Es ist kalt, es ist grau, es gibt immer noch Corona. Die ideale Zeit also, um heute zum letzten Mal bei unserem Adventskalender mitzufiebern. In den vorangegangenen 23 Tagen haben wir eine Zeitreise in die deutsche Rap-Vergangenheit unternommen und die für uns relevantesten Songs der letzten 23 Jahre – angefangen 1997 – gekürt. Dabei ist natürlich zu beachten, dass Relevanz anhand unterschiedlicher Gesichtspunkte beurteilt werden kann. Unsere Definition davon ist, welche Künstler mit ihrer Musik Innovation bewiesen und somit nachhaltig Einfluss auf die Szene genommen haben.
Da man erst rückblickend beurteilen kann, ob ein Künstler prägend für das ganze Genre war, haben wir zusammengestellt, wer in diesem Jahr besonders innovative und interessante Musik herausgebracht hat, wer vielleicht Vorreiter in bestimmten Aspekten war und wer uns nachhaltig beeindruckt hat.
Haiyti
Scheiß mal auf die ganzen Fake News, ich bin Deutschraps Zukunft.
Dass ich nie wieder zurückkomm', war ein Trugschluss.
Es gibt eine Protagonistin der Szene, die von Anfang an ihr ganz eigenes Ding gemacht hat, sich dabei immer wieder neu erfindet und damit diverse Künstler beeinflusst: Haiyti. Auch in diesem Jahr hat sie es wieder geschafft, ihren speziellen und unverwechselbaren Sound auf ein neues Level zu bringen. Angefangen mit ihrem Album "SUI SUI" im Sommer und nun im Winter mit "influencer". Ihre Palette reicht von Pop-Hits wie "LA LA LAND", auf denen sie ungewöhnlich viel singt, bis zu Representern wie "sweet", bei dem sie ganz klar gemacht hat, wie fake die meisten Rapper seien. An 16er wird sich sowieso nicht mehr gehalten, der Flow wechselt manchmal alle vier Zeilen und ihre Punchlines sind erfrischend kreativ und lustig wie immer. Beide Alben wurden hauptsächlich von Project X produziert, einem Kollektiv aus fünf Produzenten, von denen man sonst nur wenig weiß. Neben der stilvollen Ästhetik bekommt man wie gewohnt Rap, dem es keinesfalls an Skills fehlt. Die gebürtige Hamburgerin hat nicht umsonst ihr "comeback" angekündigt.
Erotik Toy Records
Wir sind echte Motherfucker, keine Kunstfiguren.
Wenn man an individuellen Sound aus diesem Jahr denkt, kommt einem sicher mit als erstes die Bremer Crew Erotik Toy Records in den Sinn. Mit ihrem Labelsampler "Hafenwind" haben Tightill, doubtboy, Florida Juicy, Jay Pop, Skinnyblackboy und Young Meyerlack spätestens dieses Jahr unter Beweis gestellt, wie einzigartig sie ihre Musik und das Drumherum gestalten. Vor allem durch die Mockumentary "Stadtmusikbande (Bremen, 1992)" haben sie vorab Aufsehen erregt und ihren ganz eigenen Kosmos im Rap ergänzt. Denn Florida Juicys Produktionen sind uneingeschränkt und facettenreich – regelrecht getränkt in Einflüssen anderer Genres. Der Musik sind schlichtweg keine Grenzen gesetzt. Damit haben sie vielen Kunstschaffenden einiges voraus und ebnen hoffentlich den Weg für mehr Experimente und mehr Mut zu Ungewöhnlichem. Ihr Song "Klingelton" zeigt genau das mit den fast schon stressigen Videospiel- und Telefontönen gut auf. Dieser hat die softe Punk-Attitüde, die bei ETR immer mitschwingt, und ihre besonderen Stimmen und Betonungen sind stets on point. Es bleibt natürlich die Frage, wie viele Nachahmer ihr individueller Klang in Zukunft finden wird – oder ob sie prädestiniert dafür sind, ein Unikat zu bleiben.
Torky Tork
Ich meinte: 'Torky, kannst du mir 'n Grime Beat machen?'
Zwei Minuten später war das Ding in meinem Briefkasten.
