Triggerwarnung: In diesem Interview werden die Themen Krieg, Flucht und Tod ausführlich geschildert. Allgemein wird viel über traumatisierende Erfahrungen gesprochen. Falls Euch das triggert, solltet Ihr hier vielleicht nicht weiterlesen.
"Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. […] In Halabdscha sah ich viele, die in Gruppen gestorben waren und so wirkten, als hätten sie gemeinsam versucht das Gift nicht einzuatmen." – Mit diesen Worten beschreibt ein türkischer Fotograf und Journalist seine Erinnerung an die kurdische Stadt Halabdscha kurz nach einem Giftgaseinsatz am 16. März 1988. Die Folge des Anschlags waren nicht nur etwa 5 000 Tote, die an diesem Tag starben. Tausende trugen dauerhafte Schädigungen davon, starben an den Folgen oder litten unter anderem an Krebs, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit.
Halabdscha ist eine Kleinstadt in der Nähe der iranischen Grenze. Seit 1980 waren hier auch die Auswirkungen des Ersten Golfkriegs zu spüren – einem Krieg zwischen Irak und Iran, der am 20. August 1988 erst sein Ende fand. All die genannten Geschehnisse machen deutlich, dass es sich bei dieser Stadt um keinen Ort handelte, an dem man dauerhaft in Frieden leben und Kinder großziehen konnte. Und genau hier setzt das vorliegende Interview an.
Der Wittener Rapper Al Kareem ist heute 35 Jahre alt. Seine Familie stammt aus dem Ort Halabdscha, in dessen Nähe er geboren wurde – wenige Monate vor besagtem Giftgaseinsatz. Seine Familie floh vor dem Anschlag, fand später für kurze Zeit Zuflucht in Iran. Ging zurück, löste alles noch Vorhandene auf und floh über Landesgrenzen – zu Fuß, mit einem Auto, mit dem Flugzeug –, bis sie über einige Umwege nach Deutschland kam. Dieses Interview erzählt die Geschichte von Krieg, Flucht und Ankommen. Es beschreibt Erinnerungen an erste Schritte in Deutschland, wie es war, sich alleine zu fühlen, und auch die Versuche, sich etwas Neues aufzubauen. Es ist eine Geschichte über Hoffnung und Angst, über Zusammenhalt und eine unglaubliche Stärke – die Geschichte von Al Kareem und seiner Familie.
Al Kareem: Als Vorbereitung für dieses Interview hab' ich gestern zwei Stunden mit meinem Vater telefoniert, das war richtig emotional. Er war 21, als ich auf die Welt gekommen bin. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – 21-Jährige sind für mich heute noch Kinder. Und meine Eltern sind damals über Landesgrenzen geflohen, mit mir Huckepack. Das war echt heftig und gut, dass ich mit ihm so persönlich reden konnte.
MZEE.com: Und schon sind wir mittendrin. Unser Interview dreht sich ja heute um die Flucht deiner Familie aus dem Irak. Du hast mir im Vorfeld einen Beitrag von Jan Böhmermann und dem ZDF Magazin Royale geschickt. Aus diesem stammt folgendes Zitat: "Es war der schlimmste Giftgaseinsatz seit dem Ersten Weltkrieg: 1988 wurde die Stadt Halabdscha bombardiert – von Saddam Husseins Armee. Der Diktator wollte ein Exempel an der kurdischen Minderheit statuieren. […] Am Ende erstickten etwa 5 000 Menschen qualvoll, fast ausschließlich Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder."
Al Kareem: Ein Mann, der in dem Video spricht, ist ein guter Freund von meinen Eltern. Er hat bei dem Anschlag seine ganze Familie verloren – 13 Angehörige. Er war der einzig Überlebende. Halabdscha war eine kleine Stadt mit circa 70 000 Menschen. Offiziell sind circa 5 000 beim Anschlag umgekommen. Meine Eltern sagen, es waren mehr. Die Hälfte der Stadt wurde einfach ausgerottet. Und bei 70 000 Menschen kennt ja wirklich jeder jeden. Mein Bruder und ich waren auf jeden Fall total geflasht, als wir das Video zufällig gesehen haben: Boah, warum geht's auf einmal darum? (lacht)
MZEE.com: Und hier kommen wir zu eurer Geschichte: Soweit ich weiß, ist deine Familie 1988 aus deiner Heimatstadt Halabdscha geflohen und du warst gerade erst 4 Monate alt. Kannst du einmal eure grundsätzliche Situation zu diesem Zeitpunkt darstellen?
