An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen, die woanders keinen Platz finden. Dabei kommt nicht nur die MZEE.com Redaktion zu Wort, sondern auch andere Szene-affine Persönlichkeiten wie Rapper, Veranstalter oder Produzenten. Wer sich also mitteilen möchte, soll hier auch die Möglichkeit haben, dies zu tun. Die jeweils dargestellte Meinung entspricht jedoch nicht zwangsläufig der unserer Redaktion – wir sehen aber ebenfalls nicht die Notwendigkeit, diesen Stimmen ihren Raum zu nehmen.
Im folgenden Kommentar beschäftigt sich unser Redakteur Christof damit, wie Verschwörungstheorien anscheinend unbemerkt rechte Gedanken in die HipHop-Szene bringen.
"… nee, oder?" – Das denke ich dieser Tage wieder öfter. Ein paar Wochen lang war es still um deutsche Rapper und die mittlerweile fest zur Szene gehörenden Verschwörungstheorien. Nicht nur in HipHop-Kreisen ging es den falschen Systemkritikern so: Der Ausbruch einer ernstzunehmenden Pandemie warf Fragen auf, auf die Demagogen so schnell keine Antwort hatten – sie mussten erst kreativ werden. Wie üblich, wenn sich in dieser schnelllebigen Zeit das Weltgeschehen plötzlich ändert, war man sich lange nicht einig, welcher finstere Plan jetzt hinter dem Virus steckt. Aus welchem Labor es nun ausgebüxt ist, wer die falsche Fledermaus gegessen hat oder ob es das Virus überhaupt gibt.
So richtig einig ist man sich auch heute nicht, weder in einschlägigen Verschwörungstheoretiker-Kreisen noch in der Deutschrapszene. Nur die Richtung, in die es geht, ist klar: nach ganz rechts. Und das mag man in HipHop-Kreisen nicht gerne hören, weil man ja multikulturell ist und allerlei Freunde mit Migrationshintergrund hat. "Ich kann nicht rechts sein, ich bin HipHopper" ist eine trendy Form von "Ich kann nicht rechts sein, einige meiner besten Freunde sind Türken". Come on, das lassen wir Tante Marianne beim Ostertreffen nicht durchgehen, also warum unseren liebsten Idolen aus den Reihen des deutschen Sprechgesangs? Ein vorherrschendes Missverständnis ist es, dass man Ausländer oder Migranten hassen müsse, um rechts zu sein. Fast alle Verschwörungstheorien, die der Erklärung des Weltgeschehens dienen, lassen sich auf rechtes Gedankengut zurückführen. Wie ich zu dieser Aussage komme? Nun, Kapitalismuskritik von links bemüht sich, den Kapitalismus und seine komplexen Mechanismen zu ergründen und zu kritisieren. Verschwörungstheorien tun genau das nicht. Sie sind keine Analysen, sondern einfache Grundlage für moralische Urteile. Für Verschwörungstheoretiker handeln Kapitalisten, Großkonzerne und Banken nicht aus einem Systemzwang heraus, sondern weil sie finstere Absichten haben, an deren Ende immer ein großes Ziel biblischen Ausmaßes steht. Verschwörungstheorien hindern daran, die Systemfrage zu stellen und teilen die Welt in Gut und Böse auf. Am Ende läuft das Weltbild dann darauf hinaus: "Kapitalismus ist eigentlich gut, wenn nur ein paar düstere Akteure mit fiesen Plänen nicht ständig aufkreuzen würden." Wir sehen also, mit Systemkritik haben Verschwörungstheorien nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Sie dienen als Entschuldigung, warum das System nicht so rund läuft, wie es sollte. Und die Entschuldigung des Kapitalismus ist nie das Anliegen von Linken, das kommt immer von rechts.
Vorab: Ich sage ausdrücklich nicht, dass viele Rapper jetzt Rechtsradikale wären. Ich sage, dass einzelne Gedankengänge rechts sind und man sie doppelt und dreifach hinterfragen sollte – auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so scheinen.
