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Interview

KAAS – ein Gespräch über Einsamkeit

"Ich bin eher ein Ein­zel­gän­ger, des­halb ist Ein­sam­keit für mich in gewis­ser Wei­se etwas Ver­trau­tes und Inspi­rie­ren­des. Es ist ein Zustand, der total schön sein kann. Eigent­lich suche ich die Ein­sam­keit." – KAAS im Inter­view über die posi­ti­ven Aspek­te des Alleinseins.

"Das Gefühl der Ein­sam­keit kann in jedem Alter und in jeder Lebens­si­tua­ti­on ent­ste­hen. Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land füh­len sich ein­sam." – So heißt es auf der Web­site des deut­schen Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Fami­lie, Senio­ren, Frau­en und Jugend. Stu­di­en bele­gen, dass vor allem jun­ge Erwach­se­ne und alte Men­schen ver­mehrt dar­un­ter lei­den. Die Bun­des­re­gie­rung erkennt Ein­sam­keit des­halb als wach­sen­de gesamt­ge­sell­schaft­li­che Her­aus­for­de­rung an und hat Anfang 2023 die "Stra­te­gie gegen Ein­sam­keit" ins Leben geru­fen. Auch in der Kunst ist Ein­sam­keit seit jeher ein häu­fig behan­del­tes Motiv. Das typi­sche Bild des:der zurück­ge­zo­ge­nen, allein arbei­ten­den Künstler:in, das vie­le im Kopf haben, trifft auch auf KAAS zu, der das Gefühl von Ein­sam­keit nicht nur auf sei­nem im April erschie­ne­nen Album "Flü­gel­schlag" ver­ar­bei­tet. Viel­mehr nimmt das Allein­sein auch in sei­nem musi­ka­li­schen Schaf­fens­pro­zess eine zen­tra­le Rol­le ein. Im Inter­view spra­chen wir über den Ein­fluss sozia­ler Medi­en auf Ein­sam­keit, sei­ne Erfah­run­gen bei einem Auf­ent­halt in einem Schwei­ge­klos­ter sowie die man­geln­de Akzep­tanz für intro­ver­tier­te Men­schen in unse­rer Gesellschaft.

MZEE​.com: KAAS, hast auch du das Gefühl, dass Ein­sam­keit in unse­rer Gesell­schaft ein zuneh­men­des sozia­les Pro­blem ist?

KAAS: (singt) "All the lonely peo­p­le, whe­re do they all come from?" – Das ist eines mei­ner Lieb­lings­lie­der von den Beat­les. Ein neu­es The­ma ist Ein­sam­keit, glau­be ich, nicht. Hat es sich ver­stärkt, vor allem durch Coro­na? Auf jeden Fall. So rich­tig aktiv dar­über auf einer gesell­schaft­li­chen Ebe­ne nach­ge­dacht habe ich aller­dings noch nie. Aber man hat schon immer mal wie­der Impul­se zu dem The­ma. Das Ers­te, was mir jetzt gera­de dazu ein­fällt, ist die Zeit, als Whats­App die Welt über­nom­men hat. Da hat­te ich zum Bei­spiel so ein Gefühl der Ver­ein­sa­mung. Ich habe gemerkt, dass ich auf ein­mal viel sel­te­ner mit Freund:innen tele­fo­nie­re und eine komi­sche Wand zwi­schen uns steht. Das war viel­leicht nur ein klei­ner Wan­del, aber es hat schon was mit einem gemacht.

MZEE​.com: Ich den­ke, sozia­le Medi­en haben gene­rell die Art und Wei­se, wie wir zwi­schen­mensch­li­che Kon­tak­te pfle­gen, stark ver­än­dert. Eigent­lich sor­gen sie dafür, dass wir uns regel­mä­ßi­ger und nied­rig­schwel­li­ger unter­ein­an­der aus­tau­schen kön­nen. Glaubst du, die­se Mög­lich­kei­ten machen uns weni­ger ein­sam, oder ist wirk­lich genau das Gegen­teil der Fall?

