An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen. Die jeweils dargestellte Meinung ist die des:der Autor:in und entspricht nicht zwangsläufig der der gesamten Redaktion – dennoch möchten wir auch Einzelstimmen Raum geben.
Im Folgenden setzt sich unser Redakteur Simon mit der zunehmenden Kommerzialisierung von HipHop in Deutschland auseinander.
Capital macht Pizza und Eistee, Haftbefehl jetzt auch Eistee, genauso wie Shirin David. Shishatabak, CBD und Tattoostudios gibt es auch von jedem zweiten Artist. Man kann es kaum erwarten, dass Cannabis legalisiert wird. "Vom Bordstein zur Skyline Kush" und "Bilder im Kopf Haze" sind wahrscheinlich schon in den Startlöchern. Die ganzen Beispiele zeigen: Deutschrap-Künstler:innen diversifizieren ihre Portfolios und stellen sich breiter auf. Sie vertrauen also nicht mehr nur auf Streams, Plattenverkäufe und Konzerteinnahmen, um ein für sie adäquates Vermögen anzuhäufen. Mit Sicherheit haben die Corona-Pandemie und die damit weggefallenen Touren und Festivals dazu beigetragen, diesen Prozess zu beschleunigen. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit, in der Rapper:innen in neue Geschäftszweige investieren, ist dennoch bemerkenswert.
Das Phänomen an sich ist jedoch kein neues. Spätestens seit den 2000ern gab und gibt es kaum einen – vor allem amerikanischen – Popstar, der nicht mindestens ein eigenes Parfüm oder ein eigenes Modelabel mehr oder weniger erfolgreich zu etablieren versucht hat. Mindestens genauso lange gibt es Realkeeper und Ewiggestrige, für die solche Geschäfte ein Verrat an einer irgendwie definierten "Kultur" sind. Doch was genau ist eigentlich das Problem daran, dass diese Leute versuchen, auf möglichst vielen Wegen reich zu werden? Der Vorwurf des musikalischen "Sellouts" zieht hier zunächst mal nicht, denn inwiefern kompromittiert es die musikalische Vision, wenn nebenher noch ein Eiscafé eröffnet wird? Auch dieser diffusen HipHop-Kultur wird ja nicht dadurch geschadet, dass es Pizza mit dem Konterfei eines Rappers darauf in jedem REWE zu kaufen gibt. Im Gegenteil, man könnte dem Ganzen ein geradezu empowerndes Moment zusprechen. Vor allem Mitglieder gesellschaftlich marginalisierter Gruppen erarbeiten sich Möglichkeiten einer größeren wirtschaftlichen Teilhabe. Alter weißer Mann, wer was dagegen hat.
Um eine vernünftige Kritik an dieser Entwicklung vornehmen zu können, muss die identitätspolitische und individualisierte Ebene ein Stück weit verlassen und der gesamtgesellschaftliche Kontext, in dem das Ganze passiert, betrachtet werden. Subkulturen im Allgemeinen und gerade HipHop im Speziellen haben immer den eigenen Anspruch, etwas Rebellisches, Gegenkulturartiges zu sein. Da geht es um die Jungen, die sich gegen die Alten auflehnen, die Individualist:innen, die sich gegen das Einengen wehren. Immer unterschwellig und bei HipHop in der Regel expliziter als anderswo geht es auch um die Unterdrückten, Marginalisierten, Armen, die sich über die gesellschaftlichen Verhältnisse aufregen, in die sie hineingeboren wurden und welche ihre Armut, Marginalisierung und Unterdrückung erst möglich machen. Dieses revoltierende Gefühl, das innerhalb der entsprechenden Szene durch einzelne Künstler:innen transportiert wird, hält in aller Regel so lange an, bis diese Künstler:innen erfolgreich genug werden, um von der echten, von der großen Kulturindustrie entdeckt zu werden. Dann werden die entsprechenden Künstler:innen reicher, nahbarer und eventuell ein wenig freundlicher, eben poppig, gemacht. Eventuelle kontroverse Aussagen und Provokationen werden zur Not abgeändert, aber noch viel lieber kommerzialisiert, also als Verkaufsargument verwendet. Es ist überhaupt kein Problem, die Pizza "Gangsterella" und den Eistee "Lemon OG mit Kush Terpenen" zu nennen, denn Parallelgesellschaften und illegalisierter Drogenkonsum sind in diesem Kontext reines Entertainment. Wenn beispielsweise Kokain weiterhin derart in Lyrics Einzug erhält, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Aspekt irgendwie verwertbar gemacht wird. Ob dann der "Shemshem-Traubenzucker" von Haftbefehl oder Kalim rausgebracht wird, ist eigentlich egal.
