Bei der Recherche zu diesem Interview über den Status quo der Veranstaltungsbranche wurde ich wehmütig, als ich auf die Startseite von Eventim schaute: Hier flimmerten die Promo-Plakate zahlloser Veranstaltungen über den Bildschirm. Guns N' Roses' oder Metallicas Europatournee, aber auch deutsche Acts wie Apache 207 oder Prinz Pi kann man nun nach drei langen Pandemie-Jahren endlich wieder live und ohne Einschränkungen genießen. Es wirkt, als würde die gesamte Veranstaltungsbranche kollektiv aufatmen – und als Konsument:in steht man vor der Qual der Wahl: Auf welches Konzert möchte man wann gehen und welches muss man aufgrund der vielen Möglichkeiten verpassen? Der einzige Wermutstropfen sind die Preise, die sofort ins Auge springen. Muss das denn so teuer sein?! Ja, leider, wie ich im Interview mit Anna Fröhlich, Veranstaltungsleiterin bei Polarkonzerte, und Steffen Krüger, Geschäftsführer und Betreiber des Skaters Palace in Münster, erfuhr. Die Gründe für die Preissteigerung sind vielschichtig und nur das erste Erkennungsmerkmal eines viel tieferen, strukturellen Problems in der Veranstaltungsbranche. Gemeinsam sprachen wir über die vergangenen Jahre und den Status quo einer Industrie, die immer noch größere Probleme hat, als es der erste Anschein vermittelt.
MZEE.com: Wir wollen heute über den Status quo der Veranstaltungsbranche sprechen. Könnt ihr kurz skizzieren, was die entscheidenden Schritte sind, die es braucht, damit man Künstler:innen live erleben kann? Was sind die wichtigsten Aufgaben von Veranstalter:innen oder Location-Betreiber:innen?
Anna Fröhlich: Zuerst bekomme ich "Themen", also Konzertreihen, Festivals, Comedy-Gigs und so weiter, von einer Booking-Agentur zugewiesen. Dann werden viele Dinge mit ebenjener Agentur abgesteckt: Ist das Thema eher für jüngere Leute oder eine ältere Zielgruppe? Welche Kapazität hat man sich vorgestellt? Was ist der Preis des Themas und handelt es sich dabei um ein reines Akustik-Duo, einen DJ, eine komplette Band oder wie ist der grobe Rahmen? Wenn diese Fragen geklärt sind, einigt man sich recht schnell auf eine Location, sagt "Yes, Skaters Palace in Münster, das ist der place to be!" und geht auf die Location mit dem abgesteckten Zeitrahmen der Tour zu, um Termine festzumachen. Dann bekommt man von dem:der Inhaber:in, hier also Steffen, hoffentlich schnell eine Antwort. (lacht)
Steffen Krüger: Genau! Im letzten halben Jahr war die sogar sehr schnell: Alles voll. (grinst) In der Regel gibt es dann einen Termin für den:die Veranstalter:in und man beginnt mit der Organisation. Rider (Anm. d Red.: "Rider" sind Anforderungslisten an jede Location, die für einen optimalen Ablauf erfüllt werden müssen) für Musik, Catering und Ähnliches werden bearbeitet … Es wird alles in die Wege geleitet, dass sich jeder bei uns entsprechend wohlfühlt.
Anna Fröhlich: Für mich ist im Zwischenschritt auch die Veröffentlichung wichtig. Wenn ein Thema kontingentiert ist, wir also wissen, wie viele Leute dabei sein können und die Preise kalkuliert sind, geben wir es in den Vorverkauf. Dann machen wir Werbung über Social Media, Plakatierung und weitere Möglichkeiten, bevor es in die Vorproduktion geht. Da kommt dann Steffen als Clubbetreiber wieder ins Spiel und idealerweise ist alles final, wenn der Veranstaltungstag vor der Tür steht.
MZEE.com: In vielen Fällen startet der Vorverkauf über große Ticketing-Websites wie Eventim oder Ticketmaster, die eine klare Monopolstellung in der Livebranche innehaben, speziell die CTS Eventim AG im deutschsprachigen Raum. Was machen solche Unternehmen genau und welchen Anteil haben sie an der deutschen Konzertkultur?