KAAS: Auf der einen Sei­te hat man mehr Kon­takt mit Men­schen. Man schreibt zum Bei­spiel mit Leu­ten, die man frü­her nie­mals ange­ru­fen hät­te. Aber die­ser ech­te, tie­fer­ge­hen­de Aus­tausch ist zurück­ge­gan­gen, fin­de ich. Wobei das sicher nicht für alle gilt. Ich selbst schrei­be auch nicht so gern. Es gibt Leu­te, die tex­ten eine hal­be Stun­de durch und schrei­ben dabei ein kur­zes Buch. Ich bin eher der Typ, der kurz in drei Wor­ten ant­wor­tet und dann das Han­dy wie­der für 20 Minu­ten weg­legt. Des­halb hat das Gan­ze bei mir nicht so einen gro­ßen Impact.

MZEE​.com: Wann hast du dich denn zuletzt ein­sam gefühlt?

KAAS: Coo­le Fra­ge, die bringt mich an einen Hap­py Place. (über­legt) Hm, wann war ich denn ein­sam? Ich glau­be, ich füh­le mich sel­ten wirk­lich ein­sam, weil ich damit kein Pro­blem habe. Ich bin eher ein Ein­zel­gän­ger, des­halb ist Ein­sam­keit für mich in gewis­ser Wei­se etwas Ver­trau­tes und Inspi­rie­ren­des. Es ist ein Zustand, der total schön sein kann. Eigent­lich suche ich die Einsamkeit.

MZEE​.com: Ist Ein­sam­keit für dich eigent­lich das Glei­che wie Allein­sein oder steckt mehr dahinter?

KAAS: Ein­sam­keit ist schon nega­tiv kon­no­tiert. Es klingt eher nach: "Ich lei­de dar­un­ter, dass ich allein bin." Das ist defi­ni­tiv ein Unter­schied. Wahr­schein­lich wür­de ich den Zustand, den ich gera­de beschrie­ben habe, doch nicht als Ein­sam­keit betiteln.

MZEE​.com: Trau­er und Ein­sam­keit sind auch The­ma auf dei­nem neu erschie­ne­nen Album "Flü­gel­schlag". Du hast dir bereits 2019 vor­ge­nom­men, ein neu­es Solo­al­bum zu ver­öf­fent­li­chen. Lei­der ereil­te dich kurz dar­auf ein per­sön­li­cher Schick­sals­schlag. Inwie­fern läh­men ein Ver­lust und das Gefühl der Ein­sam­keit einen Artist in sei­nem Schaffen?

KAAS: Ich war erst ein­mal kom­plett raus. Ich konn­te gar nichts mehr machen. Ich höre von ande­ren, dass sie sowas direkt in Musik ver­ar­bei­ten kön­nen. Aber ich konn­te fast ein Jahr lang nichts schrei­ben. Höchs­tens mal einen Part in einer Ses­si­on mit den Orsons. Viel mehr ist im ers­ten Jahr danach nicht pas­siert. Ich muss­te erst wie­der zurückfinden.

MZEE​.com: Letz­ten Endes hast du dei­ne Trau­er auch auf dei­nem aktu­el­len Release the­ma­ti­siert. Songs wie "Sag jetzt nichts" oder "Trau­rig" han­deln von geschei­ter­ten Bezie­hun­gen oder dem Ver­mis­sen gelieb­ter Men­schen. Ist Musik am Ende doch ein Mit­tel, um das Gefühl der Ein­sam­keit gezielt zu ver­ar­bei­ten oder geschieht das automatisch?

KAAS: Ich glau­be, das muss auto­ma­tisch gesche­hen. Ich konn­te nichts ande­res schrei­ben. Mei­ne ursprüng­li­che Idee war es ja, ein Album wie ein Musi­cal zu schrei­ben. Ich woll­te fan­tas­ti­sche Geschich­ten wie in einem Film anein­an­der­rei­hen. Dar­aus ist nichts gewor­den. Nach­dem mein Papa gestor­ben ist, hat sich das Album in eine ande­re Rich­tung ent­wi­ckelt. Als ich wie­der ins Stu­dio ging, haben mich eben ande­re Din­ge beschäf­tigt. Der Song "Trau­rig" kommt aus der Zeit, in der ich lang­sam wie­der zurück­ge­fun­den habe. An mei­nem ers­ten Geburts­tag ohne mei­nen Vater wur­de ich trau­rig, als ich rea­li­sier­te, dass er sich nicht mel­den wird. Ich war im Urlaub und hät­te ihn zwar nicht getrof­fen, aber er hät­te sicher­lich ange­ru­fen. Ich wuss­te: "Die­ses Mal wird das nicht pas­sie­ren." In mei­ner Trau­er nahm ich ein Büch­lein zur Hand und habe mei­nem Vater einen Brief geschrie­ben. Kei­ne Ahnung war­um, das hat­te mich in die­sem Moment ein­fach gepackt. Mona­te spä­ter, als ich wie­der im Stu­dio war, habe ich mich dar­an erin­nert und mir gedacht, dass aus die­sem Brief auch ein schö­nes Lied ent­ste­hen könn­te. Also habe ich es geschrieben.