Ob gesellschaftliche Wahrnehmung und Selbstverständnis der Szene vorher inhaltlich wirklich gerechtfertigt waren, ist da auch erst mal irrelevant. Es ist egal, ob in Songs wirklich permanent die "Stimme aus der Unterschicht" gespiegelt wurde oder nicht, da das die Rolle war, die HipHop durch Fans und Feuilleton zugesprochen wurde. Dass sich diese Rolle ändert, liegt nicht an bestimmten Artists. Das bedeutet, den einzelnen Akteur:innen ist hier auch überhaupt nichts Großartiges aufgrund ihrer Geschäfte vorzuwerfen, außer man möchte die übergroße Moralkeule schwingen. All diese Produkte und Geschäfte sind nur Symptome einer Entwicklung, die schon seit einer ganzen Weile anhält und durch die Pandemie bedingte Beschleunigung nur sichtbarer wird. Die Subkultur HipHop hört auf, Subkultur zu sein, und wird Teil der großen Kulturindustrie. Sprache, Inhalte und sonstige Alleinstellungsmerkmale werden verwertbar gemacht und in den Marktkonsens integriert. Was eben noch ernstgemeinte Wut, Empörung und Ohnmacht über diese gesellschaftlichen Zustände ausgedrückt hat, wird nun zum Lifestyle-Produkt oder romantisiert und im schlimmsten Fall zum Klamauk. Das ist weder böse noch gut, sondern einfach die logische Entwicklung einer Szene, die immer größer und beliebter wird. Dennoch kann man – und jetzt geht es zurück auf die persönlichere Ebene – sich darüber ärgern, dass es denen da oben so leicht gemacht wird. Dass es so problemlos ist, all diese Künstler:innen zu vereinnahmen und ihre Inhalte verwertbar zu machen. Dass die oben angesprochenen antagonistischen, rebellischen und widerspenstigen Gefühle nur noch von einzelnen Künstler:innen transportiert werden können und nicht mehr von der Subkultur selbst, weil sie gesellschaftlich einfach nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Dass sich Menschen, die überhaupt kein Interesse an den Themen und der Kunstform haben, ironisch einen "BraTee" kaufen, mit den Kolleg:innen im Meeting damit anstoßen und über Rationalisierungsmaßnahmen diskutieren. Diese ganzen Dinge nerven und sorgen dafür, dass alles, wofür HipHop gesellschaftlich wahrgenommen wurde, verschwimmt und zur reinen Stilform ohne inhaltliches Gewicht verkommt. Wer denkt, dass die Beeinflussung auch andersherum laufen könnte, also Künstler:innen, wenn sie nur stark genug ihrer Musik treu bleiben, die popkulturelle Ausrichtung entscheidend verändern können, denen sei der Auftritt von Danger Dan beim Preis für Popkultur nahegelegt. Der Rapper kann da unter lautem Beifall von Militanz als letztem Ausweg singen, ohne dass auch nur eine im Saal anwesende Person die Aussage irgendwie ernst nimmt.
Das alles bedeutet nicht mal, dass die Musik selbst unbedingt poppiger werden muss. Natürlich kann Haftbefehl immer noch hervorragend rappen und harte Songs machen. So richtig authentisch sind dann aber nur noch die Lieder übers Feiern und das persönliche Innenleben. Ebenso wenig ist es moralisch verwerflich, die marktgegebenen Möglichkeiten zu nutzen, Geld für sich und die Familie zu verdienen. Schließlich sind alles nur Symptome einer sich ändernden gesellschaftlichen Wahrnehmung von HipHop und einem damit einhergehenden veränderten Selbstverständnis der Subkultur. Zwar gibt es immer noch Akteur:innen im Spiel, die diesen widerständigen Geist spiegeln, allerdings liegt das dann eher an den einzelnen Künstler:innen und nicht an der gesellschaftlichen Rezeption von HipHop. Es gibt ja auch noch starke Punkbands, Punk als Subkultur aber spielt keine wirkliche Rolle mehr. Und damit will ich nicht sagen, dass früher alles besser war, sondern dass Kommerzialisierung alles weniger spannend macht.
(Simon Back)
(Grafik von Daniel Fersch)