Es ist ein schwerwiegendes Thema im Bereich der Gesundheit: Mobbing. Sowohl physische als auch psychische Gewalt werden darin eingeschlossen, wobei die Attackierten dabei oftmals im Kindes- oder Jugendalter sind. Der Deutsche Bundestag meldete 2018 auf Basis einer PISA-Studie, dass 16 Prozent der Schüler:innen in Deutschland im Alter von 15 Jahren bereits unter Mobbing gelitten hatten. Auch im digitalen Raum findet die Schikane zunehmend statt. In einer Studie der Techniker Krankenkasse und des Bündnisses gegen Cybermobbing vom Oktober 2022 gab jede:r fünfte Schüler:in zwischen 8 und 21 Jahren an, dass Bullies ihn:sie bereits attackiert hätten. Der Rapper HeXer aus Leipzig ist der Meinung, dass die Öffentlichkeit insbesondere das Thema Cybermobbing lange Zeit vernachlässigt hat. Auch ihn griffen Mitschüler während seiner Zeit im Thomanerchor (Anm. d. Red.: traditioneller Knabenchor aus Leipzig) immer wieder verbal an. Auf seiner EP "Selbsttherapie" rappt er offen über seine Erfahrungen, die von Leistungsdruck und hierarchischem Denken im Internat des Chors geprägt sind. Wie ihm HipHop geholfen hat, die psychischen Wunden zu heilen, erzählte er in unserem Interview.
MZEE.com: Du rappst auf deinem Song "Maske" explizit über Mobbing. Wie definierst du das?
HeXer: Das ist eine Frage, die ich mir schon oft gestellt habe. Mir ist es früher schwergefallen, Mobbing zu beschreiben und darüber zu sprechen, weil es nie so gewesen ist, dass mich jemand großartig körperlich angegriffen hat. Es war also kein Worst Case mit Verletzungen, in dem man offensichtlich sagen konnte: Das ist eindeutig Mobbing. Aber es gibt ja verschiedene Level, auch weniger offensichtliche Fälle. Ich denke, dass das immer mit Hierarchien zu tun hat: "Wer gehört zu den Coolen und wer nicht?"
MZEE.com: Beim Mobbing ist Gruppenzwang unabhängig vom Alter ein großer Faktor. Menschen schließen sich aufgrund eines Erwartungsdruck der Peer Group – du hast sie "die Coolen" genannt – an.
HeXer: Ja, Mitläufer, die in irgendeiner Form Angst verloren haben, weil die Coolen sich darauf geeinigt haben, dass es okay ist, die eigenen Launen und den eigenen Frust an anderen Menschen auszulassen. Da gehen auch Individualität und Diversität ein Stück weit verloren.
MZEE.com: Kannst du dir rückblickend erklären, warum die Mobber dich damals attackierten?
HeXer: Ich glaube, dass ich mich nicht gewehrt habe. Ich reagiere eher freundlich und unsicher, stelle mich oft infrage. Wenn mir jemand gesagt hat, wie ich zu sein habe und was ich zu tun oder zu lassen hatte, habe ich überlegt, ob das stimmen könnte. Erst später konnte ich genauer sagen, wer ich bin. Und die Täter merken, wenn man sensibel reagiert. Besser wäre wahrscheinlich gewesen, das zu ignorieren. Das konnte ich nicht. Das entwickelt sich offenbar erst mit zunehmendem Alter, denke ich.
MZEE.com: War es schwierig für dich, deine Mitmenschen um Hilfe zu bitten?
HeXer: Bei mir war es ja so: Ich wusste, dass ich nicht der Beliebteste bin, aber ich habe mich damals mit zehn, elf, zwölf Jahren nicht als Mobbingopfer wahrgenommen. Vieles habe ich auch einfach ausgeblendet, einiges weiß ich nicht mehr. Später kamen eher Leute auf mich zu, die gesagt haben: "Ey, das war scheiße, was wir da mit dir gemacht haben."
MZEE.com: Als Kind warst du Teil des berühmten Thomanerchors in Leipzig. Im dazugehörigen Internat warst du früh hohem Anforderungsdruck ausgesetzt. Fördert ein sehr leistungsorientiertes Umfeld deiner Meinung nach Mobbing unter Kindern?
HeXer: Hundertprozentig. Allen voran war es ein reines Jungeninternat. Der Thomanerchor ist eben ein Knabenchor. Wir hingen den ganzen Tag aufeinander rum. In der Schule gab es zu meiner Zeit gesonderte Klassen für Chorknaben, im Internat haben wir die Freizeit verbracht und auch geschlafen. Ich durfte nur einen Nachmittag in der Woche und an den Wochenenden nach Hause, obwohl meine Mutter bereit gewesen wäre, mich jeden Tag abzuholen.
MZEE.com: Warum haben die Verantwortlichen das nicht erlaubt?