MZEE​.com: Wie ist das eigent­lich? Du hast in dei­ner Kar­rie­re sowohl solo als auch mit den Orsons als Grup­pe Musik gemacht. Wie schreibst du am liebs­ten dei­ne Songs? Seit es Kunst gibt, exis­tiert ja auch das Bild der ein­sa­men, zurück­ge­zo­gen leben­den Künstler:innen im stil­len Kämmerlein.

KAAS: Das kommt dar­auf an, aber am effi­zi­en­tes­ten bin ich allein. Ich erin­ne­re mich gera­de an die ers­ten Writing-​Sessions zurück, die ich für ande­re Künstler:innen gemacht habe. Ich war in einer sol­chen Ses­si­on für Tim Bendz­ko, bin aus dem Stu­dio raus­ge­gan­gen und habe mich in eine Besen­kam­mer gesetzt. Ich habe also wort­wört­lich das stil­le Käm­mer­lein gesucht. (lacht) Die­ses "Sag du mal noch 'ne Zei­le! Nee, sag du mal 'nen Reim"-Ding, bei dem man sich die gan­ze Zeit die Bäl­le hin und her wirft, ist über­haupt nicht mein Fall. Auch im Orsons-​Kontext mache ich mei­ne Songs allein, bin allein im Stu­dio und brin­ge dann ein­fach mei­ne Sachen zu einer Ses­si­on mit. Es sei denn, es han­delt sich um einen Rap-​Song, bei dem man ein­fach nur einen Sech­zeh­ner mit irgend­wel­chen Lines kickt. Das ist etwas, was zusam­men ent­steht und bei dem ich auch an Ort und Stel­le etwas schrei­be. Aber wenn es per­sön­li­cher und tief­sin­ni­ger wer­den soll, dann bin ich eher der Typ "Stil­les Käm­mer­lein". Ich kann aber auch ein Team­play­er sein, zum Bei­spiel wenn ich nur ande­ren Leu­ten hel­fe und es nicht dar­um geht, mich selbst in der Musik auszudrücken.

MZEE​.com: Außer, es han­delt sich um eine Writing-​Session für Tim Bendzko.

KAAS: (lacht) Okay, ich gehe tat­säch­lich auch ger­ne woan­ders hin, wenn ich für ande­re schrei­be. Ich ver­ab­schie­de mich für eine Stun­de und kom­me dann mit dem ers­ten Ent­wurf zurück. Ich glau­be, das hat etwas mit Schüch­tern­heit zu tun. Wenn ich eine Idee in den Raum wer­fe und mer­ke, dass die Leu­te sie nicht auf Anhieb ver­ste­hen, ver­un­si­chert mich das und die Idee löst sich auf, obwohl aus ihr etwas Gutes hät­te her­an­wach­sen kön­nen. Des­we­gen ver­pa­cke ich die Idee lie­ber erst ein­mal im stil­len Käm­mer­lein so, dass man sie ver­ste­hen kann. Wie ist das denn bei dir?

MZEE​.com: Ich schrei­be zwar kei­ne Songs, aber ich den­ke, ich weiß, was du meinst: Manch­mal möch­te man eine Idee in sei­nem Kopf zu Ende spin­nen, bevor man sie ande­ren ser­viert. Ein ande­rer Aspekt dei­nes Daseins als Musi­ker ist das Tou­ren. Du bist lan­ge dabei und hast, vor allem als Teil der Orsons, schon eini­ge tur­bu­len­te Streif­zü­ge durch die Kon­zert­hal­len die­ses Lan­des hin­ter dir. Ver­spürt man nach Ende einer Tour, bei der man stets von Tru­bel und ande­ren Men­schen umge­ben war, auch eine Art Einsamkeit?