Al Kareem: Ich wurde im November 1987 geboren und war demnach vier Monate alt. Meine Verwandten waren alle Fotografen und mein Vater hat das Fotostudio von meinem Onkel in Halabdscha geleitet. Wir waren ganz gut aufgestellt: Wir hatten ein eigenes Haus, in dem meine Eltern und ich gelebt haben. Mein Vater war schon immer politisch interessiert – es gibt eine Partei namens PUK (Anm. d. Red.: Patriotische Union Kurdistan), die in dem Gebiet führend ist und in der er aktiv war. Dadurch hatte er mitbekommen, dass es Unruhen geben wird. Zu dem Zeitpunkt gab es noch den Ersten Golfkrieg (Anm. d. Red.: Krieg zwischen Iran und Irak), der 1988 endete. Dieser Krieg dauerte acht Jahre lang und wir wohnten direkt an der Grenze (Anm. d. Red.: Die kurdische Stadt Halabdscha liegt etwa 240 Kilometer nordöstlich von Bagdad, circa 16 Kilometer von der Grenze zum Iran entfernt), weshalb es in unserer Nähe sowieso die ganze Zeit Tumulte gab. Mein Vater hatte die Information, dass etwas passieren wird. Sowas kommt nicht einfach von heute auf morgen und keiner weiß davon. Es kündigt sich immer an. Er hat dann meine Mutter und mich nach Sulaimaniyya gebracht, die nächstgrößere Stadt in der Nähe, in der wir Verwandte haben. Und ist anschließend selbst wieder zurück, um seinen Vater und seine Geschwister zu warnen: "Wollt ihr nicht auch gehen? Wenn ihr nicht geht, wird es irgendwann zu spät sein: Die Stadt wird zugemacht." So ist es dann – eine Stadt wird verbarrikadiert: Keiner kommt rein, keiner kommt raus. Es gibt ein Bild aus der Zeit des Anschlags von einem Mann, der ein Kind an der Hand hält und auf der Straße liegt. Beide sind verstorben. Der Mann, der dort lag, mein Opa und der Nachbar meinten zu meinem Vater: "Lass dir keine Angst machen. Es wird schon nichts passieren und wir verlassen die Stadt nicht." Das war ein, zwei Tage vor dem Anschlag. Mein Vater war noch vor Ort und führte Gespräche wie das mit meiner Tante, die nicht aus der Stadt weg wollte, weil sie am nächsten Tag eine Klausur hatte … Irgendwann stand meine Mutter in Halabdscha mit einem Pickup vor der Tür und meinte: "Wir müssen jetzt hier weg." Genau einen Tag später war der Anschlag. Unglaublich, wie knapp das damals alles war. Die Familie von meinem Vater war also dageblieben und man konnte nicht mehr in die Stadt rein oder aus ihr raus. Man wusste auch nicht, wer überlebt hatte – es gab ja noch keine Handys. Die ganze Zeit wurde spekuliert. An einem Tag kam einer und sagte: "Alle sind tot." Am nächsten Tag kam ein anderer und sagte: "Nein, der und der hat noch überlebt." Dann kam wieder einer und sagte: "Nein, wir haben deine ganze Familie gesehen, wie sie da lag. Es sind alle tot." Mein Vater ging davon aus, dass alle gestorben sind. Oma und Opa. Die acht Brüder und Schwestern. Nach und nach bekam er die Info, dass sie in den Iran fliehen konnten. Tatsächlich sind nur sein Vater und ein jüngerer Bruder am Giftgas gestorben. Er sagt, es war schon ein Trost, erst zu denken, die ganze Familie ist tot und dann waren es nur zwei. Es ist schlimm – und gleichzeitig ist man froh über die Überlebenden. So war das damals: Mein Vater konnte meine Mutter und mich retten. Aber ältere Männer hatten ihm gesagt: "Bleib mal locker, es passiert schon nichts." Am Ende ist es doch passiert. Die Leute von damals beschreiben den Geruch vom Gas mit süßen Äpfeln – es hat gut gerochen, wenn man es eingeatmet hat.
MZEE.com: Das klingt einfach nur schrecklich.
Al Kareem: Es ist richtig heimtückisch. Das Gas hat Schaum im Mund erzeugt, sodass die Menschen erstickten (Anm. d. Red.: Es handelte sich um eine Mischung aus Senfgas, Sarin, VX und Tabun – das Einatmen kann viele Folgen haben wie unter anderem Lähmungen und Ersticken). Mein Vater meinte, dass die Überlebenschance gestiegen ist, wenn man es abgewaschen hat. Menschen, die vor Ort Wasser zum Waschen und Trinken hatten, haben wohl eher überlebt. Natürlich mit bleibenden Schäden. Für immer. Aber sie haben überlebt. Der Anschlag war übrigens am Geburtstag von meinem Vater, dem 16. März. Das heißt: Jedes Jahr ist sein Geburtstag ein Trauertag. Dadurch habe ich das in meiner Kindheit jedes Jahr mitbekommen. Meine Familie war auch immer wieder an dem Tag in Zeitungsinterviews oder im Fernsehen. Als eine der großen Familien aus der Stadt, die größtenteils durch die Flucht in den Iran überlebt hat. Tatsächlich gab es dann noch eine weitere Tragödie, die mit dem Anschlag nichts mehr zu tun hatte: Ein jüngerer Bruder meines Vaters ist nach der Flucht im Iran durch einen Trecker überfahren worden. Er hat auf der Straße gespielt und wurde überrollt. Wie absurd ist das denn?! Er hat einen Giftgasanschlag überlebt und wird kurz danach überfahren.