HeXer: Die Begründung war damals, dass das nicht gut für die Integration in die Gruppe sei. Das hatte aber zur Folge: Wenn du gemobbt wurdest, hattest du nicht wie andere Kinder außerhalb der Schule dein Zuhause als Basis, sondern warst weiter mit den Mobbern auf engem Raum. Und es gab Ranglisten: die besten 16, die besten 30 und so weiter. Je besser, desto angesagter warst du natürlich. Die Besten durften dann zu Auftritten auf Hochzeiten fahren und dort schick essen oder mal auf Reisen mitkommen. Das ist anders als in einer normalen Schulklasse: Die fährt gemeinsam los, weil dort Zusammenarbeit gefördert werden soll. Aus der Thomanerklasse sind nur die gefahren, die entsprechende Leistungen abgeliefert haben.
MZEE.com: Denkst du, dass es anders gewesen wäre, wenn nicht nur Jungs dabei gewesen wären?
HeXer: Bestimmt. Das habe ich vorhin andeuten wollen, als ich gesagt habe: reiner Knabenchor. Ich kann verstehen, wenn sich Verantwortliche für das Projekt Chor auf ein Geschlecht festlegen. Ein Knabenchor hat qualitativ einen ganz anderen Klang als ein gemischter. Die Jungs in meiner Klasse waren aber dafür alle sehr steif gegenüber Mädchen beispielsweise, weil sie eben in der Freizeit nur mit Jungs zu tun hatten oder mit denen gesungen haben. Irgendwann im achten Jahrgang habe ich die Klasse gewechselt und so richtig festgestellt, dass Jungs und Mädchen miteinander abhängen können. Das war alles etwas entspannter.
MZEE.com: Wenn du auf deine Zeit im Internat zurückblickst: Welche Verantwortung tragen beim Thema Mobbing die Mitmenschen von Familie und Freund:innen über Lehrer:innen bis hin zu denjenigen, die Attacken unmittelbar miterleben?
HeXer: Die Betreuer hatten eine große Verantwortung, aber viel lag auch bei den Älteren bis zur zwölften Klasse. Es gab im Internat neun Stuben à zehn Jungs aus den verschiedenen Jahrgängen. Jede Stube war für sich und hatte einen eigenen Stubenführer, dem wurde dementsprechend Verantwortung überlassen. Aber so richtig gejuckt hat es von den Älteren eigentlich niemanden, wenn ein Junge fertiggemacht wurde.
MZEE.com: Niemand ist eingeschritten?
HeXer: In extremen körperlichen Vorfällen am Internat wurde schon schnell gehandelt. Einmal hatte einer einem anderen Jungen den Arm gebrochen, der flog direkt raus. Deswegen lief im Thomanerchor sehr viel verbal und unterschwellig ab. Und weil du eben dauernd Zeit zusammen verbracht hast, hat es das Mobbing, denke ich, so effektiv gemacht.
MZEE.com: Es gibt Vereine wie "Cybermobbing-Hilfe e. V.", die das zu einem Straftatbestand machen wollen, oder "Mobbt-die-Mobber", die Erste Hilfe für Mobbing-Betroffene versprechen. Wird deiner Meinung nach öffentlich ausreichend über Mobbing gesprochen, aufgeklärt und nach Maßnahmen gesucht, um dem entgegenzuwirken?
HeXer: Mobbing wird in der Gesellschaft ja nicht zugelassen, denke ich. Man arbeitet viel dagegen an oder versucht es. In der Öffentlichkeit wird immer betont: Mobbing ist schlecht. Niemand sagt das Gegenteil. Es findet doch keiner, dass das Hierarchiedenken gut ist. Es existiert trotzdem. Möglicherweise sollte das Thema ab und zu auf den Mobber ausgerichtet werden, der ebenfalls Opfer der Gesellschaft ist. Sprich: mit Opfern und Mobbern öffentlich sprechen. Was definitiv zu lange außen vor gelassen worden ist, ist Cybermobbing.
MZEE.com: Inwiefern?
HeXer: Viele sind auf dem Gebiet inkompetent. Cybermobbing rückt jetzt erst nach und nach in den Fokus, die strafrechtliche Verfolgung im Internet ist noch im Wandel. Damit das möglich ist, müsste ja deine ID mit deinem Usernamen kombiniert werden. Durch diese Transparenz bringt man vielleicht mehr Freiheit und Sicherheit ins Netz, um gegen Cybermobbing, das ja sehr unkontrolliert ist, anzugehen. Also, die Gesellschaft unternimmt etwas, aber irgendwie auch nicht. Doppelmoral eben.
MZEE.com: Wie steht es um Seelsorgehotlines?
HeXer: Bei den Kummernummern ist das Problem, dass die bei den Kiddies uncool sind. Es ist uncool, anzurufen, weil du zugeben musst, dass du gemobbt wirst. Trotzdem finde ich es gut, dass es diese Möglichkeit gibt. Der Weg andersherum wäre aber vielleicht besser: Menschen gehen auf die Opfer zu und suchen den Kontakt. Nur, wie willst du das umsetzen?
