Mortis – ein Gespräch über Leistungsdruck
Beinahe neun Jahre ist es her, dass der Rapper und Produzent Mortis zuletzt musikalisch auf sich aufmerksam machte. Auf die Veröffentlichung seiner ersten EP "Der Goldene Käfig" 2014 folgte noch im selben Jahr das Debütalbum "Hollywoodpsychose", das über das Label Showdown Records erschien. Seitdem verging beim Wahl-Berliner eine lange Zeit der Abstinenz vom Rap-Kosmos, während Fans auf neuen musikalischen Output verzichten mussten. Doch wie kam es zu dieser Pause? Mitte Februar 2023 meldet sich Mortis mit der ersten Single zum neuen Album "Memento Morti – Das verlorene Wochenende" zurück und wagt darin einen Rückblick auf die Zeit nach dem Release seines Debütalbums. So heißt es auf "Guter Tag" unter anderem: "Nach der Albumproduktion kam die Depression, manisch und antriebslos. Erster Vertrag und so, Label setzt Erwartung hoch. In die Charts und so, leider kam's nicht so." – Zeilen wie diese nahmen wir zum Anlass, um mit ihm über ein Thema zu sprechen, das vermutlich vielen Menschen bekannt vorkommt: Leistungsdruck. Im Interview erklärte Mortis, inwiefern dieser bei Musiker:innen zutage tritt, wie Leistungsdruck seinen eigenen Werdegang beeinflusst hat und welche Herausforderungen und Chancen das Dasein als selbstständiger Künstler mit sich bringt.
MZEE.com: In deinem Song "Guter Tag" beschreibst du, dass du nach deinem ersten Album "Hollywoodpsychose" in ein Loch aus Antriebslosigkeit sowie psychischen und finanziellen Problemen gefallen bist. Welche Rolle spielten dabei kommerzieller Leistungsdruck und hohe Erwartungen an deinen musikalischen Erfolg?
Mortis: Das muss man entlang des Zeitstrahls betrachten und eigentlich mit meiner EP "Der Goldene Käfig" beginnen, die noch vor "Hollywoodpsychose" rauskam. Das ist jetzt fast zehn Jahre her, ich war damals also ein bisschen jünger. HipHop war für mich bis zu diesem Punkt eher ein intimes Ding. Ich ging auf Jams und war generell überall unterwegs. Dann zog ich nach Berlin und hatte ein Jahr später einen Vertrag auf meinem Tisch. Dadurch passiert etwas in deinem Kopf. Plötzlich arbeiten Leute mit dir, weil sie Geld verdienen wollen. Währenddessen bist du selbst einfach nur froh, Anerkennung zu bekommen und die Möglichkeit zu haben, dich musikalisch zu verwirklichen. Letzten Endes ist das aber Kapitalismus. Die Leute aus der Musikindustrie wollen einfach Cash machen.
MZEE.com: Hattest du das Gefühl, zu einer Art Produkt zu werden?
Mortis: Ja, genau. Gleichzeitig will man das aber nicht wahrhaben. Du lebst trotzdem noch in deiner Blase aus Produzenten, Rappern und anderen Musikern und arbeitest kreativ. Psychologisch machen Labels das am Anfang sehr gut. Dir wird Honig ums Maul geschmiert, du bekommst Geld und die Aussicht auf Fame. Auf einmal kriegst du Interviewslots bei MTV oder überschwängliche Reviews. Wenn du, wie in meinem Fall, von einer Stadt wie Hannover nach Berlin ziehst, drehst du in dieser Phase ziemlich am Teller. Auf einmal hast du mit der Arbeit, die dir Spaß macht, ein gutes Einkommen und rennst damit durch die Stadt. Ich bin ziemlich schnell durch diese Stadt gerannt, würde ich sagen. (lacht) Aber am Anfang war da kein Leistungsdruck in dem Sinne, sondern einfach nur ein gestiegener Anspruch an mich.
MZEE.com: Wodurch wurde aus gewachsenem Anspruch später Leistungsdruck?