MZEE.com: Ihr wart im Anschluss jahrelang auf der Flucht.
Al Kareem: Ja, genau. Am 04. April 1991 ging die Flucht los Richtung Iran. Es war wohl so, dass ab dem Giftgas-Anschlag viele Menschen schon in den Iran und von dort nach Europa geflohen sind. Aber direkt nach dem Ersten Golfkrieg gab es dann noch mal die größte Flüchtlingswelle. So wie heutzutage auch sind die Menschen geflohen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Man fuhr mit dem Auto zur Grenze und ist von da an zehn Kilometer zu Fuß gelaufen, um mit einem Pickup in die nächste Stadt gefahren zu werden. Meine Familie hatte ihr ganzes Hab und Gut auf den Schultern und mich auf dem Arm. Immer knapp am Verhungern – es gab nichts zu essen und zu trinken. Alle waren darauf angewiesen, dass die Menschen aus den Dörfern, an denen man vorbeikam, etwas zu essen und trinken verteilt haben. So kamen wir dann in einem Dorf an und der Plan war, der Familie von meinem Vater hinterher zu reisen. Alle Familienmitglieder waren in Österreich und wollten uns zu sich holen. Aber meine Mutter war schwanger, als wir im Iran waren. Meine Eltern wollten eigentlich, dass mein Bruder direkt in Österreich oder Deutschland geboren wird. Aber das hat nicht geklappt: Uns wurde das Visum nicht ausgestellt und mein Bruder wurde im Iran geboren. Da haben wir erst in einem Zelt gelebt und hatten später ein kleines Häuschen. Daran kann ich mich noch gut erinnern: Wir hatten Außentoiletten. Ich musste immer raus und als vier Jahre alter Knirps war das ein ewig langer Gang zur Toilette. (lacht) So wohnten wir eineinhalb Jahre und gingen dann zurück in den Irak, um von da aus noch mal loszugehen. Vor Ort haben wir alles aufgelöst und Geld von der Familie bekommen – mein Vater redet immer von 10.000 Dollar –, um die Flucht wieder anzutreten. Dieses Mal allerdings über die Türkei. Wir sind an die türkische Grenze, von dort 28 Stunden mit dem Bus nach Ankara. Da kannten wir jemanden und konnten drei Wochen im Hotel schlafen, danach noch mal drei Wochen in einem Apartment. In dieser Zeit wurde auch geklärt, dass wir Pässe bekommen. Mein Vater meinte, dass meine Mama, mein Bruder und ich 5.000 Dollar und er noch mal 4.000 Dollar für gefälschte Pässe zahlen mussten. Damit wir fliegen konnten. Und dann sind wir von Ankara nach Frankfurt geflogen.
MZEE.com: Warum genau mussten damals die Pässe gefälscht werden – gab es für Geflüchtete aus dem Irak kein Asyl?
Al Kareem: Na ja – nicht jeder Iraker hatte zu der Zeit einen Reisepass. Und unsere Familie hatte sowieso keine, da mein Vater Kriegsdienstverweigerer war. Deshalb kostete es 1.000 Dollar, in die Türkei eingeschleust zu werden. Und 10.000 Dollar, um die ganze Familie von der Türkei aus nach Deutschland zu fliegen. In Deutschland angekommen haben wir uns dann ohne Pässe als kurdische Geflüchtete aus dem Irak gestellt.
MZEE.com: Wie muss man sich so eine Reise vorstellen? Vor allem mit gefälschten Pässen in der Tasche …
Al Kareem: Daran kann ich mich noch gut erinnern. Das funktionierte so: Wir sind in das Flugzeug und man musste eine Stunde vor der Landung seinen Pass zerstören, zum Beispiel mit einer Schere. Und die Einzelteile dann im Flugzeug runterspülen. Damit man in Deutschland ankommt, keinen Pass und somit auch keine Staatsangehörigkeit mehr hat. Man musste einfach nur sagen, von wo man kommt. Also … (lacht) Soweit ich weiß: Wenn du das heute so machst, setzt man dich einfach in das gleiche Flugzeug und lässt dich direkt wieder zurückfliegen. Doch damals war das noch nicht so. Du wurdest in Frankfurt in einen Kellerbereich gebracht und da gab es einen direkten Weg in einen Auffangbereich für Geflüchtete. Mein Bruder muss da ein paar Monate alt gewesen sein und meine Mutter ist mit ihm und mir alleine geflogen. Mein Vater sollte erst ein paar Wochen später nachkommen. Wir wurden dann von unserer Familie aus Bochum abgeholt. Wir hatten entschieden, wir gehen doch nach Deutschland, weil eine Tante von mir da alleine war. In Österreich waren schon genug Angehörige von uns. Wir wurden dann vom Flughafen abgeholt, es war Frankfurt am Main. Ich hab' letztens nachgeguckt: Bis heute landen da noch viele.