Anna Fröhlich: Ich kann von unserer Firma behaupten, dass wir ein ungebundener, freier Veranstalter aus München sind. Wir haben entsprechend auch keine Verträge mit großen Ticketsystemen, in denen wir uns verpflichten, den Vorverkauf über diese Portale einzurichten. Da kommt es auf Produktions- und Veranstaltungsseiten natürlich zu Mehrkosten, weil auch diese Unternehmen an Konzerten etwas verdienen müssen. Man kommt an diesem großen System recht schwer vorbei, auch wenn es mit Krasser Stoff oder Merchcowboy kleinere Systeme gibt, mit denen man versucht, dies auszugleichen. Das gestaltet sich natürlich sehr schwierig aufgrund der enormen Marktmacht dieser riesigen Konzerne. Dahinter stehen eben riesige und große Themen. Wir bekommen nicht die Chance, diese zu veranstalten, da sie an große Partner gebunden sind, was schon ein wenig ungerecht ist.
MZEE.com: Was genau meinst du mit den Ungerechtigkeiten, die deiner Meinung nach von diesen großen Firmen ausgehen?
Anna Fröhlich: Speziell diese beiden Firmen stehen hinter großen Festivals und haben die Mittel, dort international bekannte Acts für Headliner-Slots zu buchen. Dadurch entsteht eine Verbindlichkeit, mit der man auch eine komplette Tour für diese Künstler:innen veranstalten kann. Dabei arbeitet ein Konzern mit festen Partnern in den einzelnen Städten, die diese großen Themen für sie ausrichten dürfen. Damit einher geht der Irrglaube, dass ich immer Gewinn mache, wenn ich ein Konzert ausrichte. Wir sprechen hier von einem kommerziellen, wenig subventionierten Bereich, bei dem es sehr schwer ist, Gewinn zu erwirtschaften – vor allem ein Gewinn, der eine komplette Firma trägt. Das macht Sinn ab Kapazitäten von 1 500, mittlerweile eher 2 000 Tickets. Alles darunter ist finanziell gesehen irrelevant. Daher sind internationale Acts, wie die Foo Fighters, Machine Gun Kelly oder wie sie alle heißen, relevant. Dort entstehen die großen Gewinne. Wenn diese Acts aber allesamt bei den großen Konzernen bleiben, ist das ein Problem für kleinere Veranstalter:innen.
Steffen Krüger: Aus meiner Sicht sieht das noch mal etwas anders aus. Wir als Skaters Palace machen kaum noch eigene Veranstaltungen und jede:r Veranstalter:in, mit dem:der wir arbeiten, geht seinen eigenen Weg. Meine Meinung ist, dass für Gäste das beste Ergebnis erzielt werden muss – also der billigste Ticketpreis wird anvisiert, trotz einer möglichen Vorverkaufsgebühr. Das ist für mich als Venue-Betreiber aber gar nicht steuerbar und wir sehen auch viele verschiedene Herangehensweisen.
Anna Fröhlich: Das Problem ist auch, dass der oder die "unwissende" Kund:in auf Google nach Tickets sucht und dort zuallererst – neben Viagogo, aber das ist noch mal ein ganz anderes Thema (grinst) – beispielsweise CTS Eventim oder andere große Plattformen findet. Dabei könnte er:sie Tickets über die Band-Seite oder andere Optionen vielleicht sogar billiger kriegen. Das sehen wir ganz oft: Selbst wenn wir wie bei bekannten Pop- oder HipHop-Themen beispielsweise ein großes Kontingent über Krasser Stoff anbieten, kaufen die meisten weiterhin bei "den Großen" – obwohl die Tickets durch Buchungsgebühr und Versand weitaus teurer sind.
MZEE.com: Sind die Buchungsgebühren von eventim.de beispielsweise ein Grund, warum Ticketpreise in den letzten Jahren deutlich teurer wurden?
Steffen Krüger: Da gibt es viele weitere Gründe. Von der Venue aus muss man bedenken, dass der Mindestlohn angestiegen ist und die Energiekosten in die Höhe schnellen. Das sind echte Unsummen. Selbst eine normale Produktion oder gar Nightliner vor der Tür – das kannst du nicht mehr kompensieren. Brauereien haben die Preise ebenso angezogen. Um kostendeckend zu arbeiten, müsstest du das 0,3 Liter Bier für sechs Euro anbieten. Das bringst du als Gastronom:in nicht übers Herz. Ich habe gestern als Restaurantbesucher sechs Euro für eine Cola bezahlt, das tut weh. (lacht) Was ich damit sagen will: Du musst anders kalkulieren. Wenn du Gästen stattdessen zwei Euro mehr beim Ticketpreis zumutest, hast du als Veranstalter:in schon mal mehr Spielraum. Da muss man sich annähern, was der richtige Weg ist. Klar, alles wird teurer: Ein Supermarkteinkauf kostet nicht mehr 50 Euro, sondern 80. Den Inhalt des Wagens brauchst du aber. Ein Konzertticket ist ein Luxusgut, dessen Preis du dir, wenn er mal von 20 auf 30 Euro steigt, nicht leisten musst.