Mortis: Im Vergleich zu vorher hatte ich mehr finanzielle Mittel und die Studios und Künstler um mich herum, die nötig waren, um das zu verwirklichen, worauf ich all die Jahre hingearbeitet hatte. Mit solchen neuen Möglichkeiten verbessert sich dein eigenes Handwerk. Man muss dazu sagen, dass ich kein Dienstleister bin, sondern Musik für mich eine Leidenschaft ist, in der ich mich verwirklichen will. Deshalb steigt erst einmal der eigene Anspruch. Gleichzeitig hörst du von außen, wie groß du mal werden kannst. Leute setzen dir Ziele und reden von Dingen wie "hochskalieren". So wird daraus Leistungsdruck. Und dann merkst du, dass die Erwartungshaltung nicht erfüllt wird, was sehr schnell zu einer großen Enttäuschung führt. Du springst drei viertel des Jahres auf Partys und in Studios herum, hast keine Normalität mehr in deinem Leben und lebst in einer Blase, die sich auflöst. Aus der Enttäuschung entwickeln sich krasse Ängste, die sich wiederum in deiner Kunst niederschlagen und aus dem Ganzen wird eine Art Perpetuum mobile. In meinem Fall hat das in einer handfesten Depression geendet.
MZEE.com: Hattest du das Gefühl, neben der kommerziellen Seite auch Erwartungen deiner Freund:innen oder Familie an dich nicht gerecht werden zu können?
Mortis: Nein. Es war nicht so, dass mein privates Umfeld dahingehend etwas gesagt oder gefordert hätte. Ich hab' vorher schon über zehn Jahre lang Musik gemacht. Mit 18 bin ich aus meinem Dorf weggezogen und war dann lange mehr oder weniger erfolglos und arm. Das haben viele Leute mitbekommen, vor allem meine Familie. Die haben aber immer an mich geglaubt und sich gedacht: "Der Junge schafft das schon." Ich bin nun mal ein Lebenskünstler und schlage mich irgendwie durch. Ab dem Zeitpunkt, an dem ich in Berlin war und alles anfing, halbwegs zu funktionieren, waren die Leute eher stolz und haben gesagt: "Cool, endlich läuft es." Auf einmal gab es an Geburtstagen oder Weihnachten richtige Geschenke von mir und nicht nur etwas aus der Not heraus. Keiner musste sich mehr Gedanken um mich machen, ich habe nicht mehr nur 55 Kilo gewogen und hatte alles, was ich brauchte. Auch mein erweitertes Umfeld hat das wahrgenommen und sich gefreut. Natürlich hat es bei mir viel länger gedauert als bei anderen. Die meisten hatten längst ein Studium hinter sich und machten schon beruflich Karriere, als es bei mir erst langsam losging. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass manche mich sogar neidisch angeschaut haben, weil ich es in ihren Augen geschafft hatte, meinen Traum von früher letztlich zu leben. Das hat mich von anderen ein wenig abgegrenzt. Da ist mir aufgefallen, dass ich als Künstler auf eine gewisse Weise den Traum von vielen Leuten lebe. Wenn man das einmal checkt, entsteht auch eine Art von Erwartungshaltung an sich selbst. Man will diese Leute nicht hängen lassen.
MZEE.com: Bedeutet das, wenn Leute einen dafür beneiden, dass man seinen Traum leben kann, setzt das einen wiederum unter Druck, diese Möglichkeit möglichst gut zu nutzen und nicht zu verschwenden?
Mortis: Ja, total. Das ist alles so eine Wechselwirkung. Wenn man ein bisschen sensibel und empathisch durchs Leben geht, hinterlässt das alles etwas in einem. Ich glaube, einige Menschen, mit denen ich über die Jahre zu tun hatte, haben gemerkt, dass es vielleicht besser ist, in die Selbstständigkeit zu gehen, anstatt zehn Stunden täglich für sicheres Geld irgendwo zu sitzen, am Ende aber nichts mehr von seinem Leben zu haben. Man kann also auch Inspiration oder ein Beispiel für andere sein. Das ist immer noch sehr präsent in meinem Hinterkopf und auch ein guter Antrieb für mich, zu zeigen, dass es sich lohnt, hart für etwas zu kämpfen. Auch wenn das bedeutet, dass man für ein paar Jahre keinen sicheren Boden hat.
MZEE.com: Du hast erwähnt, dass mit wachsenden Möglichkeiten auch der Anspruch an sich selbst steigt. In "Was auch immer dich durch die Nacht bringt", einer Kurzgeschichte von Visa Vie über dich, heißt es, dass dir teilweise dein eigener Perfektionismus im Weg steht. Denkst du, dass du dir in der Vergangenheit einen Teil des Leistungsdrucks selbst auferlegt hast?