MZEE.com: Wir sollten noch mal festhalten, wie krass die Flucht für deine Mutter mit Mitte 20 gewesen sein muss und wie stark es war, dass sie den Flug einfach alleine durchgezogen hat … Mit zwei Kindern auf dem Arm und Gepäck auf dem Rücken steigst du in ein Flugzeug, zerschneidest die Pässe und guckst, wo du landest – ohne irgendeine Sicherheit.
Al Kareem: Ja, wie alt war sie da? (überlegt) 1993 muss sie 27 gewesen sein. Ich kann mich auch noch genau an die Ankunft erinnern: Wir wurden am Flughafen in eine Art Polizeiauto gesetzt und irgendwohin gefahren. Meine Mutter hatte Angst, dass sie uns gleich wieder mit dem nächsten Flugzeug zurückschicken und hat geweint. Dementsprechend habe ich auch geweint, aber wollte die Situation mit meinen fünf Jahren irgendwie klären. Ich hab' den Fahrer angetippt und ihm irgendwas gesagt. In meiner Erinnerung hat der Typ gelacht. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich so passiert ist. Das sind ja einfach komische "Ich war fünf Jahre alt"-Erinnerungen … Wir wurden in diesen Bereich gebracht, in dem schon ganz viele andere Menschen waren und ein paar Tage später von der Familie aus Bochum abgeholt. Krass, wie vernetzt sie waren, oder? Es gab kein Handy, keine SMS, keine E-Mails … Soweit ich weiß, haben sie viele Briefe geschrieben. Und es hat einfach geklappt, dass wir mitten in Deutschland abgeholt werden. Wir fuhren dann nach Bochum zu meiner Tante und meinen Cousinen, die selbst auch in einer Flüchtlingsunterkunft lebten. Da sind wir einen Monat geblieben, bis mein Vater kam. Wir wollten in Bochum bleiben, aber es gab keinen Platz für uns. Und so sind wir in Witten gelandet. (grinst) Erst waren wir in einer Unterkunft, in der es keine Familien gab – aber das Gerücht, da seien immer Messerstechereien und viele Kämpfe. In solchen Unterkünften sind viele Jugendliche, die sich teils auch bekriegen. Die nichts zu verlieren haben und durchdrehen. Da kam der Tipp von jemandem, der da war: Nehmt den Schlüssel nicht an, sonst wird es schwierig, wieder umzuziehen. Sagt einfach, ihr wollt nicht. Wir sollten zum Amt gehen und sagen, woanders sei ein Zimmer frei. Wir sind dann zurück zur Ausländerbehörde und haben es genauso gemacht. Und das Zimmer auch bekommen. Das war in Witten-Heven. So kamen wir in eine Wohnung mit drei Zimmern. In zwei Zimmern wohnten ein palästinensisches Paar und eine türkische Familie. Die Söhne kenne ich auch heute noch. Sie haben uns alle aufgefangen und aufgenommen. Im Februar 1993 haben wir den Asylantrag gestellt und 1995 "den blauen Pass", die Aufenthaltsgenehmigung, bekommen. Davor hatten wir nur einen Wisch, den man jedes Jahr erneuern musste. Mit ihm durfte man sich nur 15 Kilometer von seinem Wohnort wegbewegen. Meine Eltern haben Essensmarken und 300 Mark im Monat bekommen. Kein Kindergeld, das bekommt man erst mit der Aufenthaltsgenehmigung. Das heißt, wir haben in den ersten zwei Jahren in Deutschland von den 300 Mark Klamotten und sowas gekauft – und mit Essensmarken an der Supermarktkasse bezahlt.
MZEE.com: Das mit den Essensmarken wusste ich gar nicht.
Al Kareem: Ich glaube, das gibt es heute so auch nicht mehr. Aber in den 90ern wurde das so geregelt.
MZEE.com: Was ist denn mit euren anderen Verwandten geschehen? Sind in den Folgejahren weitere Familienangehörige nachgekommen?
Al Kareem: Ja, 1999 und 2000 sind die Schwestern von meiner Mama gekommen. Das lief genauso wie bei uns: dass die Familie einen Teil sponsert. Und das sind Beträge, die man sich nicht vorstellen kann. Mein Vater sagt "Da haben wir dem 5.000 Dollar geschickt und dem 10.000", wo ich mich frage: Woher hattet ihr das Geld?! Es ist einfach ein bedingungsloser Zusammenhalt. Es war für sie auch nicht mehr so einfach wie für uns, zu fliehen. Du kannst ja heute nirgendwo mehr hingehen und sagen: "Hier ist mein gefälschter Pass" und in ein Flugzeug steigen. Meine Tanten mussten über lange Gehwege und Boote kommen. Diese ganzen Mittelmeeraktionen, die es heute gibt … Also, wenn du Anfang der 90er ein bisschen Geld hattest, hattest du ganz andere Möglichkeiten.
MZEE.com: Hast du Verwandte, die sich bis heute nie dazu entschlossen haben, zu fliehen?
