rap­pen. Ich kam einen wei­ten Weg bis hier: Ärz­te, Cap­tain Jack, Blüm­chen und ara­bi­sche Musik … Oh Gott, was war mit mir los? Eins, zwei, Poli­zei … (singt) Ich weiß gar nicht mehr, was die in dem Lied eigent­lich erzählt haben.

MZEE​.com: Karim, das waren jetzt wirk­lich sehr inten­si­ve Stun­den. Ganz lie­ben Dank für dei­ne rie­si­ge Offen­heit, dei­ne und eure Geschich­te zu erzäh­len. Auch an dei­ne Eltern, dass wir vor allem auch ihre Geschich­te tei­len dürfen.

Al Kareem: Ich muss mich bei dir bedan­ken. Durch das Inter­view habe ich mich mal wie­der mit dem The­ma beschäf­tigt, was rich­tig iden­ti­täts­fin­dend war. Man ist manch­mal sehr im Hier und Jetzt – dann tut es gut, way back zu gehen und zu gucken: Wo kom­me ich eigent­lich her? Ich weiß das alles – aber ohne das Gan­ze zu hin­ter­fra­gen. Seit du mich ja vor Jah­ren das ers­te Mal gefragt hast, ob wir das Inter­view machen, hab' ich immer wie­der mei­ne Eltern ange­hau­en. Es ist krass für sie, dar­über zu reden. Sie könn­ten heu­te noch ein Buch dar­über schrei­ben, weil sich alles so in ihre Köp­fe ein­ge­pflanzt hat. Wenn du fragst "Was hast du letz­te Woche gemacht?", kön­nen sie es dir viel­leicht nicht sagen. Aber was sie damals in die Tasche für ihre Flucht gepackt haben, wis­sen sie bis heu­te ganz genau. Und es war rich­tig schön, sich damit noch mal inten­si­ver zu beschäftigen.

(Flo­rence Bader)
(Fotos von Kama­ran Karim, Pres­se­bild von Rico Rolle)