KAAS: Ich bin tat­säch­lich auch auf Tour sehr viel allein. Mir sind die­ser Tru­bel und die gan­zen Leu­te oft zu viel, des­halb spa­zie­re ich tags­über durch die Stadt, gucke mir Sachen an und las­se mich ein wenig trei­ben. Natür­lich mag ich es, mit den ande­ren abzu­hän­gen, aber immer nur in Dosen. Eine Stun­de vor der Show, dann zwei Stun­den nach der Show, das ist mir meis­tens schon genug. Den­noch ist es emo­tio­nal immer schwer, nach einer Tour ins nor­ma­le Leben zurück­zu­keh­ren. Für zwei oder drei Wochen ver­spürt man jeden Abend kras­ses Adre­na­lin und steht vor Tau­sen­den auf der Büh­ne, die einem zuju­beln. Das ist die schöns­te Sache der Welt, aber auch kom­plett sur­re­al. Wenn das nach der Tour plötz­lich weg ist, ist das schon ein hef­ti­ger Ener­gie­wech­sel, der einen in ein Loch rei­ßen kann. Dass ich mal eine rich­ti­ge After-​Tour-​Depri hat­te, wie man es von ande­ren teil­wei­se hört, ist aller­dings noch nicht vor­ge­kom­men. Was vor­ge­kom­men ist, ist, dass ich mit mei­ner Frau viel zu laut spre­che. (lacht) Ich kom­me mit mei­ner Tourbus-​Lautstärke nach Hau­se und sie meint nur: "Bist du wahn­sin­nig?" Oder dass ich bei die­sen gro­ßen Kühl­schrän­ken in der Tank­stel­le das Gefühl habe, mir alles ein­fach neh­men zu kön­nen, weil man noch das Cate­ring von der Tour gewöhnt ist, was teil­wei­se echt luxu­ri­ös ist.

MZEE​.com: Ich wür­de ger­ne noch auf Aspek­te abseits der Musik zu spre­chen kom­men. Du bist Christ und hast in ande­ren Inter­views ange­deu­tet, dass Reli­gi­on in dei­nem Leben eine gro­ße Rol­le spielt. Inwie­fern gibt dir dein Glau­be in ein­sa­men Momen­ten Halt?

KAAS: Vor allem in der Trau­er­pha­se war das schon ein gro­ßer Halt. Ich habe gemerkt, wie viel Sinn die­se "klas­si­schen" Reli­gio­nen gemacht und wie gut sie gegrif­fen haben. Ich bin gläu­big und Christ, aber eigent­lich nicht auf die­sem "Das ist die ein­zig wah­re Religion"-Film. Ich den­ke mir eher: "Das Gött­li­che hat in ver­schie­de­nen Spra­chen gespro­chen und jede Reli­gi­on hat den glei­chen Kern." In die­sem Moment hat es den­noch ein­fach gut­ge­tan und war eine wich­ti­ge Säu­le. Das hat­te ich selbst nicht erwar­tet, aber als es dann so weit war und man mit dem Tod kon­fron­tiert war, erschien die­se Vor­stel­lung vom Über­gang in eine ande­re Welt doch wie ein schö­ner Anker. Wahr­schein­lich hät­te die­se Rol­le aber auch eben­so ein guter Psych­ia­ter aus­fül­len kön­nen. Oder ein Scha­ma­ne, der ganz ande­re Wor­te findet.

MZEE​.com: Wie du zuvor bereits erwähnt hast, kann Allein­sein für dich auch ein posi­ti­ver Zustand sein, den du bewusst suchst. In einem ande­ren Inter­view hast du erwähnt, dass du ein­mal meh­re­re Tage in einem Schwei­ge­klos­ter ver­bracht hast. Wie kamst du auf die­se Idee?