Al Kareem: Ja, tatsächlich. Eine Schwester von meiner Mama hat sogar in Bagdad gewohnt und ist nie weggegangen. Zwei von meinen drei Cousins wurden entführt und gefoltert. Von irgendwelchen extremistischen Gruppen, als Saddam gestürzt wurde und der Bürgerkrieg zwischen den Shiiten und Suniten richtig losging. Zu der Zeit ist da viel passiert. Einer meiner Cousins ist durch eine Autobombe gestorben, weil man dachte, er sei ein Regierungsmitglied. Die Bombe hat seine Beine weggesprengt. Der Bruder von meiner Mutter war der letzte, der gekommen ist – meine Tante ist als einzige noch da. Sonst nur entfernte Verwandte. Vom engeren Kreis, wie die Brüder und Schwestern meiner Eltern, sind eigentlich alle hier. Ich hab' letztens gemerkt: Wir sind voll die Großfamilie. Ich könnte auch einen Clan gründen. (lacht)
MZEE.com: Das heißt, es gibt keine Verwandten, die geflohen sind und irgendwann entschieden, wieder zurückzugehen?
Al Kareem: Entfernt hab' ich das schon mitbekommen. Dass jemand herkam und sich fragte: "Wie, es ist ja gar nicht so, dass das Geld einfach aus der Wand kommt?!" (lacht) Solche Mythen gibt es. In den 90ern gab es keine Bankautomaten im Irak. Daher kam der Gedanke: "Die stecken eine Karte rein und es kommt einfach Geld aus der Wand?!" Als meine Eltern das erste Mal zurückgereist sind, haben sie das ganze Geld, das sie dabei hatten, einfach verschenkt. Einerseits haben ihnen alle leid getan – andererseits wurde es aber auch erwartet. Sie sind geflohen und natürlich direkt reich. Und kommen jetzt wieder und verteilen das Geld. Mein Vater meint rückblickend, er versteht die Naivität von damals gar nicht mehr. Dieses "Wir verschenken mal unser ganzes Geld. Das kriegen wir schon irgendwie wieder". Es war einfach ein Community-Ding: Wenn die einen es geschafft haben, müssen sie die anderen miternähren.
MZEE.com: Was eigentlich ein total schöner Gedanke ist.
Al Kareem: Ja. Aber die Selbstverständlichkeit, zu denken, dafür müsse man nichts tun, führt, glaub' ich, auch dazu, dass Leute hierhin kommen und plötzlich merken: "Das ist ja mega abgefuckt hier, die reißen dir den Arsch auf. Du setzt dich nicht zu Hause hin und dann kommt das Geld aus der Wand. Nee, du musst ordentlich was dafür tun."
MZEE.com: Hatten deine Eltern am Anfang die Hoffnung, irgendwann wieder in ihre Heimat zurückzukehren? Oder war einfach klar, dass es den Weg zurück nicht mehr geben wird?
Al Kareem: Gute Frage. Meine Eltern waren 26, als sie hier ankamen und ich kann mir vorstellen, dass sie in den ersten Jahren mega Heimweh hatten. Stell dir vor, du hast gerade erst deine ganze Sozialisation durch und musst komplett neu anfangen. Wir waren, glaub' ich, die einzige Familie in Witten aus der Region, aus der wir kommen. Ich hatte kein "Ich häng' mit den Türken ab" oder "den Arabern". Es gab keine Bezugsgruppe. Ich stand mit meiner Sprache und Herkunft immer alleine da. Ohne Bezugspunkt – auch für meine Eltern. Klar: Es wurde auch darauf gebaut, dass wir unsere Familie hier hatten. Aber Freunde hatten wir lange nicht.
MZEE.com: Du bist in Witten in den Kindergarten und später in die Schule gegangen – hattest du da das Gefühl, alleine zu sein?
Al Kareem: Es war auf jeden Fall nicht einfach. Ich hatte das Glück, dass wir in Witten ankamen und durch Zufall ein älteres Paar kennenlernten, das eine Minigolf-Anlage hatte. Mein Vater hatte Besuch, wollte mit ihm was trinken gehen und dachte: "Da gibt es doch so einen Platz, an dem man was trinken kann." Also ist er mit seinem Besuch dahin gegangen. Die Besitzer von dem Platz hießen Hans und Inge und hatten einen Sohn, Harald. Der Sohn war 40 und die beiden um die 60. Mein Vater und seine Freunde haben da dann was getrunken und ich bekam ein Eis. Die mochten uns irgendwie und das Eis ging direkt auf sie. Sie haben sich für uns interessiert und meinen Vater in der folgenden Zeit ein bisschen adoptiert: Er konnte da arbeiten und mithelfen, zum Beispiel eine Mauer auf dem Minigolfplatz bauen. Hans hat ihm immer ein bisschen Taschengeld und Vokabeln gegeben, die er jeden Tag lernen musste. So hat mein Vater dann die Sprache gelernt. Die waren richtig korrekt zu ihm. Hans hat ihn auch mit zum Sport genommen, Prellball hieß das. Mein Vater war im Vergleich zu den anderen sehr jung, das waren nur alte Herren – und er hat dann die Punkte gemacht. (lacht) Das stell' ich mir richtig witzig vor, wie sie auf einmal mit diesem Superjoker um die Ecke gekommen sind, der alle weghaut. Sie haben also zusammen Sport gemacht und gearbeitet, wir haben Geburtstagsgeschenke bekommen und: Sie haben mir den Kindergartenplatz geklärt. So konnte ich schnell die Sprache lernen. Ab meinen jungen Jahren hab' ich als Dolmetscher für die Familie fungiert. Es gibt auch ein Fotoalbum aus dieser Zeit, das zeigt: Ich war im Kindergarten glücklich und hatte Freunde. Aber ich war trotzdem alleine, indem ich keine automatische Bezugsgruppe hatte. Ich musste immer gucken, dass ich mich integriere.