Anna Fröhlich: Von unserer Seite aus sind aktuell die vor Corona kalkulierten Shows das Hauptproblem. Viele Hallen und Venues sind nicht so kulant, zu sagen, ihr bekommt die vor der Pandemie verhandelten Preise. Es gibt kleinere Clubs, die sich das auch schlichtweg nicht leisten können. Da sitzt man erst mal auf den Mehrkosten. Von Tarifkosten für Security oder Sanitäter:innen ganz zu schweigen.
Steffen Krüger: Ich finde, wir sitzen hier alle im selben Boot: Es kann nicht die Lösung sein, dass die Venue alles an Mehrkosten schluckt. Genauso wenig können Veranstalter:innen oder Booker:innen dafür aufkommen. Gäste müssen da mit ins Boot springen. Für während Corona gebuchte Shows die neuen Preise gelten zu lassen, halte ich dahingehend für eine absolute Unmenschlichkeit. Das würde gar nicht meinem Naturell entsprechen. Ich möchte mit jemandem über Jahre gut zusammenarbeiten, also höre ich mir seine Probleme auch genau an und wir finden gemeinsam eine Lösung. Ich kann mir das doch auch nicht leisten – ich weiß aber, dass das für eine Übergangszeit gilt und hier müsste jeder mitziehen.
Anna Fröhlich: Da gibt es so viel Gesprächsbedarf zwischen Betreiber:innen, Agentur, Veranstalter:innen … Es gibt Agenturen, die es nicht einsehen, dass wir die Preise erhöhen müssen. Nach dem Motto: "Wir haben 2019 Preis XY vereinbart …" Ja, ok, dann bleiben wir dabei und du hast halt keine Heizung. (lacht) Da muss man dringend über die Probleme reden. Wir können nicht an der Abendkasse von jeder und jedem noch mal drei Euro abnehmen, das wird nicht passieren. Da müssten vielleicht eher staatlich subventionierte Clubs in die Bresche springen, damit andere Hallen nicht komplett pleitegehen, weil sie Shows zu alten Konditionen fahren.
MZEE.com: Das sind bekanntlich alles Nachwirkungen der Pandemie-Hochphase, in der gar keine oder nur wenige Konzerte mit hohen Einschränkungen stattfinden konnten. Springen wir doch mal chronologisch in den März 2020: Was war eure erste Reaktion auf den Lockdown? Und mit welchen Maßnahmen habt ihr versucht, euch über Wasser zu halten?
Steffen Krüger: Mein erster Gedanke war: Du hast einen Laden und der Kostenapparat muss sofort auf null geschraubt werden. Lockdown heißt für uns: alles ausmachen. Du rennst durch die Halle, machst Wasserhähne dicht, versiegelst Leitungen und Kabel und am nächsten Tag fallen dir die nächsten Dinge ein. Nach zwei Wochen atmest du das erste Mal wieder. Zu dem Zeitpunkt kommen deine Mitarbeitenden: Wir haben circa 60 Aushilfen, die erst mal kein Geld bekommen können. Wie hältst du dieses Team zusammen? Wir haben versucht, da schnellstmöglich zu reagieren – und das neben meinen Fixkosten. Ich habe eine Frau und drei Kinder. Mir ging der Arsch auf Grundeis. Feierabend. Und diese Feierabend-Situation hatte ich gerade eben wieder. Wir haben die letzten Monate abgerissen – beispielsweise mit 28 Shows im Oktober – und da rennst du wie mit Scheuklappen durch. Daher habe ich erst im Januar realisiert, dass all meine laufenden Verträge mit Zulieferungsunternehmen ausgelaufen sind. Mein Laden war auf Reset, einfach auf null.
