An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Simon mit dem kürzlich erschienenen ZEIT-Artikel über Kolja Goldstein auseinander.
Vor gar nicht so langer Zeit hatte ich schon mal über Kolja Goldstein geschrieben. Angstvoll bibbernd blickte ich in eine dunkle Zukunft für HipHop-Journalismus. Die Befürchtung war, dass die (ohnehin schon viel zu seltenen) kritischen Interviews mit Rapper:innen weiter abnehmen, da einem nur noch waschechte, gewalttätige Schwerverbrecher:innen gegenübersitzen. Wie weist man einen Kolja Goldstein im lockeren YouTube-Talk auf problematische Texte hin, wenn man diesem ohne weiteres Mord und Folter zutraut? Ein absolut lesenswerter ZEIT-Artikel scheint diese Bedenken in Teilen auszuräumen. Die Autoren unterziehen den Lebenslauf des Rappers einem klassischen Reality-Check und gehen einfach mal den einzelnen Stationen des Goldsteinschen Weges nach. Dabei beziehen sie sich vor allem auf Aussagen von Kolja, die dieser im Interview-Format "Besuchszeit" vom YouTube-Kanal "26mintv" macht. Sie überprüfen, ob er wirklich dort geboren wurde, wo er es behauptet. Ob er wirklich überall dort eingesessen hat, wo er sagt, dass er eingesessen hat, und ob er mit den Verbrechen in Verbindung gebracht werden kann, mit denen er sich selbst in Verbindung bringt. Die Ergebnisse müssen auf alle, die den Wahlholländer für seine Echtheit gefeiert haben, absolut ernüchternd wirken: Der Artikel suggeriert, dass Kolja Goldsteins größte kriminelle Leistung jahrelange ausgiebige Hochstapelei ist. Bis auf Drogendeals, die weit entfernt von den Mengen sind, mit denen er sich regelmäßig brüstet, scheint nicht viel übrig zu bleiben vom gepflegten Gangsterimage. Außer der Zusammenarbeit mit der Polizei natürlich. Die scheint ja immer irgendwie dazuzugehören.
Jetzt könnte man es sich schön einfach machen, den Rapper als weiteren Fugazi abstempeln und darauf hoffen, dass der:die nächste echte Gangsterrapper:in wirklich genau so ein:e echte:r Gangsterrapper:in ist, wie man es sich immer erträumt hat. Oder die Gelegenheit wird genutzt, um anhand dieses Beispiels darüber zu sprechen, wie unsäglich vereinfacht diese ganze Authentizitätsdebatte in der Szene seit Jahren geführt wird, ohne dass man irgendwo weiterzukommen scheint.
Das Spiel scheint sich in Songs und Interviews immer zu wiederholen: Niemand sagt die Wahrheit außer einem selbst, ist so krass wie man selbst und man ist auch jederzeit bereit, das allen zu beweisen. Kolja Goldstein ist derjenige, der dieses Game einfach auf die Spitze getrieben hat. Seine Songs sind gespickt mit Verweisen auf echte Morde, echte Verbrecher:innen, existierende Bandenstrukturen und so weiter. Wer will da noch widersprechen? So genau kann sich damit eigentlich nur jemand auskennen, der:die selbst aktive:r Schwerstkriminelle:r ist, sich im entsprechenden Umfeld bewegt oder sehr viele Dokus schaut. Wenn man vor dem ZEIT-Artikel immer geglaubt hat, Kolja sei so ein Krimineller, scheint er nun eher eine Mischung aus den beiden anderen Punkten zu sein. Der Rapper hat also in Teilen gelogen, was seinen Werdegang betrifft, um krasser zu wirken. So wie Bushido, nur weniger weit weg vom tatsächlichen Charakter. So wie Kollegah, nur mit Bezug auf realistische Ereignisse. Die Frage, die sich jetzt für die geneigten Hörer:innen stellt, ist doch folgende: Wird die Musik dadurch weniger authentisch, weniger spannend?