MZEE.com: Eine Flucht ist ja mehr als ein einschneidendes Erlebnis – sie verändert das Leben komplett und traumatisiert die Geflüchteten nachhaltig. Was meinst du, wie ihr als Familie es geschafft habt, daran nicht kaputt zu gehen?
Al Kareem: Es gibt ein paar Faktoren. Meine Eltern waren grundsätzlich ein gutes Team. Meine Mutter hat immer gearbeitet, in einer Küche, Cafeteria, egal wo. Sie hat von Anfang an geguckt, dass Geld reinkommt. Mein Vater war der Connector – er konnte die Sprache recht schnell gut. Er hat seinen Führerschein gemacht und geguckt, sich zu integrieren. Der familiäre Rückhalt in Österreich und Deutschland zählt bestimmt auch mit rein. (überlegt) Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie man das schafft. Und ich bewundere meine Eltern dafür, weil ich es mir selbst nicht zutrauen würde. Wir sind in einem der sichersten Länder der Welt. Man kann sich hier nicht vorstellen, dass man auf einmal woanders hinmuss, wo es sicherer ist. Wo man nicht gerne gesehen und aufgenommen wird. Dann aber auch doch, denn mit dem Aufgenommenwerden haben wir ja ganz gute Erfahrungen gemacht. Es kamen keine Leute vor unser Flüchtlingsheim und sagten: "Ausländer raus!" Natürlich gab es auch solche Erfahrungen in meiner Jugend. Aber generell wurden wir gut aufgenommen und es wurde versucht, uns schnell zu integrieren. Natürlich haben wir auch andere Dinge erlebt. Zum Beispiel, dass man sich nicht aussuchen durfte, wo man wohnt. 1996, vier Jahre, nachdem wir den Pass hatten, durften wir uns das erste Mal selber eine Wohnung suchen. Bis dahin waren wir in zusammengewürfelten Flüchtlingsunterkünften. 35qm, ein Zimmer, vier Personen. Küche, Bett, Schrank – alles in einem Zimmer. Wenn Du den Raum verlassen hast, war da schon die nächste Familie. Es gab keine Privatsphäre. Aber: Immerhin ein Dach über dem Kopf, Sicherheit und kein Krieg. Man kann zur Schule gehen und sein Leben neu gestalten. Ich denke, dass meine Eltern das auch gesehen haben: Hier kann man was schaffen und muss keine Angst haben. Ich weiß nicht, ob sich das mit einer Art Bedürfnispyramide erklären lässt: Wenn die Basic-Sicherheit schon mal gegeben ist, kann man darauf viel aufbauen. Und wenn du diese Sicherheit nicht hast, kannst du andersrum auch nichts aufbauen.
MZEE.com: Es ist total fragil.
Al Kareem: Genau. Alles in allem kann ich mir nicht vorstellen, wie meine Eltern das geschafft haben. Den Antrieb und die Motivation zu haben, verstehe ich. Aber es wirklich durchzuziehen, muss viel mit Angst und Ungewissheit zu tun haben. Das ist heftig. Bewundernswert, macht mir aber auch Angst. Und es macht mich auch traurig. Stell dir mal vor, das wäre nicht passiert. Und sie hätten ihr Leben einfach in ihrer sicheren Umgebung verbracht, quasi mit dem old money der Eltern. Man wird ja reingeboren in das, was sie sich aufgebaut haben, und kann sich da frei entfalten. Es ist auch eine sehr kollektivistische Gesellschaft, aus der meine Familie kommt. Dabei dreht sich nicht viel um die individuelle Entfaltung, nach dem Motto: "Ich bin 18 und ziehe jetzt aus, mach' drei Jahre Australien, work and travel …" Da, wo wir herkommen, ist es ein bisschen anders: "Wir sind eine Familie, da ist der Laden, den kannst du jetzt führen und deine Familie ernähren." Da kamen wir her. Und das meine ich damit, wenn ich sage, es macht mich traurig – meine Eltern hätten die Möglichkeit gehabt, so ihr Leben zu gestalten. Wahrscheinlich hätte sie das glücklicher gemacht. Ich denke, sie hatten viel Heimweh, depressive Phasen, tatsächliche Depressionen. Das hat schon alles viel mit ihnen gemacht.
MZEE.com: Natürlich. Ich kenne einige Menschen, die als Kind mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet sind und nie ein richtiges "Heimatgefühl" hatten. Wie ist das bei dir?