Anna Fröhlich: Das ist ein wirklich tiefes Thema: Man kam in Situationen, über die man niemals vorher nachgedacht hätte. Ich wurde damals in Kurzarbeit geschickt, was die Frage aufwarf, wer überhaupt die ganzen Shows verlegt oder absagt. Wer sagt Kund:innen und Hallen Bescheid und vor allem: Wer geht ans Telefon? Es haben gefühlt Millionen von Menschen angerufen und wollten wissen, was mit ihrem 17,50 Euro-Ticket ist. Was weiß ich denn?! Nicht einmal die Regierung wusste, was Phase ist, woher dann ich? Und überhaupt: Wie geht es mit mir selbst weiter? Wie lange machen wir das mit? Anfangs haben wir Shows vom März 2020 in den Juni 2020 verschoben. Wie absurd rückblickend. (lacht) Dieses Jahr im November findet unsere letzte Show von den Corona-Verlegungen statt. Die wurde inzwischen vier Mal verschoben und wäre zu Beginn in einem Club gewesen, den es inzwischen nicht einmal mehr gibt! Viele Hallen gibt es nicht mehr. Viele Kontakte und Leute sind nicht mehr in der Branche, weil sie keinen Bock mehr hatten. Solo-Selbstständige, auf die du dich jahrelang verlassen konntest – alle weg. Mal abgesehen von der psychischen Lage. Bei dir, Steffen, ist das noch mal krasser mit drei Kindern und Frau, aber auch ich saß zu Hause und wusste nicht, wie es weitergeht. Meine Mama hat sich tierische Sorgen gemacht. All ihre Kinder arbeiten im Hotel-, Gastro- oder Konzertbereich. Sie hat uns zwischendrin gefragt, ob sie für uns kochen oder waschen soll. (lacht) Das ist ein wahnsinnig übles Gefühl – und für die Solo-Selbstständigen war es noch schlimmer. Die wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschieht. Plötzlich kamen dann Soforthilfen, die man aber nicht ausgeben durfte, weil sie nur für Betriebsausgaben gelten.
Steffen Krüger: Eben! Was haben Selbstständige denn für Betriebsausgaben? Die haben jetzt alle neues Werkzeug, aber nichts zu fressen.
Anna Fröhlich: Das ist wirklich übel. Wenn Freund:innen dir sagen, sie sind mit ihrem Konto 3.000 Euro im Minus und können die Miete nicht zahlen. In einem Sozialstaat im Jahr 2021. Das kann doch nicht sein.
Steffen Krüger: Schön waren da auch die Begegnungen mit anderen. Ich war in den Vorort gezogen und habe Lehrer als Nachbarn. Wir hatten ab und an eine "Zaun-Runde", ein gemütliches Bierchen mit zwei Metern Abstand zwischen den Familien genießen. Die erzählen uns da: "Eigentlich finden wir das total geil. Den ganzen Tag zu Hause bei voller Bezahlung. Jetzt können wir das Haus fertigmachen!" Da stehst du auch und denkst dir: Cool. Schön für dich. Ich gönn' dir das, aber lass uns über etwas anderes reden, sonst wird es emotional.
Anna Fröhlich: Meine Mutter wollte natürlich, dass ich nach der Schule studiere und "etwas Sinnvolles, was mit Medizin oder so" mache. Ich habe mich damals durchgesetzt. Ich habe gesagt, ich wolle etwas mit Konzerten machen und habe hart für diesen Traum gearbeitet. Und dann sitzt du da und … hm. Was erzählst du deiner Mutter dann? Wenn du keine Ahnung hast, wie es weitergehen soll. Ob es überhaupt weitergeht. Trotz aller Petitionen, der Lautstärke der gesamten Branche. Wir haben uns ignoriert gefühlt. Messen, Gastro- und Konzert-Branche – Millionen von Menschen, einfach ignoriert.
MZEE.com: Das ist ein Maß an Existenzangst, das man sich nicht vorstellen möchte. Ihr habt auch davon gesprochen, wie viele Leute diese Industrie deswegen verlassen haben. Hattet ihr auch Momente, in denen ihr aussteigen wolltet?
