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Kommentar

Straight from the heart – wie Straßenrap die nächste Stufe erklimmt

Frü­her domi­nier­ten im deut­schen Stra­ßen­rap vor allem abge­dro­sche­ne Phra­sen. End­lich fin­den kri­ti­sche Selbst­re­fle­xi­on und tief­grei­fen­de Authen­ti­zi­tät statt. Über eine inhalt­li­che Wei­ter­ent­wick­lung, die Stra­ßen­rap in den letz­ten Jah­ren genom­men hat.

An die­ser Stel­le möch­ten wir Gedan­ken zu aktu­el­len Gescheh­nis­sen aus dem Deutschrap-​Kosmos zum Aus­druck brin­gen. Die jeweils dar­ge­stell­te Mei­nung ist die des Autors und ent­spricht nicht zwangs­läu­fig der der gesam­ten Redak­ti­on – den­noch möch­ten wir auch Ein­zel­stim­men Raum geben.

Im Fol­gen­den setzt sich unser Redak­teur Simon mit der Ent­wick­lung aus­ein­an­der, die Stra­ßen­rap in den letz­ten Jah­ren genom­men hat.

 

Jones­mann ist kein Rap­per, der so rich­tig etwas vom Hype der letz­ten Jah­re abbe­kom­men hat. Der Ent­de­cker von Haft­be­fehl ver­öf­fent­lich­te in den letz­ten Jah­ren zwar wie­der rela­tiv flei­ßig Musik, blieb aber die meis­te Zeit unterm Radar und konn­te nie wirk­lich an sei­ne Zeit bei Bozz Music anknüp­fen. Sein neu­es­tes Release "Road to Per­di­ti­on" schaut aber aus dem Trott der letz­ten Jah­re her­aus und ist viel­leicht die stärks­te Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Kar­rie­re. Auf dem Tape erzählt Sam­son Jones von zer­rüt­te­ten Fami­li­en­ver­hält­nis­sen, Schick­sals­schlä­gen und eige­nen Ver­feh­lun­gen. Das Gan­ze wirkt so ehr­lich und unver­stellt, dass man nicht nur beim ers­ten Hören durch­weg Gän­se­haut bekommt. Damit ist "Road to Per­di­ti­on", trotz eini­ger frag­wür­di­ger Lines, für mich der aktu­el­le Peak einer Ent­wick­lung, die seit eini­ger Zeit im Stra­ßen­rap zu beob­ach­ten ist. Das Sub­gen­re hat sich inhalt­lich enorm wei­ter­ent­wi­ckelt und ist heu­te so viel­fäl­tig, nah­bar und span­nend wie nie zuvor. Die­se Ent­wick­lung wird im Ver­gleich zu älte­ren Songs beson­ders deutlich.

Da sind ers­ter Linie die mitt­ler­wei­le viel authen­ti­sche­ren Geschich­ten zu nen­nen, die erzählt wer­den. Als ein Höhe­punkt die­ser Ent­wick­lung kön­nen die "1999"-Teile von Haft­be­fehl her­hal­ten. Wäh­rend in den 00er Jah­ren in aller Regel ledig­lich Phra­sen vom Hust­le oder dem Druck, der auf der See­le las­tet, wie­der­ge­käut wur­den, geht Haft­be­fehl ganz nah in spe­zi­el­le Situa­tio­nen und erzählt vom Ärger mit der Tan­te, die sein Hasch unterm Bett gefun­den hat. Glei­ches gilt für "Rache der Las­ter" von Haze. Dro­gen­sucht und Gewalt­spi­ra­le wer­den so unge­schönt und nah­bar dar­ge­stellt, dass man den Knei­pen­ge­stank qua­si auf der Zun­ge schme­cken kann. Was mir aber bei­spiels­wei­se der Song "Schmet­ter­lings­ef­fekt" von Bass Sul­tan Hengzt sagen will, habe ich bis heu­te nicht ver­stan­den. Geht's da um die Cha­os­theo­rie, sein Leben in der Hood oder dar­um, dass er schon immer da war? Auch MC Bogy ist ein Kan­di­dat, bei dem die Phra­sen oft Über­hand neh­men, sodass im End­ef­fekt nichts mehr wirk­lich erzählt wird. Er hat bestimmt unend­lich vie­le inter­es­san­te Geschich­ten parat, aber irgend­wie dreht sich jeder Track um die Stra­ße, den Dschun­gel und dar­um, wer der Pate mit Blei in den Venen ist. Die­se Zei­len mögen alle einen rea­len Hin­ter­grund haben, also "real" sein, aber wirk­lich nah­bar und damit authen­tisch wir­ken sie oft nicht. Wel­che Sto­rys er zum Bei­spiel aus Haft- oder Kli­nik­auf­ent­hal­ten mit­bringt, muss man sich über sei­ne TV Strassensound-​Doku erar­bei­ten. Der Unter­schied liegt heu­te also in der viel deut­li­che­ren Bild­spra­che und direk­te­ren Erzähl­wei­se der Songs. Es geht 2021 nicht mehr nur um Kalen­der­sprü­che von der Stra­ße, aus­ge­dach­te Räu­ber­pis­to­len, die nicht mal detail­liert erzählt, son­dern nur umris­sen wer­den, und nichts­sa­gen­de Pun­ch­li­nes, wie es noch vor zehn Jah­ren gang und gäbe war. Viel häu­fi­ger wer­den die tat­säch­li­chen Pro­ble­me expli­zit und tech­nisch anspruchs­voll beschrie­ben. Natür­lich gibt es immer noch den "Pablo, Koka­in, Kolumbien"-Film für die Play­lists, aber eben nicht mehr ausschließlich.