Al Kareem: Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich rastlos bin. Ich hatte nie einen Ort, von dem ich gesagt hätte: "Hier muss ich unbedingt bleiben, das ist meine Heimat." Seit ich in Berlin wohne, merke ich, dass ich Witten vermisse. Und ich glaube, Witten ist meine Heimat. Da hatte ich meine ganze Sozialisation, Kindheit, Freunde, Schule. Aber es ist für mich doch viel mehr ein "mit wem", statt ein "wo" … So erklär' ich mir Heimat ein bisschen – dass man über Generationen wo gelebt hat und es dann als Zuhause sieht. Aber ich merke, dass ich eine Rastlosigkeit in mir hab'. Ich kann nirgendwo länger als zwei, drei Jahre wohnen. Ich glaube, am Ende ist es natürlich Witten – das liegt aber daran, dass meine Mutter und mein Bruder da sind, nicht an dem Ort an sich. Und da, wo ich geboren wurde, war ich schon über zehn Jahre nicht mehr. Ich war das letzte Mal 2011 da und will da schnell wieder hin. Das ist mein nächstes Reiseziel im Erwachsenenalter. Auch, um noch mal zu gucken: Wo komm' ich eigentlich her?
MZEE.com: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist das Thema Flucht, das ja weltweit immer aktuell ist, wieder besonders in den Fokus und die Köpfe der Menschen gerückt. Wie hast du die Zeit seit Kriegsbeginn wahrgenommen? Und hast du das Gefühl, dass du mit dem Thema Krieg einen anderen Umgang hast als Menschen, die damit nie in Berührung kamen?
Al Kareem: Ich glaube, ich hab' tatsächlich einen anderen Bezug dazu. Ich verstehe zum Beispiel die Unterscheidung nicht, die teils zwischen Geflüchteten gemacht wird. Ich verstehe, dass man sich nicht auf die ganze Welt konzentrieren kann. Aber ich habe das Gefühl, dass sich politisch gesehen oft nur auf eine Sache konzentriert wird. Wie du aber schon sagst – wenn man das global betrachtet, sieht man: Es passiert die ganze Zeit. Es flüchten dauernd Menschen von hier nach da. Das Ukraine-Thema hatte einen negativen Touch in der Berichterstattung und meiner Bubble. So in die Richtung, Geflüchtete werden aufgenommen und es heißt: "Ach, zeig mal deinen Abschluss, was warst du? Ja, klar, Arzt, dann kannst du hier jetzt auch Arzt sein." Es wird angeblich mit zweierlei Maß gemessen. Denn wenn du aus dem Iran, Irak, Syrien bist, sind deine Uni-Abschlüsse hier wie die Mittlere Reife. Ich frage mich aber: Ist das wirklich so? Dass jemand aus der Ukraine kommt und hier dann andere Möglichkeiten hat? Ich weiß es nicht. Ich hab' das bei keinem Fall recherchiert. (überlegt) Vielleicht liegt es auch an der geringeren Entfernung? Aber du kommst ja aus einem Land, in dem Krieg ist. Es gibt keine Dokumente, keine Nachweise. Und in Bezug auf die Ukraine empfinde ich das schon ein wenig als Victim Blaming. So: "Ja, die Ukrainer werden hier aber besser als wir aufgenommen, mimimi." Eigentlich muss man sagen: Natürlich werden sie aufgenommen und super, wenn sie gut behandelt werden. Da sollte man keinen Wettstreit draus machen, sich benachteiligt zu fühlen – ich verstehe das aber irgendwo auch. Persönlich sehe ich es einfach neutral und denke mir: auch Krieg, auch Geflüchtete. Und deswegen bin ich froh, wenn sie hier gut ankommen und aufgenommen werden. Und hoffentlich was aus der Situation machen können. Das ist für sie genauso schlimm, ihr Land zu verlassen und sich was Neues aufbauen zu müssen. Kein Flüchtling, der wegen Krieg flieht, hat Bock darauf. Das muss man auch verstehen. Es ist kein: Wir wollen das. Sondern: Ich hab' hier mein ganzes Hab und Gut auf den Schultern. Meine Kinder, meine Familie. Wer weiß, ob wir ankommen. Kann sein, dass wir verhungern. Kann sein, dass wir irgendwo in einem Land eingesperrt werden. Dann da gar nicht klarkommen … Viele kommen ja auch an ihrem Ziel gar nicht an.
MZEE.com: Das ist auch nach wie vor ein wichtiger Punkt: Dass Menschen, die eine Flucht überlebt, aber vielleicht ihre Kinder auf dem Mittelmeer haben ertrinken sehen oder ihre Familie verloren haben, höchstgradig traumatisiert ankommen und nicht nach Deutschland wollten, weil sie das Land so toll finden. Es ist für mich unverständlich, dass Differenzierungen zwischen dem:der einen und dem:der anderen Geflüchteten gemacht werden oder Demonstrationen vor Flüchtlingsheimen stattfinden. Ich finde das nur unempathisch und in jeglicher Hinsicht falsch. Und ja, du hast recht: Niemand möchte das machen.