Doch nicht nur Florida Juicy, sondern Produzenten im Allgemeinen bekommen mehr Aufmerksamkeit denn je – und das völlig zurecht. Es gehört selbstverständlich zum guten Ton, ein Auge auf die Producer zu werfen, wenn man von Innovation spricht. Womit wir auch schon zu unserem nächsten Anwärter kommen. Denn die Beats landeten dieses Jahr nicht nur bei Galv. Egal, ob das die Mitarbeit auf dem Lord Folter-Album "1992day", die Zusammenarbeit mit eloquent für "Modus Minus", die T9-Releases mit Rapper-Kollege Doz9 oder "Doposole" mit Fid Mella war – Torky Tork hat dieses Jahr einfach nur abgeliefert. Er wird kontinuierlich besser und ist Jahr für Jahr auf immer mehr bedeutenden Alben aus dem Untergrund vertreten. Man muss es erst mal hinkriegen, eine so unverkennbare Soundästhetik zu schaffen und sich dabei trotzdem weiter auszuprobieren. Torky hat das erreicht, was einen richtig guten Produzenten ausmacht: Man hört, wenn eine Produktion von ihm stammt. Er versieht jeden Beat mit seiner Handschrift. Seinen Peak hat er dieses Jahr wohl mit "Hans Dampf" von T9 erreicht, doch am Ende ist seine Vielfalt entscheidend.
Lugatti & 9ine
Häng' im Stu' und ich fühl' mich wie im Baumarkt:
Überall nur Bretter und der Smoke wird immer lauter.
Die Namen Lugatti & 9ine waren schon seit letztem Jahr überall zu lesen und zu hören. Ob Boom bap- oder Trap-Hörer, jung oder alt, Old- oder Newschooler – nahezu jeder kann den jungen Kölner Rappern etwas abgewinnen. Denn sie sind anpassungsfähig im positivstem Sinne. Ein bisschen Straße, ein bisschen Studi-Swag, ein bisschen Party und Drogen, ein bisschen politisch, ein bisschen Bad Boys. Das hört sich im ersten Moment vielleicht negativ an, aber sie sind nicht umsonst da, wo sie sind. Sie haben einiges auf dem Kasten und haben mit ihrem Haus-Produzenten Traya oder auch gemeinsam mit Funkvater Frank für die "Tempo"-EP etwas ganz Eigenes geschaffen, das es so noch nicht gab. Sie finden in der Mitte der Szene statt und gehören zu der neuen Welle Rap mit Straßen-Einfluss, die gerade so viel Anklang findet. Auch auf dem Song "Doppel C" mit OG Keemo von ihrem neuen Album "MKS 4.0" zeigen sie gekonnt ihre verschiedenen Facetten.
Playboysmafia
Original Berliner Boys, nein, wir sind nicht wie du.
Die Playboysmafia, bestehend aus den Rappern Pashanim und Symba, dem DJ Abuglitsch und RB, verkörpert artsy Straßenrap aus der Hauptstadt, der untergrundig scheint und trotzdem die großen Millionen-Klickzahlen erreicht. Ihre Art der Rebellion durch Ignoranz erinnert ein bisschen an Aggro Berlin. Auch, wenn die Themen heute andere sind und über Lacoste, Louis-Taschen und Trikots mit Zinedine Zidane-Aufschrift gerappt wird. Während Symba zuletzt mit "Battlefield Freestyle" erneut überzeugte, landete Pashanim mit "Airwaves" zweifelsohne den Sommerhit 2020. Der Track mit dem 4-to-the-floor-Beat von stickle ist ein richtiger Ohrwurm. Es gibt wahrscheinlich keinen deutschen Jugendlichen, der das Lied nicht kennt. Doch nicht nur ihre Musik, sondern auch die Art und Weise, wie sie diese vermarkten, ist modern und beeinflusst die Szene. Wer braucht schon all-you-can-eat, wenn man auch ein 3-Gang-Menü an Finesse bekommen kann?
Grundsätzlich sei gesagt, dass Haiyti, Erotik Toy Records, Torky Tork, Lugatti & 9ine und die Playboysmafia jeweils etwas anderes verkörpern. Dennoch wird jeder von ihnen auf seine Art und Weise die Entwicklung von deutschem Rap prägen, da sie das Geschehen innerhalb dieser Szene ungemein bereichern. Wir werden in ein paar Jahren ja sehen, ob wirklich einer der genannten Künstler am relevantesten für 2020 war – oder es vielleicht jemand ganz anderes gewesen sein wird.
(Yasmina Rossmeisl)
(Fotos von Roberto Cassian, Jonas Höschl, Jerome Reichmann, Der Lars und Playboysmafia)
(Grafik von Daniel Fersch)