So hat also auch Sido in einem Interview mit Ali Bumaye nicht ausschließen können, dass etwas dran ist an der sogenannten QAnon-Verschwörungstheorie. Eine Theorie oder besser gesagt eine Geschichte, nach der Kinder heimlich von mächtigen Eliten verschleppt werden, um aus ihrem Blut ein Elixir zur Verjüngung für Superreiche herzustellen. Allzu tief gehe ich auf diesen absurden Mythos jetzt nicht ein. In der Öffentlichkeit herrscht meiner Ansicht nach ein Missverständnis von dem, was rechts ist. Deshalb werden viele Leute jetzt vielleicht fragen, was an dieser QAnon-Verschwörungsgeschichte rechts sein soll. Hier stelle ich gerne die Gegenfrage, was daran nicht rechts sein soll: eine Elite, die in großem Stil heimlich Kinder fängt und misshandelt. Solche Geschichten gab es bereits im Mittelalter über Juden, Sinti und Roma sowie andere Minderheiten, die sich angeblich mit geheimer Macht gegen eine Gemeinschaft oder einen "Volkskörper" verschworen hätten. Besonders prominent waren solche Verschwörungstheorien im aufkommenden Nationalsozialismus. Und zwar gar nicht mal so anders, sondern verdammt ähnlich wie die QAnon-Geschichte. Sehr kreativ mussten die Urheber dieser Story also nicht mal sein, sie haben einfach einen alten Klassiker wiederbelebt.
Mein erster Gedanke, als ich das von Sido hörte, war also: "Ach, der jetzt auch?" Allzu verwundert war ich allerdings nicht, weil Verschwörungsmythen im deutschen HipHop leider nicht selten sind.
Und jetzt kommen wir zu einem Detail, auf das ich eingehen möchte: Ich war selbst in der Verschwörungstheorie-"Szene". Durch Beobachtungen an anderen und mir selbst weiß ich: Sehr viele Menschen vertreten nur einzelne Teile von Verschwörungstheorien, nicht ein gesamtes Weltbild. Wenige sind komplett durchgedreht wie Xavier Naidoo. Viele Menschen sagen einfach nur: "Ich kann mir vorstellen, dass da was ist" oder "Ich habe von einem gehört, der gehört hat, dass …". Genauso verfährt auch Sido. Er driftet nicht komplett ab, sondern erwähnt das Thema eher beiläufig. Wahrscheinlich beschäftigt er sich privat auch nicht obsessiv damit wie ein Naidoo. Das Problem ist aber, dass diese Leute das gesamte Gedankengut mittragen und dabei helfen, es zu verbreiten, auch wenn es vermutlich gar nicht ihre Absicht ist. Und hier halte ich viel mehr Reflexion für wichtig, um die eigene Rolle zu erkennen und zu hinterfragen.
Auch wenn es vielen gar nicht bewusst ist, Verschwörungstheorien wie die heute gängigen Mythen spielten vom Mittelalter bis in die Neuzeit eine Rolle, etwa bei Hexenverbrennungen, der Inquisition und bei Pogromen gegen Juden, Sinti und Roma. Genauso im Weltbild der Nationalsozialisten. Es waren immer wieder sehr ähnliche Erzählungen wie heute, vergleichbar mit QAnon, der Bill Gates-Impfgeschichte oder den immer wieder genannten Rothschilds. Ähnliche Erzählungen, die Millionen Tote zur Folge haben. Eine verdammt ernste Angelegenheit also – und so muss sie auch behandelt werden. Deswegen ist die kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig, solange diese Mythen auftauchen und verbreitet werden – auch im deutschen Rap. Deswegen sollte es immer wieder auf die Goldwaage gelegt werden, wenn Rapper "nur mal nebenbei" anmerken, dass an solchen Geschichten etwas dran sein könnte.
(Christof Mager)
(Titelbild von Daniel Fersch)