MZEE.com: Als Musiker bist du eine Person des öffentlichen Lebens. Empfindest du es als eine Form von Cybermobbing, wenn du in den sozialen Medien mit Hassnachrichten von der immer gleichen Person konfrontiert wirst?
HeXer: Es ist die Frage, wie man es aufnimmt. Wenn mich das stören oder ich daran zugrunde gehen würde, könnte man das als Cybermobbing bezeichnen. Dadurch, dass es mich als Person nicht juckt, eher nicht. Wenn du nur positives Feedback kriegst, machst du auch etwas falsch. Kritik zeigt, dass meine Entwicklung aneckt. Vor allem, wenn sich die negativen Nachrichten auf Rap beziehen. Dann betreffen die zwar einen Teil meiner Persönlichkeit, sind aber nicht gegen mich als Person gerichtet. Ich habe Vertrauen in meinen raptechnischen Standard und weiß, dass der gut ist. Daher freue ich mich gerade über ein bisschen Hate und amüsiere mich.
MZEE.com: Du würdest also in einer Folge "Disslike" rumsitzen und schmunzeln?
HeXer: Ich finde es lustig, wenn Leute schreiben, wer was wie falsch macht. Aber das ist natürlich auch ein Anreiz. Vielleicht schreibe ich dadurch dann die ein oder andere Zeile mehr oder besser.
MZEE.com: Bist du selbst schon einmal Täter gewesen?
HeXer: Im Battlerap bin ich irgendwie zum Täter geworden, aber in einem kompetitiven Bereich, in dem alle damit fein waren. Man hat sich für kurze, begrenzte Zeit auf künstlerische Art und Weise zerstört und sich anschließend Props gegeben. Das war das Schöne daran.
MZEE.com: Auf der EP "Selbsttherapie" verzichtest du auf Punchlines. War das Absicht?
HeXer: Das war sehr bewusst. Lediglich im Track "Rückfall", deswegen habe ich den so genannt, mache ich eine Person für vieles verantwortlich. Einige haben mir geschrieben, dass die EP ihnen geholfen hat. Aber das kann ich nicht ganz annehmen, weil es auf "Selbsttherapie" um mich ging. Die Motivation für die EP war sehr egoistisch. Aber mir fällt auf, wenn ich Tracks schreibe, in denen ich mir eine schlechte Eigenschaft als Feindbild suche, dass es darin auch um mich geht. Ich stelle oft fest, dass die schlechten Eigenschaften zum Teil genauso in mir stecken, wenn ich die Texte reflektiere.
MZEE.com: Du rappst auf der EP, speziell auf dem Track "Maske", über die tiefe symbolische Narbe im Selbstbewusstsein, die das Mobbing hinterlassen hat. Hat dir Rap dabei geholfen, etwas davon wiederzuholen?
HeXer: Absurderweise habe ich im Battlerap viel über mich gelernt. Es war eine Welt, in der ich mal sagen konnte: Ich bin der Coolste. Am Ende war nicht bloß die Musik. Ich kam mit 14 in eine andere Klasse auf dem Gymnasium, sodass sich die Leute um mich herum änderten. Dass ich in einer Stadt wie Leipzig gelebt habe, war von Vorteil, denke ich. In einem Dorf gibt es nur eine Schule, einen Sportverein und so weiter.
MZEE.com: "I know everything he's 'bout to say against me: I am a white guy, I am a fuckin' bumb. I do live in a trailer with my mom." – Eminem verarbeitet in seinem finalen Battle im Film "8 Mile" gegen Papa Doc unter anderem Mobbing. Ist HipHop prädestiniert für Musiker:innen, die derartige Erfahrungen gemacht haben?
HeXer: Es ist eine interessante Frage, ob du, wenn du ein Außenseiter bist, oft eine künstlerische Ader hast, weil du weniger der Norm entsprochen hast. Ich kann mir das schon grundsätzlich vorstellen. Da geht es um Durchhaltevermögen und Leidenschaft. Und es gibt natürlich den Antrieb, besser zu werden. Ich konnte mir in einem Wettbewerb quasi holen, was ich verdient habe. Auch wenn der Ehrgeiz sicherlich nicht immer ausschließlich positiv ist.
MZEE.com: Zum Abschluss würden wir gerne wissen, welche Rolle Einsicht, Entschuldigungen und Verzeihen deiner Meinung beim Thema Mobbing nach spielen.
HeXer: Eine wichtige Rolle. Vor allem die Einsicht, dass man nicht nur Täter war, sondern auch Opfer. Aber ich denke, dass die Einsicht des Opfers eher kommt als die des Täters. Sie ist wie Vergebung das Richtige, nur sollte das zum passenden Zeitpunkt geschehen. Insbesondere, wenn man über die Vorfälle spricht, klärt das einiges im Kopf. Natürlich gibt es Menschen, die nicht vergeben können. Mir hat letztlich die Zustimmung, das gewonnene Selbstbewusstsein dabei geholfen, dass mir das heute leicht fällt.
(Elias Fischer & Malin Teegen)