Anna Fröhlich: Man denkt darüber nach. Es gab Menschen im Umfeld, die dem psychischen Druck nicht standhalten konnten. Menschen, die gebrochen wurden und aus diesem Loch nicht mehr herauskommen. Wenn du diese Geschichten hörst, möchtest du nicht nur helfen, sondern es entsteht auch ein wahnsinniger Zusammenhalt. Man hat mit Leuten aus der Branche Kontakt gehalten und sich Mantra-artig gegenseitig vorgebetet, dass alles gut wird. Irgendwann geht es weiter. Dadurch wächst man aneinander und miteinander. Man erlebt Menschen, die mit so viel Herzblut und Leidenschaft dieser Arbeit nachgehen, und mit ihrem Zuspruch hältst du dich selbst in der Branche. Das Gefühl, nicht allein zu sein, war wichtig. Man hat sich Gründe gesucht, warum es weitergehen muss. Man musste sich an das geile Gefühl erinnern, in eine ausverkaufte Halle voller glücklicher Leute zu kommen und zu wissen: Man hat hieran einen Anteil. Ich kann mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass eine ganze Generation junger Menschen das nicht mehr erleben könnte. In Konzerte, in die all mein Herzblut, meine Kraft, meine Leidenschaft geflossen sind. Ich wollte das nie enden sehen. Das war mein Antrieb. Dass jeder wieder diesen inneren Frieden genießen kann, ein geiles Livekonzert mit Tausenden anderen Menschen zu erleben. Ein anderer Grund war die Zeit, die schon reingeflossen war. Natürlich war uns allen bewusst, dass es nie wieder wie vor der Pandemie wird. Mein persönliches Kryptonit-Thema diesbezüglich ist das Abschlusskonzert eines Solo-Künstlers, der im Laufe der Verschiebungen auch noch einen absurden Song passend zum Thema geschrieben hat. (lacht) Wir haben dieses Konzert vier Mal vorproduziert und verlegt, bis es im September stattfand. Als die Shows gelaufen waren, war ich auch völlig fertig. Solche Sisyphos-Aufgaben hatte jeder. Aufgaben, in die schon so wahnsinnig viel Arbeit reinfloss, dass du sie jetzt auch zu Ende bringen willst. Nach dem Motto: Das kann nicht alles umsonst gewesen sein.
Steffen Krüger: Für mich stand niemals im Raum, einfach aufzuhören. Was mich in der Branche hielt, war mein Team. Ich habe ihnen von Anfang an versprochen, dass es weitergeht. Ich habe Ende 2020, Anfang 2021 sogar ein sehr gutes Jobangebot im Event-Bereich bekommen, über das ich abends mit meiner Frau sprach. Sie meinte nur zu mir: "Denkst du da gerade wirklich drüber nach? Kannst du wirklich noch in den Spiegel schauen, wenn du das annimmst? Nachdem dein Team ein Jahr lang für dich da war und es jetzt an der Zeit wäre, für sie da zu sein?" Das war für mich die letzte Bestärkung, die ich brauchte. Da wusste ich: Ich kämpfe. Egal, wie lange es dauert, ich werde kämpfen. Zu sehen, wie mein Team funktioniert, wie glücklich Künstler:innen und Gäste in unserer Location sind – das gibst du nicht auf. Livekonzerte sind mein Leben. Kein Virus der Welt bringt mich aus der Branche raus.
Anna Fröhlich: Genau das ist es. Machen wir uns nichts vor: Der Job selbst ist stressig und scheiße. Du machst ihn, weil du all das liebst.
Steffen Krüger: Frag mal meine Frau, wie sie den Job findet. Die kotzt, während sie mir den Rücken stärkt. (alle lachen)
MZEE.com: Helene Fischer trat im August 2022 vor 130 000 Fans in München auf, ein Weltstar wie Ed Sheeran füllte wenige Wochen zuvor in der gleichen Stadt das Olympiastadion dreimal an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Als Außenstehender vermitteln solche Events ein Gefühl, als würde die Veranstaltungsbranche wieder aufatmen. Was ist die Realität und was sind die größten Probleme, denen ihr euch aktuell stellen müsst?
Steffen Krüger: Die Realität vom Konzertbusiness, wie sie 2019 aussah, gibt es schlichtweg noch gar nicht wieder. Im letzten halben Jahr gab es viele Shows, ja – aber die No-Show-Rate (Anm. d. Red.: Die No-Show-Rate beziffert die nicht erschienenen Personen in Abhängigkeit von der maximalen Teilnehmer:innenzahl) war jederzeit ein Thema, weil die Leute weiterhin Angst hatten, auf Veranstaltungen zu gehen. Beim Skaters Palace passen 1 500 Leute rein, wir sind von der Gastronomie abhängig – wenn dir 500 Leute fehlen, dann trägst du die Volllast der Kosten unter 60, maximal 70 Prozent der üblichen Einnahmen. Wirtschaftlich war das absolut nicht rosig.