KAAS: Durch eine Zufalls­be­geg­nung in Füs­sen. Ich war dort zum Schrei­ben und saß nach einem Wald­spa­zier­gang im offe­nen Kof­fer­raum mei­nes Autos. Es war ein schö­ner Ort und ich war hap­py. Dann hat mich eine Frau ange­spro­chen. Viel­leicht roman­ti­sie­re ich das, aber es hat sich ange­fühlt, als hät­te sie auf Anhieb gewusst: "Du könn­test die­sen Kurs gebrau­chen." Wahr­schein­lich hat sie mich anders ange­spro­chen, aber wir kamen ins Gespräch. Sie hat mir von die­sem Klos­ter berich­tet, wo man zehn Tage lang wie ein bud­dhis­ti­scher Mönch lebt, den gan­zen Tag medi­tiert, nicht lesen und nicht spre­chen darf. Sämt­li­che äuße­ren Rei­ze fal­len dort weg. Du gibst dein Han­dy ab und bist für zehn Tage sozu­sa­gen im wei­ßen Raum der Matrix.

MZEE​.com: Was hast du aus die­ser Erfah­rung mitgenommen?

KAAS: Die ers­ten zwei, drei Tage ist es ziem­lich anstren­gend. Dei­ne Mus­ku­la­tur muss sich erst ein­mal dar­an gewöh­nen, beim Medi­tie­ren acht Stun­den am Tag mit einem gera­den Rücken zu sit­zen. Eini­ge Leu­te haben des­halb abge­bro­chen. Spä­ter fan­gen alle an, Stei­ne zu sta­peln oder durch den Wald zu spa­zie­ren. Die Natur um dich her­um ist das ein­zi­ge Enter­tain­ment, das übrig ist. Das hat etwas Befrei­en­des, fast wie ein natür­li­ches High. Das Gan­ze fühlt sich etwas sek­ten­ar­tig an. Du bist Teil einer gro­ßen Grup­pe an Men­schen, die ein­fach nur still ist, und hörst beim Medi­tie­ren die Anlei­tun­gen, die immer das Glei­che sagen: "Sie haben Ihre Auf­merk­sam­keit ver­lo­ren, kom­men Sie wie­der zurück zu Ihrer Atmung." Beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben ist mir auch die Rück­fahrt. Wenn du nach zehn Tagen wie­der in die nor­ma­le Welt ein­tauchst, fällt dir auf, wie vie­le Din­ge um dich her­um dei­ne Auf­merk­sam­keit möch­ten. Ich fuhr gera­de auf die Auto­bahn und dach­te mir, dass jeder scheiß LKW etwas von mir will und sagt: "Hey, guck mich an!" Und das waren nur die LKWs! Ich habe über­legt, was wohl erst pas­sie­ren mag, wenn ich mein Han­dy anschal­te. Unse­re Auf­merk­sam­keit wird stän­dig irgend­wo hin­ge­zo­gen. Das Glei­che gilt für Din­ge, über die wir uns im All­tag auf­re­gen. Im Schwei­ge­klos­ter pas­siert eigent­lich nichts, trotz­dem emp­fin­det man Ärger über all­täg­li­che Din­ge. Die­se Ener­gie ist immer da und sucht sich ein­fach nur eine ande­re Pro­jek­ti­ons­flä­che. Über Ener­gie habe ich dort sowie­so viel gelernt. Ich habe irgend­wann gemerkt, dass ich Gedan­ken, die ich ableh­ne, eher auf der lin­ken Sei­te mei­nes Kör­pers spü­re, und Gedan­ken, die ich begrü­ße, eher auf der rech­ten Sei­te. Es war eine sehr inter­es­san­te und loh­nen­de Erfah­rung, die in mei­nen Augen jede:r mal gemacht haben sollte.

MZEE​.com: Albert Ein­stein hat mal gesagt: "Ich lebe in jener Ein­sam­keit, die pein­voll ist in der Jugend, aber köst­lich in den Jah­ren der Rei­fe." – Lernt man die Vor­zü­ge von Ein­sam­keit erst im Lau­fe des Erwach­sen­wer­dens zu schätzen?