Mortis: Auf jeden Fall. Das merke ich auch jetzt gerade. Mein Album ist seit zwei Jahren gemastert und fertig. Der Weg dahin, sozusagen die Vorproduktion und das Schreiben, war eine Sache von drei Monaten. Das dauert nicht lange, aber dahin zu kommen, dass es sich anfühlt, wie es sich jetzt anfühlt, dauert länger. Von einigen Songs gibt es 20 bis 30 Versionen, das Album wurde fünf oder sechs mal gemischt. Das ist Perfektionismus. Den hat man eben in sich oder nicht. Mittlerweile ist mir aufgefallen, woher das bei mir kommt. Ich bin mein Leben lang davon ausgegangen, dass ich auf andere Menschen angewiesen bin, wenn ich Musik machen will. Vielleicht liegt das daran, dass ich noch aus einer anderen Zeit komme, aber ich dachte immer, damit ein Song wirklich fertig klingt, brauche ich Menschen, die daran mitarbeiten und dass dann alles auch noch gemischt und gemastert werden muss. Dafür wiederum brauche ich ein Budget. Man will schließlich nicht, dass alle ständig Freundschaftsdienste für einen leisten. Durch dieses Denken verliert man den Blick dafür, was man selbst tatsächlich kann. Mein Handwerk ist über die letzten 15 Jahre stetig gewachsen. Ich kann mich theoretisch jetzt hinsetzen und in einer Stunde etwas produzieren, aufnehmen und dafür sorgen, dass es am Ende passabel und besser als bei vielen anderen klingt. Na ja, vielleicht, ich will jetzt nicht zu arrogant sein. (lacht) Die Videos, die jetzt rauskamen, habe ich selbst geschnitten und auch meine Cover selbst gemacht. Bis vor zwei Monaten wusste ich nicht, wie das geht. Mit der Zeit lernt man, was in einem steckt und dass man sich darauf verlassen sollte. Viele Leute geben Sachen ab, die bei 90 Prozent sind und es fällt niemandem auf. Die letzten 10 Prozent sind dann die, womit man sich zwei Jahre lang aufhalten kann. Aber ist das sinnlos? Ich weiß es nicht. Diese Frage beschäftigt mich schon sehr lange, aber in letzter Zeit versuche ich, das auf die Seite zu schieben und einfach mehr zu machen. Das Album muss jetzt auch endlich von den Schultern und raus. Es ist so viel da, ich könnte auch noch nach Release alle zwei Wochen einen neuen Song rausbringen.
MZEE.com: Unter Druck kämpfen Rapper:innen in der Produktionsphase oft mit Schreibblockaden. Gilt das auch für dich?
Mortis: Was das angeht, bin ich ziemlich blessed. Wenn ich mal nicht schreiben kann, mache ich für fünf Minuten etwas anderes und habe schon wieder Lust darauf, weil es mir Spaß macht. Ich habe in den letzten Jahren viel Musik gemacht. Dabei sammelt man durchgehend Ideen und Skizzen. Ich starte also nie bei einem leeren Blatt Papier. Wenn doch mal eine Phase kommt, in der ich keinen Bock habe, schaue ich mir beispielsweise eine Doku über etwas an, das ich feiere. Das Universum gibt einem immer eine Inspiration, teilweise ist es fast schon ein Overload. Oft schreibe ich mir Fragmente heraus, wenn ich etwas lese oder höre, und vergesse am Ende, wo einzelne Zitate überhaupt herkamen. Auf dem Song "Geisterfahrer" rappe ich: "Statt Freiheit gib mir Feuer." Irgendwann hab' ich mich gefragt: "Wo ist das denn her? Kam das von mir?" Viel später habe ich "Stirb Langsam 2" geschaut und gemerkt, dass das Zitat aus einer Szene des Films stammt.
MZEE.com: Gerade kommst du von der Tour mit Swiss zurück. Konzerte sind ebenfalls mit einer Erwartungshaltung an dich als Musiker verknüpft, da die Besucher:innen davon ausgehen, dass du auf der Bühne funktionierst. Wie nimmst du diesen Leistungsdruck wahr?
Mortis: Damit komme ich gut zurecht, die Bühne ist mein Wohnzimmer. Du kannst mich aus dem Schlaf reißen und ich kann performen. Auf die Bühne zu gehen, bedeutet für mich, eine Stunde frei sein. Wenn dann spürt man eher in der Vorbereitung einer Tour Druck, weil man sich fragt: "Wird das so funktionieren?" Der Vorteil ist, dass du das nach ein bis zwei Auftritten schon siehst und dann Dinge justieren kannst. Ansonsten hab' ich da null Druck genauso wie beim Musikmachen selbst. Ich kann prokrastinieren und bin gleichzeitig produktiv. Wenn ich 50 andere Dinge zu tun hätte, baue ich stattdessen zehn Beats oder schreibe etwas.