Anna Fröhlich: Rückläufer-Tickets machten es auch nicht besser. Du kannst ja nicht pauschal einfach mehr Tickets verkaufen, weil du erwartest, dass sowieso nicht alle kommen. Was machst du denn, wenn es doch so weit ist? Das geht nicht. Viele Medien erzählen munter weiter, dass Tickets auch nach drei Jahren noch zurückgenommen werden müssen und der Verbraucherschutz kommt da keinen Millimeter auf uns zu oder passt Bedingungen an. Das ist eine Frechheit! Jedes Finanzamt würde dir auf den Tisch scheißen, wenn du ihnen sagst, dass du deine Steuern erst in drei Jahren abgeben kannst. An Produktionen und Kosten hängen Menschen, die kannst du nicht erst drei Jahre später bezahlen, wenn du das Geld sicher hast.
Steffen Krüger: Und mit dieser Unsicherheit kam auch der Moment, an dem einem alles egal wurde. Als der psychische Druck so groß wurde und man nicht mehr wollte. Irgendwann meinte ich zu meinem Team, dass ich sofort in eine pogende Masse Menschen springen will, auch wenn ich viel zu alt dafür bin. Ich möchte das einfach wieder können. (überlegt) Man, bei der ganzen Scheiße werde ich gerade wieder total emotional.
MZEE.com: Wir wollen hier nicht nur auf die letzten Jahre zurückblicken, sondern auch vorausschauen: Gibt es Entwicklungen in der Branche, die euch zuversichtlich in die Zukunft blicken lassen?
Anna Fröhlich: (überlegt) Ich denke, der Zusammenhalt in der Branche lässt einen auch positiv in die Zukunft blicken. Ich glaube aber, dass sich viele Dinge grundlegend ändern müssen, sonst wird es zunehmend schwerer. Die Kulturbranche ist ein Luxusgut, das immer teurer wird. Im Ballett oder Staatstheater ist es Gang und Gäbe, subventionierte Tickets anzubieten. Da kommt es darauf an, ob man für unsere Branche so was auch will. Sonst leiden beispielsweise Nachwuchskünstler:innen stark darunter. Für 20 Euro gehe ich gerne spontan auf das Konzert eines:einer Künstler:in, den:die ich eben im Radio gehört habe, aber für immer mehr Geld? Eher nicht.
Steffen Krüger: Das möchte ich genau so unterschreiben. Wenn der Staat diesen kulturellen Zweig nicht erkennt und fördert, bleibt der Aufpreis am Gast hängen und der Preis wird weiter steigen. Wir haben ein Café mit Platz für 350 Personen und die Bühne dort dient als Sprungbrett für Künstler:innen, die eben nicht als YouTube-Star bekannt werden. Das ist als Veranstalter:in wirtschaftlich längst nicht mehr darstellbar und wird wegbrechen, wenn nichts geändert wird.
MZEE.com: Ehrlich gesagt fand ich eure Beschreibung davon, was euch im Job hält, zu schön, um nicht noch mal darüber sprechen zu wollen. Daher meine Abschlussfrage: Was sind die prägendsten Erlebnisse, die ihr ohne euren Job vielleicht nie miterlebt hättet?
Anna Fröhlich: Ich war letztes Jahr in der Situation, dass meine Vorgängerin kündigte und ich plötzlich Dinge zu tun hatte, die vorher nie Teil meiner Arbeit waren. In der Vorbereitung zu einem der größeren Konzerte fiel der Satz: "Wenn du es nicht alleine schaffst, dann such dir jemanden, der dich da unterstützt." Das hat mich wahnsinnig getriggert. Ich bin zu weit gekommen, um das jetzt abzugeben. Das hat mich noch mal so sehr gepusht, weil ich dieses Thema, welches mich durch die Pandemie begleitete, durchziehen wollte. Als das Konzert vorbei war, habe ich mich einfach nur wahnsinnig gut gefühlt. Ich habe noch nie so viel alleine gestemmt wie im vergangenen Jahr und der Stolz, das zu schaffen, hat meinen Ehrgeiz stark geweckt. Nach dem Motto: "Was soll jetzt noch kommen? Was wollt ihr noch?" (lacht)
MZEE.com: Der HipHop-Moment! Jetzt erst recht!
Steffen Krüger: (lacht auch) Gut gemacht hast du das! Spontan komme ich selbst immer wieder auf die Momente mit meinem Team zurück. Wir arbeiten dann, wenn andere Spaß haben, und zeitlich bedingt kommt es da immer wieder zu Extremsituationen. Da steht plötzlich dein Azubi vor dir, der das ganze Team motiviert. Das habe ich noch nie erlebt. Diese Momente haben mich immer schon weitermachen lassen.
(Sven Aumiller)
(Foto Steffen Krüger von Joachim Hendrich)