KAAS: Ich kann mich in dem Zitat sehr gut wie­der­fin­den. Was bei mir eine Rol­le gespielt hat, war, dass ich viel zu spät gemerkt habe, dass ich intro­ver­tiert bin. In der Jugend war die Ein­sam­keit schmerz­haft, weil ich dach­te, dass etwas mit mir nicht stimmt. Ich war lie­ber allein als in der Gesell­schaft vie­ler Men­schen und hat­te immer den Ein­druck, es sei falsch, so zu sein.

MZEE​.com: Ich habe auch manch­mal das Gefühl, dass von einem erwar­tet wird, stän­dig den Kon­takt zu ande­ren zu pfle­gen, und man schief ange­schaut wird, wenn die sozia­le Bat­te­rie mal leer ist und man allein sein will. Ist der Wunsch nach mehr Ein­sam­keit in unse­rer Gesell­schaft verpönt?

KAAS: Ja, abso­lut. Wobei ich glau­be, dass das Bewusst­sein für Intro­ver­tiert­heit immer mehr wächst. Zumin­dest wir Intro­ver­tier­ten ler­nen lang­sam, uns zu akzep­tie­ren und zu schät­zen. Aber in der Gesell­schaft als Gan­zes ist das noch nicht so ange­kom­men und könn­te wei­ter nor­ma­li­siert wer­den. Man muss sich bewusst machen, dass die­je­ni­gen, die es komisch fin­den, wenn man sich nach Ein­sam­keit sehnt, meis­tens schlicht­weg extro­ver­tier­te Men­schen sind. Intro­ver­tier­ten Men­schen fehlt dafür das Ver­ständ­nis. Den­noch eifern sie manch­mal die­sem gesell­schaft­li­chen Ide­al nach, weil sie gar nicht wis­sen, dass sie intro­ver­tiert sind und das okay ist.

MZEE​.com: Und den Extro­ver­tier­ten fehlt gleich­zei­tig das Ver­ständ­nis für ihre intro­ver­tier­ten Mitmenschen.

KAAS: Genau. Extro­ver­tier­te drü­cken sich eher nach außen hin aus und sind des­halb in der Gesell­schaft pro­mi­nen­ter wahr­nehm­bar. Dar­um geht es auf dem Song "Clown" auf mei­nem Album. Als intro­ver­tier­te Per­son hat man die­se Momen­te, in denen man still an einem Tisch sitzt und plötz­lich gefragt wird: "War­um sagst du denn nichts dazu?" Alle gucken einen an und der Alb­traum aller Intro­ver­tier­ten ist wie­der mal wahr gewor­den. Frü­her haben mir sol­che Momen­te das Gefühl gege­ben, dass ich komisch bin und es mein Feh­ler ist, dass ich gera­de nicht an einem Gespräch teil­neh­men kann. Das waren schmerz­haf­te Erfah­run­gen. Heut­zu­ta­ge weiß ich, dass ich nor­mal bin und die Hälf­te aller Men­schen intro­ver­tiert ist. Ich wür­de mitt­ler­wei­le ant­wor­ten: "Ach, ich bin intro­ver­tiert und höre gera­de ein­fach nur ger­ne eurem extro­ver­tier­ten Geplän­kel zu."

MZEE​.com: Möch­test du den­je­ni­gen unter unse­ren Leser:innen, die sich viel­leicht jetzt gera­de ein­sam füh­len, noch etwas mit auf den Weg geben?

KAAS: (über­legt) Wahr­schein­lich bin ich dafür der fal­sche Ansprech­part­ner, aber wenn du dar­un­ter lei­dest, ist es nichts, was du auf die leich­te Schul­ter neh­men soll­test. Hör in dich hin­ein und ver­su­che, her­aus­zu­fin­den, woher das Gefühl kommt. Und falls du fest­stellst, dass das Allein­sein für dich viel­leicht sogar etwas Gutes hat, gehörst du even­tu­ell auch zu den Intro­ver­tier­ten. Es ist okay, gern allein sein zu wol­len. Du kannst dich neu ken­nen­ler­nen und anfan­gen zu mögen, wie du bist. Wir sind ganz vie­le und du bist sicher­lich nicht die ein­zi­ge Per­son, der es so geht.

(Enri­co Gerharth)
(Fotos von Jan Wit­te­kindt und Meh­di Kenan)