MZEE.com: Wie unterscheidet sich das Leben als Künstler ansonsten von dem normaler Arbeitnehmer:innen, was Leistungsdruck angeht?
Mortis: Ich glaube, erst einmal spielt die Selbstständigkeit eine wichtige Rolle. Wenn du selbstständig bist, arbeitest du teilweise doppelt so viel. Du gibst deine Verantwortung nicht ab, indem du Feierabend machst und vielleicht ab und zu noch ein paar Überstunden reißt. Wenn du selbstständig bist und nicht funktionierst, hast du kein Geld. So einfach. Als Künstler musst du die Komponente Selbstständigkeit zusätzlich mit einer anderen verbinden: Kreativität. Die haben manche Menschen nur in bestimmten Phasen. Ich habe das Glück, dass ich Kreativität schon immer wie auf Knopfdruck abrufen kann. Ich kann meine Zeit in Beats bauen, Songs schreiben und andere Tätigkeiten aufteilen und habe so gut wie nie kreativen Stillstand. Wenn du als Musiker darüber hinaus noch kein Management hast, sondern alles komplett allein machst, dann musst du dir deine Zeiten für Kreativität schaffen. Das war früher anders bei mir. Da hatte ich einerseits meine Studiozeiten, andererseits auch noch viel Freizeit für ebenso viel Exzess. Auf diese Weise hat man viele Tage an das Wieder-fit-werden verloren. Heute habe ich mir meine Zeit besser aufgeteilt und mir fällt auf, wie kurz der Tag eigentlich ist. Ich stehe um 7 Uhr auf, mache Sachen, ein wenig Sport, denke, dass ich fast nichts geschafft habe und schon ist es 19 Uhr.
MZEE.com: Du bringst das Album "Memento Morti" allein und independent heraus. Inwiefern ist das in Bezug auf deine früheren Erfahrungen von Vorteil für dich?
Mortis: Der Vorteil ist, dass du nichts auf andere schieben und am Ende stolzer auf deine Leistung sein kannst. Außerdem bekommst du noch mehr Augenringe und alterst schneller. (lacht) Mir ist absurderweise aufgefallen, dass ich mit "Hollywoodpsychose" gewissermaßen alles, was danach passiert ist, prophezeit habe. Die letzten Worte des ersten Songs lauten: "Und ich mach' es wieder selbst." Ich kann das jedem empfehlen, weil es ein Test bezüglich des inneren Schweinehunds ist und man etwas über die eigenen Ressourcen lernt, psychisch wie physisch. Das macht das Ganze zu einem krassen Realitätscheck und gleichzeitig zu einem Lernprozess, was die zwischenmenschliche Ebene angeht. Vielleicht lernst du auch, dass du zu nett für den Scheiß bist und mehr Durchsetzungsvermögen brauchst. Das ist ein Thema, das mir selbst beispielsweise noch immer anhängt. In meinem Hinterkopf möchte ich immer, dass es sämtlichen Menschen gut geht und sich alle verstehen, dieser klassische HipHop-Gedanke eben. Das ist ein großer Teil meiner Persönlichkeit, aber dadurch vergisst man sich entweder selbst sehr oft oder andere vergessen einen.
MZEE.com: Auch wenn es speziell für dich kein so großes Problem zu sein scheint: Vergessen Fans und Öffentlichkeit auch manchmal, dass hinter einem:einer Künstler:in auch noch ein Mensch steckt, der:die nicht immer auf Knopfdruck abliefern kann?
Mortis: Ja. Natürlich gibt es große, traurige Beispiele wie Whitney Houston oder Amy Winehouse. Da arbeiten so viele Leute um einen Künstler drumherum und verdienen an ihm mit, ohne dass jemand mal hinter die Fassade blickt und merkt, wie sehr die Menschen teilweise am Arsch sind. Die Maschine funktioniert einfach so, aber im Kleinen kannst du das den Leuten nicht übel nehmen. Nicht jeder kann genug Empathie für Künstler entwickeln, da die meisten nur einen Eindruck aus Musikvideos und ein paar Interviews haben. Aber ich glaube, dass sich in den letzten Jahren einiges in Richtung Awareness tut. Allein dass das Interview, das wir gerade führen, unter dem Begriff "Leistungsdruck" steht, zeigt doch diese Entwicklung. Auch als Künstler oder öffentliche Person muss ich beispielsweise das Recht haben, auch mal "Nein" zu sagen, wenn jemand etwas von mir will und ich gerade keine Kapazität habe. So was ist in meinem Fall natürlich ein bisschen einfacher, weil ich nicht der größte Künstler der Welt bin.