Al Kareem: Wie sinnlos muss das eigene Leben sein, wenn man seine Energie und Zeit dafür verschwendet, Leuten zu sagen: "Ausländer raus"?! Wie verblendet und unintelligent ist das? Auch unempathisch. Sind das Psychopathen, wenn sie kein Mitgefühl haben und sich das nicht vorstellen können? Und das meinte ich gerade: Ich kann mir das eben ein bisschen vorstellen, weil ich diese Situation mein Leben lang kenne. Ich habe da Mitgefühl – und natürlich checke ich das als Betroffener. Doch wie undifferenziert muss man denken, wie klein muss der eigene Horizont sein und wie wenig Sinn im Leben muss man sehen, um vor jemandem zu protestieren, der ein traumatisches Erlebnis hinter sich hat? (pausiert kurz) Das ist einfach nur rassistisch. Und dazu kommt der Alltagsrassismus, der die Leute dann auch noch trifft.
MZEE.com: Ich habe noch eine letzte Frage – außer, du möchtest zum Thema Flucht noch etwas ergänzen, das wir bisher nicht besprochen haben.
Al Kareem: Das war ziemlich viel, ne? (lacht) Das ist so übergeschwappt, weil ich gestern erst das Gespräch mit meinem Vater darüber hatte. Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen …
MZEE.com: Auf jeden Fall. Da wir ja ein Musikmagazin sind, würde ich zum Abschluss gerne wissen: Welche Musik erinnert dich am meisten an deine Kindheit und Jugend in Witten?
Al Kareem: (lacht) Es ist so witzig, welche Musik ich als erstes gehört hab'! Auf der einen Seite natürlich viel arabische Musik durch meine Eltern. Daran hab' ich krasse Kindheitserinnerungen und hör' auch ab und zu noch Lieder im Auto. Auf der anderen Seite … (grinst) Ich fand die Ärzte, "Schrei nach Liebe" immer voll cool. Ich glaub', wegen dem Wort "Arschloch". Und es gab doch in den 90ern eine Phase mit Blümchen und so. Ich hab' dieses "Eins, zwei, Polizei" als Sechsjähriger im Flüchtlingsheim immer laut gepumpt und bin dazu abgegangen. Neben dem und Captain Jack kam ich durch meine Cousinen zu Boybands – sie waren große Caught in the Act-Fans. Dadurch kannte ich jedes Lied. Später fand ich die Backstreet Boys und *NSYNC voll geil. Das waren die Main Players für mich – 90s Pop. Irgendwann kam Limp Bizkit, aber das war schon später in der Jugend. Ich hatte zum Geburtstag die CD bekommen, "Rollin". Im Fernsehen hatte ich aber das Lied von Dr. Dre und Eminem gesehen, "Forgot about Dre". Das fand ich überkrass. Und dachte: "Oh mein Gott, was ist denn das für ein Song?!" Ich hatte also "Rollin" zum Geburtstag bekommen und dann kam einer, der hatte die CD mit "Forgot about Dre". Man macht das ja eigentlich nicht, Geschenke weitertauschen. Aber das hab' ich dann gemacht. Ab da war es um mich geschehen und ich hatte genug von Fred Durst. Es gab im Booklet Werbung von den anderen Songs – so bin ich zu HipHop gekommen und hab' dann relativ früh angefangen, auch zu rappen. Ich kam einen weiten Weg bis hier: Ärzte, Captain Jack, Blümchen und arabische Musik … Oh Gott, was war mit mir los? Eins, zwei, Polizei … (singt) Ich weiß gar nicht mehr, was die in dem Lied eigentlich erzählt haben.
MZEE.com: Karim, das waren jetzt wirklich sehr intensive Stunden. Ganz lieben Dank für deine riesige Offenheit, deine und eure Geschichte zu erzählen. Auch an deine Eltern, dass wir vor allem auch ihre Geschichte teilen dürfen.
Al Kareem: Ich muss mich bei dir bedanken. Durch das Interview habe ich mich mal wieder mit dem Thema beschäftigt, was richtig identitätsfindend war. Man ist manchmal sehr im Hier und Jetzt – dann tut es gut, way back zu gehen und zu gucken: Wo komme ich eigentlich her? Ich weiß das alles – aber ohne das Ganze zu hinterfragen. Seit du mich ja vor Jahren das erste Mal gefragt hast, ob wir das Interview machen, hab' ich immer wieder meine Eltern angehauen. Es ist krass für sie, darüber zu reden. Sie könnten heute noch ein Buch darüber schreiben, weil sich alles so in ihre Köpfe eingepflanzt hat. Wenn du fragst "Was hast du letzte Woche gemacht?", können sie es dir vielleicht nicht sagen. Aber was sie damals in die Tasche für ihre Flucht gepackt haben, wissen sie bis heute ganz genau. Und es war richtig schön, sich damit noch mal intensiver zu beschäftigen.
(Florence Bader)
(Fotos von Kamaran Karim, Pressebild von Rico Rolle)