Auch im Umgang mit eige­nen Feh­lern hat sich Stra­ßen­rap wei­ter­ent­wi­ckelt. Sicht­bar wird die­ser Fort­schritt vor allem, wenn es um die Ver­wandt­schaft geht. Vor 2015 hieß es da fast aus­schließ­lich, dass man alles für Mama und die Fami­lie tun wür­de. Wenn sie einer schief anschaut, wird sofort der gan­ze Block in Brand gesteckt. Und alle Taten wür­den nur began­gen, um end­lich das ver­spro­che­ne Haus zu kau­fen. Auf "Bereu­en" rappt der Tübin­ger Omar: "Und Bru­der, ja, ich lie­be mei­ne Mut­ter über alles, doch lei­der nicht genug, um ihr die Trä­nen zu erspar'n." Eine Zei­le, die noch vor eini­gen Jah­ren prak­tisch undenk­bar gewe­sen wäre. Dass die eige­ne Gier Grund für das Lei­den der Mut­ter ist, man trotz­dem wei­ter­macht und sich die­ser Feh­ler bewusst ist – wie von Omar beschrie­ben –, ist hin­ge­gen eine sehr reflek­tier­te und "erwach­se­ne" Hal­tung, deren öffent­li­ches Ein­ge­ständ­nis jede Men­ge Mut for­dert. Ähn­lich ein­dring­lich beschreibt "Lebens­lauf" von Diar die Zer­ris­sen­heit zwi­schen Fami­lie und Ticken, wie man sie vor­her kaum hören konn­te. Immer häu­fi­ger las­sen Gangster-​Rapper die Hörer viel näher an sich her­an und haben kei­ne Angst davor, Schwä­chen ein­zu­ge­ste­hen. Die­ses von Pathos befrei­te, ehr­li­che Dar­le­gen eige­ner (schäd­li­cher) Nei­gun­gen, ohne sich dabei unre­flek­tiert auf das Lei­den zu fokus­sie­ren, ist eine abso­lu­te Berei­che­rung. Von die­ser Emo­tio­na­li­tät kön­nen sich zudem abge­klär­te und immer ironisch-​distanzierte Rap­per à la Fato­ni, Weekend und Co. ruhig mal eine dicke Schei­be abschnei­den. Dass sich auch bei den Ange­spro­che­nen immer noch abge­dro­sche­ne Moti­ve von ver­rä­te­ri­schen Freun­den und fal­schen Schlan­gen fin­den las­sen, wie es sie schon immer gibt, ist klar – inzwi­schen wer­den sie aber durch die ange­spro­che­ne reflek­tier­te Hal­tung erweitert.

Doch wenn es nur noch um eige­ne Feh­ler und Reue geht, kom­men dann nicht die grö­ße­ren sozia­len und poli­ti­schen Umstän­de zu kurz? Man könn­te ein­wer­fen, dass brei­te­re gesell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge durch die­se Nabel­schau, das Krei­sen um den eige­nen Tel­ler­rand, außer Acht gelas­sen wer­den. Dass sich also nur noch dar­auf fokus­siert wird, war­um man selbst bestimm­te Ent­schei­dun­gen gefällt hat und dass Miss­stän­de, die zu sol­chen Ent­schei­dun­gen mas­siv bei­tra­gen, nicht mehr beschrie­ben wer­den. Doch auch hier macht Stra­ßen­rap inzwi­schen eine sehr viel bes­se­re Figur als in den 00er und frü­hen 10er Jah­ren. Mit Rap­pern wie PTK und Dis­ar­star, die vor allem in den letz­ten Jah­ren enor­me Sprün­ge nach vor­ne gemacht haben, wer­den auch die­se Aspek­te inzwi­schen in einer Art abge­deckt, die weit über "die da oben" hin­aus­geht. Zwar geht es wei­ter dar­um, wie Macht- und Besitz­ver­hält­nis­se bestimm­te Lebens­we­ge fast zwangs­läu­fig vor­schrei­ben. Aller­dings wer­den nichts­sa­gen­de Phra­sen auch hier ver­mehrt durch detail­lier­te Beschrei­bun­gen von Situa­tio­nen ersetzt, die gesell­schaft­li­che Zwän­ge viel deut­li­cher sicht­bar machen. Der Hanybal-​Part auf "Glücks­schmied", in dem er in 16 Zei­len mal eben vor­rech­net, wie schnell das Geld in man­chen Lebens­la­gen weg sein kann, ist ein Para­de­bei­spiel dafür, wie klei­ne Beob­ach­tun­gen in einen grö­ße­ren Zusam­men­hang gestellt wer­den können.

Längst ist auch im Stra­ßen­rap nicht alles eitel Son­nen­schein. Es gibt immer noch die Repre­sen­ter, stumpf­sin­ni­ge Draufhau-​Songs und die zehn­mi­nü­ti­gen Dis­stracks, die auch völ­lig zurecht ihren Platz in der Sze­ne haben. Es muss ja nicht immer der gro­ße Seelen-​Striptease oder die sozio­lo­gi­sche Abhand­lung über das Vier­tel sein. Auch schaf­fen es längst nicht alle Rap­per der neu­en Gene­ra­ti­on, die oben genann­ten Stär­ken wirk­lich aufs Papier zu brin­gen. Den­noch hat Stra­ßen­rap ins­ge­samt eine Ent­wick­lung genom­men, wel­che die nega­ti­ve Kon­no­ta­ti­on, die ihm lan­ge sowohl von Tei­len der Sze­ne als auch von den Feuil­le­tons ange­hef­tet wur­de, längst nicht mehr rechtfertigt.

(Simon Back)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)