MZEE.com: Heute steckt viel mehr Geld im Rapgeschäft als früher und die Industrie wird immer schnelllebiger. Hast du das Gefühl, dass in der Branche mehr Leistungsdruck und Wettbewerb denn je herrscht?
Mortis: Ja, voll. Ich erinnere mich noch, als vor ein paar Jahren der Chef eines Streaminganbieters gesagt hat, Künstler müssten in Zukunft zwei Alben pro Jahr veröffentlichen. Du bist heute vom Algorithmus abhängig. Wenn du selbstständig bist, musst du diese Maschine füttern. Das ist in meinen Augen nicht förderlich für Kreativität, weil nicht jeder ständig Musik rausschleudern kann. Musik lebt davon, dass Leute auch mal zwei bis drei Jahre daran kochen.
MZEE.com: Du sagst, dass du mit "Memento Morti" dem vermeintlich totgesagten Format Album wieder Leben einhauchen möchtest. Versuchst du bewusst, die Regeln der heutigen Industrie zu ignorieren und deine Kunst abseits davon zu machen?
Mortis: Ja, das ist schon etwas, das mir persönlich wichtig war. Dennoch spiele ich da trotzdem zu einem gewissen Grad mit und werde das auch in Zukunft tun. Ich bin niemand, der sich dem Ganzen komplett verwehrt. Über die Jahre habe ich die Mechanismen der Industrie und auch viele Leute darin kennengelernt. Nehmen wir mal Major-Artists als Beispiel. Die releasen im Schnitt sehr viel, weil sie mehrere Menschen um sich herum haben, die dafür sorgen, dass Musik gemacht wird. Teilweise müssen die nur noch ins Studio gehen und die Guidelines, die vorher aufgenommen wurden, einrappen. Ich weiß nicht, wie viel ein Artist überhaupt noch daran verdient, wenn man sieht, dass teilweise 20 Leute an einem Song beteiligt sind und wie viel das Label dann noch oben drauf bekommt. Dafür ist der Vertrieb heute sehr geldsparend, weil du nicht mehr CDs zu MediaMarkt und Co. schicken musst. Einige Künstler müssten gar nicht so viel releasen, weil sie sowieso in die relevanten Playlists kommen. Universal, Sony und Warner haben da das Vorrecht, weil sie den größten Katalog haben. Das sind alles Sachen, die ich für mich gelernt habe, weil ich anfangs gedacht habe, dass ich auch in diese Industrien rein muss. Das hat dazu beigetragen, dass es in den letzten Jahren so lange gedauert hat, bis ich mir gesagt habe: "Ok, ich mach's einfach selbst."
MZEE.com: Was muss geschehen, damit Mortis im Jahr 2023 zufrieden mit seinem Album ist und die eigene Leistung als Erfolg bewertet?
Mortis: Ich war sehr lange weg und mir ist klar, dass mein Album nicht sofort als das Großartige erkannt werden wird, für das ich es halte. Dafür brauchst du mehr Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass diese wächst, denn für mich ist es bereits seit zwei Jahren das Album des Jahres und wird das auch in fünf Jahren sein. Mit dieser Einstellung gehe ich an die Sache ran. Auf der Tour mit Swiss war ich Vorgruppe und konnte die Musik somit bereits Leuten vorspielen, die nicht wegen mir auf den Konzerten waren. Das hat jedes Mal super funktioniert, was eine krasse Bestätigung ist. Ich hoffe, dass eigene Auftritte dazukommen und erst einmal das Geld wieder eingespielt wird, das ich ins Album gesteckt habe. (lacht) Auch wenn es mir nicht primär darum geht, ist es natürlich schön, zu sehen, wenn die Leute einen nicht nur mit ein bis zwei Klicks, sondern mit Geld unterstützen. Ansonsten bin ich, um ehrlich zu sein, jetzt schon zufrieden. Ich habe mich für den Musikzirkus geöffnet, bin wieder da und habe viele weitere Ideen. Jetzt geht es darum, in Bewegung zu bleiben und einfach weiter Musik zu machen. Das macht mich glücklich.
(Enrico Gerharth)
(Fotos von Marius Sperlich)