Lässt man nur die Songs sprechen, muss man sich nicht an den Enthüllungen im Artikel stören. Die Geschichten, die erzählt werden, sind ja echt, man kann sich in die Situationen hineinversetzen und sie eröffnen Perspektiven, die man vorher so nicht hatte. Noch nie zuvor wurde so detailliert und gut von Säuremorden und Deals mit Kartellen gerappt. Bei wie vielen dieser Geschichten Kolja selbst aktiv dabei war oder nicht, ändert nichts an der Art und Weise, wie diese erzählt werden. Natürlich ist es ärgerlich, wenn Künstler:innen so tun, als würden sie persönlichste Dinge rappen, die am Ende gar nicht stimmen. Das ist aber bei Kolja Goldstein kaum der Fall. Es gibt nur sehr wenige Zeilen, in denen der Rapper über Dinge außerhalb vom harten Business auf der Straße spricht. Für seine Räuberpistolen reicht es, wenn das Gefühl und die Stimmung so rüberkommen, dass man sich vorstellen kann, dass alles genau so passiert ist. Die Möglichkeiten, die Künstler:innen in diesem Spannungsfeld zwischen Übertreibung und historischer Genauigkeit haben, unterscheiden Kunst und insbesondere Rap von einer Doku.
Allerdings geht das Bild, das man sich von Künstler:innen macht, schon lange über die reinen Inhalte ihrer Kunst hinaus. Gerade bei Kolja lässt sich das gut beobachten. Ein großer Teil der Faszination, die der Rapper auf andere ausübt, basiert auf seinen Videos, die der Artist postet, und den Aussagen, die er in Interviews trifft. In diesem Kontext verlässt der Rapper aber seine Kunstfigur und suggeriert so, dass zwischen Song und Realität kein Unterschied besteht. Damit wird aus der Räuberpistole ein Auszug aus der Biographie. Und wenn davon nichts der Wahrheit entspricht, dann ist der Rapper kein guter Geschichtenerzähler, sondern ein Hochstapler. Er bedient sich nicht nur an den Erfahrungen anderer, um die Geschichten zu erzählen, er beansprucht sie für sich. Quasi der gleiche Unterschied wie zwischen Biten und einer Hommage. Diese Grenzen zwischen dem einen und dem anderen sind zugegeben selten eindeutig und nur wenige schaffen es, hier die Balance zu halten. Ein Beispiel, bei dem das gelingt, ist "Mann beißt Hund" von OG Keemo. Auch hier könnte alles genau so passiert sein, wie auf dem Album erzählt. Es bleibt aber bewusst nebulös, was der Authentizität jedoch keinen Abbruch tut.
Als Konklusion mag das nicht alle zufriedenstellen. Für manche wird inzwischen vollkommen egal sein, was stimmt und was erfunden ist – Hauptsache, es klingt gut. Andere werden mit Sicherheit darauf hoffen, dass irgendwann einer kommt, der nur das und genau das rappt, was in seinen Akten bei der Polizei geschrieben steht. Natürlich könnte man dann auch einfach den ganzen Tag Polizeiberichte lesen. Ob die Musik einem im jeweiligen Szenario mehr gibt, lässt sich nicht sagen. Wenn jemand 15 Jahre im Gefängnis saß, aber nur erzählen kann, dass das Essen nicht lecker und die Aussicht trist war, dann mag das auf echten Erfahrungen beruhen, ist aber nicht authentisch. Das Gleiche kann nämlich jede Person ohne jede Knasterfahrung auch schreiben, wenn sie einen halben Film zur Thematik gesehen hat. Wenn aber jemand, der nur Knastfilme gesehen hat, sein ganzes Künstlerdasein damit füllt, eingesessen zu haben, geht das ebenso schief. Damit wird eine Figur geschaffen, die auf kurz oder lang unweigerlich an den damit verknüpften (eigenen) Erwartungen an ihr Verhalten zerbrechen muss. Fragt mal Bushido. Für Kolja Goldstein bleibt zu hoffen, dass er sich als Künstler findet. Rappen kann er ja und spannende Geschichten hat er auch zu erzählen. Dafür muss man auch gar nicht so tun, als sei man im echten Leben Pablo Escobar und der Punisher in einer Person.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)